Mai ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Die Ökonomie der Freiheit 
Behar

   Der überraschendste Bestseller des Jahres 2014 war Das Kapital im 21. Jahrhundert[1] des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty – eine dicht gedrängte, 700 Seiten lange Abhandlung über Wirtschaftstheorie, die sich auf umfangreiche statistische Untersuchungen stützt – nicht gerade der übliche Stoff für einen literarischen Erfolg.

Ein Großteil seiner Anziehungskraft bezieht das Buch aus der Art und Weise, wie es das Phänomen dokumentiert, das maßgeblich für eine weltweite gesellschaftliche Umgestaltung         verantwortlich ist: In der gegenwärtigen globalen Wirschaft steigen Ungleichheiten rasant an. In den Vereinigten Staaten ist das Einkommen der reichsten ein Prozent zwischen 1979 und 2013 um mehr als 240 Prozent gestiegen, während das unterste Fünftel einen Anstieg von nur 10 Prozent verzeichnete.[2] Noch eklatanter ist der Unterschied bei den Kapitaleinkünften aus Vermögenswerten wie Immobilien, Aktien und Anleihen, wo das oberste Prozent einen Zuwachs von 300 Prozent verzeichnete, während das unterste Fünftel einen Rückgang von 60 Prozent hinnehmen musste. Weltweit gesehen entspricht das Gesamtvermögen der reichsten 85 Personen dem der ärmsten 3,5 Milliarden Menschen – der Hälfte der Weltbevölkerung.[3]

Pikettys Beitrag bestand darin, die Gründe aufzuzeigen, warum dies geschah. Er argumentiert, dass die Marktwirtschaft dazu neigt, uns gleichzeitig gleicher und ungleicher zu machen: gleicher, weil sie Bildung, Wissen und Fähigkeiten weiter verbreitet als in der Vergangenheit, aber ungleicher, weil im Laufe der Zeit, insbesondere in fortgeschrittenen Volkswirtschaften, die Kapitalrendite tendenziell die Wachstumsrate von Einkommen und Produktion übersteigt. Diejenigen, die Kapitalvermögen besitzen, werden reicher, und zwar schneller als diejenigen, die ausschließlich auf das Einkommen aus ihrer Arbeit angewiesen sind. Die zunehmende Ungleichheit, sagt er, sei „eine potenzielle Bedrohung für die demokratischen Gesellschaften und die Werte der sozialen Gerechtigkeit, auf denen sie beruhen“.

Dies ist das jüngste Kapitel einer in der Tat sehr alten Geschichte. Isaiah Berlin wies darauf hin, dass nicht alle Werte nebeneinander bestehen können – in diesem Fall Freiheit und Gleichheit.[4] Man könne das eine oder das andere haben, aber nicht beides: je mehr wirtschaftliche Freiheit, desto weniger Gleichheit; je mehr Gleichheit, desto weniger Freiheit. Das war der Hauptkonflikt in der Epoche des Kalten Krieges zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Der Kommunismus hat dieses Gefecht verloren. In den 1980er Jahren wurden – unter Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien – die Märkte liberalisiert, und am Ende des Jahrzehnts war die Sowjetunion zusammengebrochen. Die uneingeschränkte wirtschaftliche Freiheit erzeugt jedoch ihre eigenen Unzufriedenheiten, und Pikettys Buch fügt sich in eine Reihe mehrerer Warnzeichen ein.

All dies macht die Sozialgesetzgebung des Wochenabschnitts Behar zu einem Text für unsere Zeit, befasst sich die Tora schließlich nicht nur mit wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern vor allem mit grundlegenden moralischen und menschlichen Fragen: Welche Art von Gesellschaft streben wir an? Welche Gesellschaftsordnung wird der Menschenwürde und den zarten Banden, die uns miteinander und mit Gott verbinden, am besten gerecht?

Das Judentum zeichnet sich dadurch aus, dass es sowohl für Freiheit wie für Gleichheit steht, doch zugleich auch die Spannung zwischen beiden wahrnimmt. In den ersten Kapiteln der Genesis werden die Folgen von Gottes Geschenk an den Menschen, dem Geschenk der individuellen Freiheit, beschrieben. Da wir aber zudem soziale Tiere sind, bedarf es auch einer kollektiven Freiheit. Daher die Bedeutung der ersten Kapitel von Schemot, in denen Ägypten als Beispiel für eine Gesellschaft beschrieben wird, wo die Menschen ihrer Freiheit beraubt, Völker versklavt und viele dem Willen einiger weniger unterworfen werden. Aber und abermals erklärt die Tora ihre Gesetze als Mittel zur Bewahrung der Freiheit und erinnert daran, wie es war, in Ägypten der Freiheit beraubt zu sein.

