Mai ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Vom Priester zum Volk

Kedoschim

  Am Anfang unseres Wochenabschnitts geschieht etwas Grundlegendes, und dieses Ereignis stellt sich als einer der bedeutendsten, wenn auch selten anerkannten Beiträge des Judentums für die Welt heraus.

Bis jetzt ging es im Buch Wajikra hauptsächlich um Opfer, rituelle Reinheit, das Heiligtum und das Priestertum. Kurzum: um eine heilige Stätte, heilige Opfer, um die Elite und ihre heiligen Zugehörigen – Aaron und seine Nachkommen -, die an eben diesem Ort den Dienst verrichten. Unvermittelt, in Kapitel 19, öffnet sich der Text, um das ganze Volk und das ganze Leben einzubeziehen:

Und Gott sprach zu Moses: „Sprich zu der ganzen Gemeinde der Kinder Israels und sag zu ihnen: ,Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin Ich, der Ewige, euer Gott‘“ (Lev. 19:1-2).

Dies ist das erste und einzige Mal in Levitikus, dass eine alle einbeziehende Ansprache befohlen wird. Die Weisen erklärten dies dahingehend, dass Moses den Inhalt dieses Kapitels vor einer offiziellen Versammlung des gesamten Volkes (Hakhel) verkündete. Hier ist es das Volk als Ganzes, dem geboten wird, „heilig zu sein“, nicht nur eine elitäre Gruppe von Priestern. Wie im weiteren Verlauf des Kapitels deutlich wird, ist es das Leben an sich, das geheiligt werden soll. Die Heiligkeit soll sich dadurch manifestieren, wie das Volk seine Kleidung herstellt und seine Felder bestellt, wie Recht gesprochen wird, wie Arbeiter bezahlt und Geschäfte gemacht werden. Den Schwachen – dem Tauben, dem Blinden, dem Alten und dem Fremden – soll besonderer Schutz gewährt werden. Die Gesellschaft als Ganzes soll mit Liebe regiert werden, ohne Missgunst und Rachegefühle.

Was wir hier miterleben ist also eine radikale Demokratisierung der Heiligkeit. Alle antiken Gesellschaften hatten ihre Priester. In der Tora sind wir bisher vier Beispielen für nicht-israelitische Priester begegnet: Malchisedek, Abrahams Zeitgenosse, der als „Priester des Höchsten Gottes“ beschrieben wird; Potifar, Josefs Schwiegervater; die ägyptischen Priester insgesamt, deren Landbesitz Josef nicht verstaatlichte; und Jitro, Moses’ Schwiegervater, ein midianitischer Priester. Priestertum gab es demnach nicht nur in Israel, und überall war es eine Elite. Hier nun finden wir zum ersten Mal einen Kodex der Heiligkeit, der das ganze Volk einschließt: Wir alle sind aufgerufen, heilig zu sein.

Merkwürdigerweise kommt dies jedoch keineswegs überraschend. Den Gedanken finden wir, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, schon vorher angedeutet. Am sichtbarsten im Vorspiel zur großen Bundeszeremonie auf dem Berg Sinai, als Gott Moses auffordert, dem Volk zu sagen: „Wenn ihr Mir nun ganz gehorcht und Meinen Bund hütet, dann werdet ihr unter allen Völkern Mein Kleinod sein. Obschon die ganze Erde Mein ist, werdet ihr Mir ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ (Exod. 19:5-6), das heißt ein Reich, dessen Bürgerschaft in gewisser Weise alle Priester sein sollen, ein Volk, das in seiner Gesamtheit heilig ist.

Die erste Andeutung findet sich jedoch noch viel früher, nämlich im ersten Kapitel der Genesis, mit der monumentalen Aussage: „,Lasset Uns den Menschen machen in Unserem Ebenbild, in Unserem Gleichnis‘… So schuf Gott den Menschen in Seinem Ebenbild, im Ebenbilde Gottes schuf Er ihn; als Mann und Frau schuf Er sie“ (Gen. 1:26-27). Das Revolutionäre an dieser Erklärung ist nicht, dass ein Mensch im Abbild Gottes geschaffen werden könnte. Wurden doch die Könige der mesopotamischen Stadtstaaten und die Pharaonen Ägyptens ebenso angesehen: als Vertreter, als lebende Abbilder der Götter. Daraus leiteten sie ihre Autorität ab. Die Revolution der Tora besteht in der Feststellung, dass nicht einigen, sondern allen Menschen diese Würde immanent ist. Unabhängig von Klasse, Hautfarbe, Kultur oder Glaubensbekenntnis sind wir alle im Ebenbild und Gleichnis Gottes geschaffen.

