Mai ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Die Politik der Verantwortung
Bechukotai

   Das 26. Kapitel des Buches Wajikra legt in eindrucksvoller Klarheit die Bedingungen des jüdischen Lebens unter dem Bund dar. Auf der einen Seite ein idyllisches Bild des Segens göttlicher Gunst: Wenn Israel Gottes Anordnungen befolgt und seine Gebote einhält, wird es Regen geben, die Erde wird ihre Früchte tragen, es wird Frieden herrschen, das Volk wird gedeihen und Kinder haben, und die göttliche Gegenwart wird in seiner Mitte sein. Gott wird sie frei machen.

„Ich habe die Stangen eures Jochs zerbrochen und euch erhobenen Hauptes schreiten lassen“ (Lev. 26:13).

Die andere Seite der Gleichung ist jedoch voller Schrecken: die Flüche, die das Volk treffen werden, sollten die Israeliten ihre Mission als heiliges Volk nicht erfüllen:

„So ihr aber nicht auf Mich hört und all diese Gebote nicht befolgt, werde Ich jähen Schrecken über euch bringen, verheerende Krankheiten und Fieber, das euer Augenlicht zerstört und euch des Lebens beraubt. Vergeblich werdet ihr säen, denn eure Feinde werden die Ernte verzehren… Wenn ihr nach all dem nicht auf Mich hört, werde Ich euch Sieben Mal für eure Sünden bestrafen. Ich werde eure sture Hoffart brechen, und der Himmel über euch wird sein wie Eisen und der Boden unter euch wie Bronze… Ich werde eure Städte in Ruinen verwandeln und eure Heiligtümer verwüsten, und am Wohlgeruch eurer Opfergaben werde ich keinen Wohlgefallen haben. Ich werde das Land verwüsten… Diejenigen unter euch, die noch übrig sind, werde ich in den Ländern ihrer Feinde so in Angst versetzen, dass das Geräusch eines vom Wind verwehten Blattes sie in die Flucht schlägt. Sie werden rennen, als würden sie vor einem Schwert fliehen, und sie werden fallen, auch wenn niemand sie verfolgt“ (Lev. 26:14-36).

Liest man diese Passage in ihrer Gesamtheit, so erinnert sie eher an Holocaust-Literatur als an irgendetwas anderes. Die wiederholten Formulierungen – „Wenn nach all dem… Wenn trotz alledem… Wenn trotz allem“ – kommen wie Schicksalsschläge daher. Es ist ein Abschnitt, der in seiner Wirkung erschüttert, umso mehr, als sich so vieles davon zu verschiedenen Zeiten der jüdischen Geschichte bewahrheitet hat. Doch die Verfluchungen enden mit der eindrucksvollsten Verheißung des letztendlichen Trostes. Trotz allem wird Gott seinen Bund mit dem jüdischen Volk nicht brechen. Als Kollektiv Israel werden es ewig leben. Mag es auch Schweres erleben, nie wird es vernichtet werden. Es wird das Exil durchleiden, aber am Ende wird es zurückkehren.

Das ist, ganz dramatisch ausgedrückt, die Logik des Bundes. Im Gegensatz zu anderen Konzepten der Geschichte oder Politik sieht der Bund nichts Unvermeidliches oder gar Natürliches im Schicksal eines Volkes. Israel wird nicht den üblichen Gesetzen des Aufstiegs und Niedergangs von Zivilisationen folgen. Das jüdische Volk sollte seine nationale Existenz nicht im Sinne einer Kosmologie sehen, die in die Struktur des Universums eingeschrieben, unveränderlich und für alle Zeiten festgelegt ist, so wie es die alten Mesopotamier und Ägypter taten. Auch sollte es seine Geschichte nicht als zyklisch, als eine Angelegenheit von Wachstum und Niedergang betrachten. Stattdessen würde es völlig abhängig sein von moralischen Erwägungen. Wenn Israel seiner Mission treu bliebe, würde es blühen und gedeihen. So es sich von seiner Berufung entfernt, würde es eine Niederlage nach der anderen erleiden.