Die Tora bekennt sich zur gleichen Würde eines jeden Menschen als Ebenbild Gottes und unter Seiner Hoheit. Dieses Streben nach Gleichheit wurde in der biblischen Zeit nicht vollständig verwirklicht. Im biblischen Israel gab es Hierarchien. Nicht jeder konnte König sein, nicht jeder war ein Priester. Aber das Judentum hatte kein Klassensystem. Es hatte keine Entsprechung zu Platons Einteilung der Gesellschaft in Menschen aus Gold, Silber und Bronze oder zu Aristoteles‘ Überzeugung, dass einige zum Herrschen geboren sind und andere, um beherrscht zu werden. In der von der Tora angestrebten Gemeinschaft des Bundes sind wir alle Gottes Kinder, alle wertvoll in seinen Augen, und jeder hat einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten.

Die grundlegende Einsicht aus Paraschat Behar ist genau die von Piketty wiedergegebene, nämlich dass wirtschaftliche Ungleichheiten im Laufe der Zeit tendenziell zunehmen, was auch zu einem Verlust an Freiheit führen kann: Menschen können durch ihre Schuldenlast versklavt werden. In biblischen Zeiten konnte dies bedeuten, dass man sich buchstäblich in die Sklaverei verkaufte, so dies die einzige Möglichkeit war, sich Nahrung und Unterkunft zu sichern. Familien hätten sich gezwungen sehen können, ihr Land – das angestammte Erbe aus den Tagen des Moses – zu verkaufen. Im Ergebnis hätte dies zu einer Gesellschaft geführt, in der im Laufe der Zeit einige wenige zu Großgrundbesitzern würden, während die meisten kein Land mehr besäßen und der Armut preisgegeben wären.

Die Lösung der Tora, die in Behar dargelegt wird, besteht in einer zyklischen Wiederherstellung der grundlegenden Freiheiten der Menschen: Jedes siebte Jahr sollten die Schulden erlassen und die israelitischen Sklaven freigelassen werden. Nach sieben Sabbatjahren sollte das Jubeljahr wiederum eine Zeit sein, in der das Land der Vorfahren mit wenigen Ausnahmen an die ursprünglichen Besitzer zurückgegeben wird. Auf der Freiheitsglocke in Philadelphia sind die berühmten Worte des Gebots des Jubeljahrs in der King-James-Übersetzung eingraviert:

„Verkünde Freiheit im ganzen Land für alle seine Bewohner“ (Lev. 25:10).

Diese Vision ist nach wie vor so aktuell, dass die internationale Bewegung für einen Schuldenerlass für die Entwicklungsländer bis zum Jahr 2000 Jubilee 2000 genannt wurde: ein ausdrücklicher Verweis auf die in unserer Parascha dargelegten Grundsätze.

Drei Dinge sind in Bezug auf den sozialen und wirtschaftlichen Ansatz der Tora erwähnenswert. Erstens ist sie mehr um die Freiheit des Menschen als um eine eng gefasste wirtschaftliche Gleichheit besorgt. Verlust von Grund und Boden oder Verschuldung sind wirkliche Einschränkungen der Freiheit.[5] Grundlegend für das jüdische Verständnis der moralischen Dimension der Ökonomie ist der Gedanke der Unabhängigkeit. In den Worten des Propheten Micha ausgedrückt: „Und sitzen wird ein jeglicher unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum“ (Micha 4:4). Wir beten im Tischgebet: „Mache uns nicht abhängig von den Zuwendungen oder Leihgaben anderer Menschen… damit wir weder Schande noch Demütigung erleiden.“ Es hat etwas zutiefst Erniedrigendes, wenn man seine Unabhängigkeit verliert und vom Wohlwollen anderer abhängig ist. Die Bestimmungen unseres Wochenabschnitts Behar zielen daher nicht auf Gleichheit ab, sondern auf die Wiederherstellung der Fähigkeit der Menschen, ihren eigenen Lebensunterhalt als freie und unabhängige Akteure zu verdienen.

Des Weiteren wird das gesamte System aus den Händen der menschlichen Gesetzgeber genommen. Es beruht auf zwei grundlegenden Ideen über Kapital und Arbeit. Erstens, das Land gehört Gott:

„Kein Land darf dauerhaft verkauft werden, denn Mein ist das Land. Und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei Mir“ (Lev. 25:23).

Zweitens gilt das Gleiche für die Menschen:

„Weil die Israeliten Meine Knechte sind, die Ich aus Ägypten herausgeführt habe, darum dürfen sie nicht als Sklaven verkauft werden“ (Lev. 25:42).

Das wiederum bedeutet, dass persönliche und wirtschaftliche Freiheit nicht politisch verhandelbar sind. Sie sind unveräußerliche, gottgegebene Rechte. Dies ist der Grund, warum John F. Kennedy in seiner Antrittsrede 1961 auf die „revolutionären Überzeugungen, für die unsere Vorfahren gekämpft haben“, verwies, „die Überzeugung, dass die Rechte des Menschen nicht aus der Großzügigkeit des Staates, sondern aus der Hand Gottes stammen“.

Drittens sagt sie uns, dass die Wirtschaft ein Bereich ist und bleiben muss, der auf moralischen Grundlagen ruht. Für die Tora sind nicht nur technische Kennzahlen wie die Wachstumsrate oder der absolute Wohlstand wichtig, sondern die Qualität und Struktur menschlicher Beziehungen: die Unabhängigkeit und Würde der Menschen, die Art und Weise, wie das System es den Menschen ermöglicht, sich von Unglück zu erholen, und das Ausmaß, in dem es den Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglicht, die Wahrheit zu leben, „wenn du deiner Hände Arbeit genießest, wirst du glücklich sein und es wird dir wohl ergehen“ (Psalmen 128:2).

In keinem anderen intellektuellen Bereich waren Juden so dominant. Sie haben 41 Prozent der Nobelpreise in Wirtschaftswissenschaften gewonnen.[6] Sie haben einige der bedeutendsten Ideen auf diesem Gebiet entwickelt: David Ricardos Theorie des komparativen Kostenvorteils, John von Neumanns Spieltheorie (für deren Weiterentwicklung Professor Robert Aumann einen Nobelpreis erhielt), Milton Friedmans Finanztheorie, Gary Beckers Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf die Familiendynamik, Daniel Kahnemans und Amos Tverskys Theorie der Verhaltensökonomik und viele andere. Nicht immer, aber oft war die moralische Dimension in ihren Arbeiten offensichtlich.

Es liegt etwas Beeindruckendes, ja sogar geistig Erhebendes in der Tatsache, dass Juden versucht haben, hier auf der Erde – und nicht im himmlischen Jenseits – Systeme zu entwickeln, die die menschliche Freiheit und Kreativität maximieren. Die Grundlagen dafür liegen in unserer Parascha, deren uralte Worte uns nach wie vor inspirieren.

[1] Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert (C.H. Beck, 4. Ausgabe, 21. Dez. 2020), Originaltitel: Le capital au XXle siècle.

[2] http://www.theatlantic.com/business/archive/2012/12/a-giant-statistical-round-up-of-the-income-inequality-crisis-in-16-charts/266074.

[3] http://www.theguardian.com/business/2014/jan/20/oxfam-85-richest-people-half-of-the-world.

[4] Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, in Four Essays on Liberty (Oxford University Press, 1969). Deutsche Ausgabe: Freiheit: Vier Versuche (S. Fischer Taschenbuch Verlag, 1. Ausgabe, Feb. 2006).

[5] Dies ist das Argument, das der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen in seinem Buch Development as Freedom (Oxford Paperbacks, 2001) darlegt.

[6] Siehe die Liste der jüdischen Nobelpreisträger in der Jewish Virtual Library: http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Judaism/nobels.html

  1. Was ist Ihrer Meinung nach wichtiger, Freiheit oder Gleichheit?
  2. Was hat der Umstand, dass wir im Ebenbilde Gottes geschaffen wurden, mit Gleichheit und Freiheit zu tun?
  3. Warum gab es Ihrer Meinung nach so viele jüdische Nobelpreisträger?

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