So entstand das Ideencluster, das, obgleich es viele Jahrtausende brauchte, ehe es verwirklicht wurde, zur distinktiven Kultur des Westens geführt hat: die unantastbare Würde des Menschen, der Begriff der Menschenrechte und schließlich die politischen und wirtschaftlichen Ausdrucksformen dieser Inhalte: die liberale Demokratie auf der einen und der freie Markt auf der anderen Seite.

Dabei geht es nicht um die Frage, ob diese Ideen in der Epoche der biblischen Geschichte in den Köpfen der Menschen bereits voll ausgeprägt waren. Dem war ganz offensichtlich nicht so. Das Konzept der Menschenrechte ist ein Produkt des siebzehnten Jahrhunderts. Die Demokratie bildete sich in ihrer Gänze erst im zwanzigsten Jahrhundert heraus. Aber bereits in Genesis 1 wurde hierfür der Samen gesät. Das meinte Jefferson, als er schrieb: „Gott, der uns das Leben gab, hat uns zugleich die Freiheit gegeben. Können die Freiheiten einer Nation aber sicher sein, wenn wir ihnen die einzig feste Grundlage entzogen haben, nämlich die Überzeugung der Menschen, dass diese Freiheiten ein Geschenk Gottes sind?“[1]

Die Ironie besteht darin, dass diese drei Texte – Genesis 1, Exodus 19 und Levitikus 19 – alle mit der priesterlichen Stimme gesprochen werden, die das Judentum Torat Kohanim nennt.[2] Oberflächlich betrachtet waren die Priester keine Verfechter einer egalitären Gesellschaft. Sie entstammten alle einem einzigen Stamm, den Leviten, und einer einzigen Familie innerhalb des Stammes – der von Aaron. Allerdings sagt uns die Tora, dass dies nicht die ursprüngliche Absicht Gottes war. Ursprünglich sollte doch den Erstgeborenen – denjenigen, die vor der letzten der zehn Plagen gerettet wurden – als Diener Gottes besondere Heiligkeit übertragen werden. Erst nach der Sünde des Goldenen Kalbes, an der nur der Stamm Levi nicht beteiligt war, wurde diese Änderung vorgenommen. Gleichwohl wäre das Priestertum eine Elite gewesen, eine Rolle, die speziell den männlichen Erstgeborenen vorbehalten war. Das Konzept der Gleichheit ist so tief in den Monotheismus eingebettet, dass es gerade aus der Stimme der Priester hervorgeht – von denen wir es am wenigsten erwarten würden.

Der Grund dafür ist folgender: Religion war in der antiken Welt nicht zufällig, sondern im Wesentlichen eine Verteidigung der Hierarchie. Mit der Entwicklung des Ackerbaus und der Herausbildung von Städten entstanden hochgradig geschichtete Gesellschaften mit einem Herrscher an der Spitze, umgeben von einem königlichen Hof, unter diesem eine Verwaltungselite und auf unterster Ebene eine ungebildete Masse, die von Zeit zu Zeit entweder als Armee oder als Arbeitskraft für den Bau von Monumentalbauten eingezogen wurde.

Die Struktur wurde durch eine umfangreiche Glaubenslehre einer himmlischen Hierarchie aufrechterhalten, deren Ursprünge in Mythen erzählt wurden. Das bekannteste natürliche Symbol war die Sonne und deren architektonische Darstellung – die Pyramide oder Zikkurat, ein massives Gebäude mit breiter Basis und spitz zulaufendem Ende. Die Götter hatten miteinander gerungen und eine Ordnung der Dominanz und Unterwerfung geschaffen. Wer sich gegen die irdische Hierarchie auflehnte, stellte die Realität selbst in Frage. Dieser Glaube war in der antiken Welt weit verbreitet. Aristoteles war der Meinung, dass die einen zum Herrschen geboren sind, und die anderen, um beherrscht zu werden. Platon konstruierte in seiner Republik einen Mythos, nach dem sich Klassenunterschiede aus der Tatsache ergaben, das die Götter einige Menschen aus Gold, andere aus Silber und wieder andere aus Bronze geschaffen hatten. Dies war die „edle Lüge“, die erzählt werden musste, wenn eine Gesellschaft sich gegen Widerstand von innen schützen wollte.

Der Monotheismus hebt die gesamte mythologische Grundlage der Hierarchie auf. Es gibt keine Ordnung unter den Göttern, weil es keine Götter gibt. Es gibt nur den einen Gott, den Schöpfer allen Seins. Eine gewisse Form der Hierarchie wird es freilich immer geben: Armeen brauchen Kommandeure, Filme Regisseure und Orchester Dirigenten. Deren Aufgabe ist jedoch rein funktional, nicht ontologisch. Sie hängen nicht von der Geburt ab. Umso erstaunlicher ist es, dass die egalitärsten Ansichten aus der Welt der Priester kommen, deren religiöse Rolle ja eine Frage der Geburt war.