Nur eine andere Nation in der Geschichte hat ihr Schicksal immer wieder unter ähnlichen Gesichtspunkten gesehen, nämlich die Vereinigten Staaten. Der Einfluss der hebräischen Bibel auf die amerikanische Geschichte – getragen von den Pilgervätern und seither immer wieder in der Rhetorik der Präsidenten aufgegriffen – war entscheidend. So beschrieb ein Schriftsteller den Glauben von Abraham Lincoln:

„Wir sind eine Nation, die durch einen Bund gebildet wurde, durch die Hingabe an eine Reihe von Prinzipien und durch den Austausch von Versprechen, bestimmte Verpflichtungen untereinander und in der Welt aufrechtzuerhalten und zu fördern. Diese Grundsätze und Verpflichtungen sind der Kern der amerikanischen Identität, die Seele des Staatswesens. Sie machen die amerikanische Nation einzigartig und einzigartig wertvoll unter und für andere Nationen. Aber die andere Seite des Konzepts enthält eine Warnung, die den Warnungen der Propheten an Israel sehr ähnlich ist: Wenn wir unsere Versprechen einander gegenüber nicht einhalten und die Grundsätze des Bundes verlieren, dann verlieren wir alles, denn sie sind wir.“[1]

Bündnispolitik ist moralische Politik, die eine elementare Verbindung zwischen dem Schicksal einer Nation und ihrer Berufung herstellt: Staatlichkeit nicht als eine Frage der Macht, sondern der ethischen Verantwortung.

Man hätte meinen können, dass diese Art von Politik eine Nation ihrer Freiheit beraubt. Spinoza hat genau das behauptet. „Das war also der Zweck des zeremoniellen Gesetzes“, schrieb er, „dass die Menschen nichts aus freiem Willen tun sollten, sondern stets unter äußerer Autorität handeln und durch ihre Handlungen und Gedanken ständig bekennen sollten, dass sie nicht ihre eigenen Herren sind.“[2] In dieser Hinsicht irrte Spinoza jedoch. Die Theologie des Bundes ist ausdrücklich eine Politik der Freiheit.

Was in Wajikra 26 geschieht, ist das Angebot, mit dem Gott zu Beginn der Menschheitsgeschichte dem einzelnen Menschen begegnete, auf ein ganzes Volk anzuwenden:

„Da sprach Gott zu Kain: ,Warum bist du zornig? Warum ist dein Gesicht niedergeschlagen? Wenn du tust, was recht ist, wirst du dann keine Aufnahme finden? Wenn du aber nicht tust, was recht ist, so lauert die Sünde vor deiner Tür; sie will dich haben, aber du musst ihrer Herr werden‘“ (Gen. 4:6-7).

Die Entscheidung – so sagt Gott – liegt in deiner Hand. Du bist frei zu tun, was du willst. Aber Handlungen haben ihre Konsequenzen. Du kannst nicht übermäßig essen und dich nicht bewegen und dabei gesund bleiben. Du kannst nicht selbstsüchtig handeln und gleichzeitig den Respekt anderer Menschen gewinnen. Man kann nicht zulassen, dass Ungerechtigkeiten herrschen, und gleichzeitig eine zusammenhängende Gesellschaft aufrechterhalten. Man kann nicht dulden, dass Machthaber ihre Macht für ihre eigenen Zwecke missbrauchen und also die Grundlage einer freien und gnädigen Gesellschaftsordnung zerstören. Diese Ideen haben nichts Mystisches an sich. Sie sind durchaus verständlich. Aber sie sind auch, und zwar unausweichlich, moralisch.

Ich habe euch aus der Sklaverei in die Freiheit geführt – sagt Gott -, und Ich befähige euch, frei zu sein. Aber Ich kann und will euch nicht im Stich lassen. Ich werde Mich nicht in eure Entscheidungen einmischen, doch will Ich euch lehren, welche Entscheidungen ihr treffen solltet. Ich werde euch die Verfassung der Freiheit lehren.

Das erste und wichtigste Prinzip ist dieses: Eine Nation kann sich nicht selbst anbeten und überleben. Früher oder später wird die Macht diejenigen korrumpieren, die sie ausüben. Wenn das Glück sie begünstigt und sie zu Reichtum aufsteigt, wird sie selbstverliebt und schließlich dekadent. Ihre Bürger werden nicht mehr den Mut haben, für ihre Freiheit zu kämpfen, und sie wird an eine andere, spartanischere Macht fallen.

Gibt es grobe Ungleichheiten, wird den Menschen der Sinn für das Gemeinwohl abgehen. Ist eine Regierung selbstherrlich und schuldet niemandem Rechenschaft, wird sie die Loyalität des Volkes nicht gewinnen können. Nichts von alledem ist eine Beeinträchtigung der Freiheit. Es bildet lediglich den Rahmen, in dem Freiheit ausgeübt wird. Man kann diesen oder jenen Weg wählen, aber nicht alle Wege führen zum selben Ziel.

Um frei zu bleiben, muss eine Nation etwas Größeres als sich selbst verehren: nichts Geringeres als Gott, verbunden mit dem Glauben, dass alle Menschen in Seinem Ebenbild geschaffen sind. Die Selbstanbetung auf nationaler Ebene führt zu Totalitarismus und zur Auslöschung der Freiheit. Es bedurfte des Verlustes von mehr als 100 Millionen Menschenleben im zwanzigsten Jahrhundert, um uns an diese Wahrheit zu erinnern.

Angesichts von Leid und Verlust gibt es zwei grundlegend verschiedene Fragen, die sich ein Einzelner oder eine Nation stellen kann, und die zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen. Die erste lautet: „Was habe ich oder was haben wir falsch gemacht?“ Die zweite wiederum lautet: „Wer hat uns dies angetan?“ Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass dies die grundlegende Entscheidung ist, die das Schicksal der Menschen bestimmt.

Die zweite Frage führt unweigerlich zu dem, was heute als Opferkultur bekannt ist. Sie verortet die Quelle des Übels außerhalb der eigenen Person: Jemand anderes ist schuld. Nicht ich oder wir sind die Schuldigen, sondern eine äußere Ursache. Die Anziehungskraft dieser Logik kann überwältigend sein. Sie bewirkt Sympathie. Sie verlangt nach Mitgefühl und ruft es oft auch hervor. Sie ist aber auch zutiefst destruktiv. Sie führt dazu, dass die Menschen sich als Objekte und nicht als Subjekte sehen. Man tut ihnen etwas an, statt dass sie selbst etwas tun; sie sind passiv, nicht aktiv. Die Folgen sind Ärger, Missmut, Wut und ein brennendes Gefühl der Ungerechtigkeit. Nichts davon führt jedoch jemals zur Freiheit, da man mit dieser Denkweise die Verantwortung für die aktuellen Umstände, in denen man sich befindet, von sich weist. Andere zu beschuldigen, ist der Selbstmord der Freiheit.

Sich selbst die Schuld zu geben, ist hingegen schwierig. Es bedeutet, mit ständiger Selbstkritik zu leben. Das ist kein Weg zum Seelenfrieden. Und doch ist er überaus ermächtigend: Gerade weil wir die Verantwortung für die schlechten Dinge, die geschehen sind, übernehmen, haben wir auch die Möglichkeit, einen anderen Kurs für die Zukunft einzuschlagen. Innerhalb der vom Bund festgelegten Bedingungen hängt das Ergebnis von uns ab. Das ist die logische Geographie der Hoffnung, und sie beruht auf der Entscheidung, die Moses später mit diesen Worten definieren sollte:

Heute rufe ich Himmel und Erde als Zeugen gegen euch auf, dass ich euch Leben und Tod, Segen und Fluch vor Augen geführt habe. Entscheide dich nun für das Leben, auf dass du lebst, du und deine Kinder“ (Deut. 30:19).

Einer der tiefgreifendsten Beiträge der Tora zur Zivilisation des Westens ist die Erkenntnis, dass das Geschick der Nationen nicht in den Äußerlichkeiten des Reichtums oder der Macht, des Schicksals oder der Umstände liegt, sondern in der moralischen Verantwortung: der Verantwortung für die Schaffung und Erhaltung einer Gesellschaft, die das Ebenbild Gottes in jedem ihrer Bürger, ob reich oder arm, mächtig oder machtlos, ehrt.

Die Politik der Verantwortung ist nicht einfach. Die Flüche in Wajikra 26 sind das genaue Gegenteil von tröstlich. Doch der tiefe Trost, mit dem sie enden, ist weder zufällig, noch ist er Wunschdenken. Sie sind ein Zeugnis für die Kraft des menschlichen Geistes, wenn er zur höchsten Berufung aufgerufen wird. Ein Volk, das sich selbst für das Übel verantwortlich sieht, das ihm widerfährt, ist auch ein Volk, das eine unauslöschliche Kraft zur Wiederherstellung und Rückkehr besitzt.

[1] John Schaar, Legitimacy and the Modern State, S. 291.

[2] Benedict de Spinoza, Theologico-Political Treatise (2004), Kap. 5, S. 76.

  1. Hat Gott seinen Bund mit dem jüdischen Volk gehalten? Können Sie Beweise aus der jüdischen Geschichte anführen?
  2. Wenn wir für unsere Sünden bestraft werden, sind wir dann wirklich frei, zwischen Falsch und Richtig zu wählen?
  3. Basiert die jüdische Zivilisation auf einer Opferkultur oder auf einer Kultur der moralischen Verantwortung? Können Sie Beispiele dafür anführen?

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