Das Konzept der Gleichheit, das wir in der Tora im Besonderen und im Judentum im Allgemeinen finden, ist nicht die Gleichheit des Besitzes: Judentum ist kein Kommunismus. Genauso wenig geht es um eine Gleichheit der Macht: Judentum ist keine Anarchie. Es ist im Wesentlichen eine Gleichheit der Würde. Wir sind alle gleichberechtigte Angehörige der Nation, deren Regent Gott allein ist. Daher die ausgeklügelte politische und wirtschaftliche Struktur, die im Buch Levitikus beschrieben wird und sich um die Zahl Sieben, das Zeichen des Heiligen, dreht. Jeder siebte Tag ist frei. In jedem siebten Jahr gehört der Ertrag des Feldes allen, die israelitischen Sklaven werden befreit und die Schulden erlassen. Jedes fünfzigste Jahr sollte ländlicher Familienbesitz an seinen angestammten Eigentümer zurückgegeben werden. Auf diese Weise werden die Ungleichheiten, eine unvermeidliche Folge der Freiheit, gemildert. Die Logik all dieser Bestimmungen ist die priesterliche Einsicht, dass Gott, der Schöpfer von allem, der eigentliche Eigentümer von allem ist: „Das Land soll nicht auf Dauer verkauft werden, denn das Land ist Mein, und ihr wohnt in Meinem Land als Fremde und vorübergehende Bewohner“ (Lev. 25:23). Gott hat also das Recht – und nicht nur die Macht -, der Ungleichheit Grenzen zu setzen. Niemand sollte durch völlige Armut, endlose Knechtschaft oder ungelöste Verschuldung seiner Würde beraubt werden.

Wirklich bemerkenswert ist jedoch, was nach der biblischen Zeit und der Zerstörung des Zweiten Tempels geschah. Angesichts des Verlusts der gesamten Infrastruktur des Heiligen, des Tempels, seiner Priester und Opfer, übertrug das Judentum das System der Awoda, des göttlichen Dienstes, in das Alltagsleben der einfachen Juden. Im Gebet wird jeder Jude zu einem Priester, der ein Opfer darbringt. In der Buße wird jeder zum Hohepriester, der für seine Sünden und die seines Volkes sühnt. Jede Synagoge, ob in Israel oder anderswo, ist ein Fragment des Tempels in Jerusalem. Jeder Tisch wird zu einem Altar, jeder Akt der Nächstenliebe oder Gastfreundschaft zu einer Art Opfer.

Das Torastudium, einst die Spezialität der Priesterschaft, ist nunmehr Recht und Pflicht eines jeden. Nicht jeder konnte die Krone des Priestertums tragen, aber jedem ist die Krone der Tora zugänglich. Ein Mamser Talmid Chacham, ein Toragelehrter von unehelicher Geburt, ist, so sagen die Weisen, größer als ein Am Ha’arez Kohen Gadol, ein unwissender Hohepriester. Aus der verheerenden Tragödie des Verlusts des Tempels schufen die Weisen eine religiöse und soziale Ordnung, die dem Ideal des Volkes als „Reich von Priestern und heiligem Volk“ näher kam als je zuvor. Der Samen war schon lange vorher eingepflanzt worden, am Beginn von Levitikus 19: „Sprich zu der ganzen Gemeinde der Kinder Israels und sag zu ihnen: ,Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin Ich, der Ewige, euer Gott.‘“

Die Heiligkeit gehört uns allen, wenn wir unser Leben in den Dienst Gottes stellen und die Gesellschaft zu einem Haus für die göttliche Gegenwart machen. Das ist das moralische Leben, wie es im Reich der Priester gelebt wird: eine Welt, in der wir danach streben, uns Gott zu nähern, indem wir unseren Mitmenschen in Gerechtigkeit und Liebe nahe kommen.

[1] Anmerkungen zum Staat Virginia, Frage XVIII.

[2] Natürlich gibt es auch einen prophetischen Aufruf zur Gleichheit. Alle Propheten übten Kritik am Machtmissbrauch und an der Ausbeutung der Armen und Machtlosen. Was die Stimme der Priester so bedeutsam macht, ist, dass sie die Stimme des Rechts ist, und damit der rechtliche Rahmen, um die Armut zu lindern und der Sklaverei Grenzen zu setzen.

  1. Was bedeutet Ihrer Meinung nach Heiligkeit? Wie und wann können wir in unserem Leben heilig sein?
  2. Sind die Kohanim und Leviten heiliger als der Rest des Volkes? Wie steht es mit den Rabbinern und Gelehrten?
  3. Meinen Sie, dass alle Menschen über gleichen Besitz verfügen müssen, damit sie auch wirklich gleich sind? Wie versucht das Judentum, die Gleichheit unter den Menschen herzustellen?

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier