Mai ‍‍2021 - תשפא / תשפב

We The People

Im letzten Wochenabschnitt des Buches Levitikus, mitten unter den schärfsten Flüchen, die jemals einem Volk zur Warnung ausgesprochen wurden, fanden die Weisen ein Körnchen reinsten Goldes.

Die Tora beschreibt ein Volk auf der Flucht vor seinen Feinden:

Allein das Rauschen eines vom Winde bewegten Blattes wird sie in die Flucht schlagen, und sie werden verängstigt rennen, als würden sie vor einem Schwert fliehen! Sie werden fallen, auch wenn niemand sie jagt! Sie werden übereinander stürzen wie vor einem Schwert, auch wenn niemand sie jagt! Ihr werdet keine Kraft haben, euren Feinden standzuhalten (Lev. 26:36-37).

Auf den ersten Blick gibt es nichts Positives an diesem Schreckensszenario. Aber die Weisen sagen: „Es heißt ‚Sie werden übereinander stürzen‘ – lies: ,ein jeder wegen des anderen stürzen‘. Das lehrt uns, dass alle Israeliten füreinander verantwortlich sind.“[1]

Dies ist eine äußerst seltsame Passage. Warum wird dieses Prinzip gerade in diesem Zusammenhang gelehrt? Gewiss zeugt die gesamte Tora davon. Wenn Moses über die Belohnung für die Treue zum Bund spricht, so tut er dies auf die Gemeinschaft bezogen. Der Regen wird zur rechten Zeit fallen, ihr werdet gute Ernten haben und so weiter. Das Prinzip, dass Juden eine kollektive Verantwortung tragen, dass ihr Schicksal und ihre Bestimmung miteinander verknüpft sind – das hätte man ebenso in den Segnungen der Tora finden können. Warum sollte man es unter den Flüchen suchen?

Die Antwort ist, dass das Judentum mit der Idee, dass unser Schicksal mit dem anderer verwoben ist, nicht allein dasteht. Dasselbe gilt für die Bürger eines jeden Landes. Wenn die Wirtschaft floriert, profitiert die Mehrheit der Menschen davon. Wenn Recht und Ordnung walten, die Menschen höflich zueinander sind und sich gegenseitig helfen, herrscht ein allgemeines Gefühl des Wohlbefindens. Umgekehrt leiden viele Menschen, wenn es mit der Wirtschaft nicht gut läuft. Wenn eine Wohngegend von Kriminalität gezeichnet ist, haben die Menschen Angst, auf die Straße zu gehen. Wir sind sozial miteinander verwoben, und der Horizont unserer Möglichkeiten wird von der Gesellschaft und der Kultur, in der wir leben, geprägt.

So traf es auf die Israeliten zu, solange sie eine eigenständige Nation in ihrem eigenen Land waren. Was aber geschah, als sie Niederlagen erlitten und schließlich über die ganze Erde verstreut wurden? Nun würden sie keine der konventionellen Merkmale einer Nation mehr haben. Sie würden nicht mehr am selben Ort leben, nicht mehr die gleiche Alltagssprache sprechen. Während Raschi und seine Familie im christlichen Norden Europas lebten und Französisch sprachen, lebte Maimonides im muslimischen Ägypten und sprach und schrieb Arabisch.

Ebenso teilten die Juden der Diaspora nicht dasselbe Schicksal. Litten die Nordeuropäer während der Kreuzzüge unter Verfolgung und Massakern, so genossen die Juden in Spanien ihr „Goldenes Zeitalter“. Als die Juden aus Spanien vertrieben wurden und sich gezwungen sahen, als Flüchtlinge um die Welt zu ziehen, genossen die Juden Polens einen seltenen Moment der Toleranz. In welchem Sinne waren sie also füreinander verantwortlich, wie verstanden sie sich noch als ein Volk? Wie konnten sie – in den Worten des Psalm 137 – Gottes Lied in einem fremden Land singen?

Es gibt in der Tora nur zwei Texte, die sich auf diese Fragestellung beziehen: die beiden Abschnitte der Flüche, einer in unserem Wochenabschnitt und der andere im Deuteronomium in Parschat Ki Tawo. Hier nimmt die Tora auf eine Zeit Bezug, in der Israel verbannt und zerstreut ist – wie Moses es später ausdrückt – „in die entferntesten Länder unter dem Himmel“ (Deut. 30:4). Es gibt jedoch drei wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Flüchen: der Abschnitt in Levitikus steht im Plural, der im Deuteronomium im Singular. Die Flüche in Levitikus sind die Worte Gottes; im Deuteronomium sind es Moses’ Worte. Zudem schließen die Flüche im Deuteronomium nicht mit hoffnungsvoller Zuversicht, sondern mit der Vision einer unerträglichen Trostlosigkeit:

Ihr werdet versuchen, euch als Sklaven zu verkaufen – sowohl Männer als auch Frauen -, aber niemand wird euch kaufen wollen (Deut. 28:68).

Die in Levitikus enden hingegen mit einer bedeutsamen Hoffnung:

Trotz alledem werde ich sie, wenn sie im Feindesland sind, nicht verwerfen oder verachten, sie nicht völlig vernichten und somit meinen Bund mit ihnen brechen, denn ich bin der Herr, ihr Gott. Aber um ihretwillen will ich an den Bund mit der ersten Generation denken, die ich vor den Augen aller Völker aus dem Land Ägypten herausgeführt habe, um ihr Gott zu sein. Ich, der Ewige (Lev. 26: 44-45).

Selbst an seinem absoluten Tiefpunkt wird das jüdische Volk laut Levitikus niemals vernichtet werden. Noch wird Gott es zurückweisen. Der Bund wird weiterhin in Kraft sein, seine Bedingungen auch künftig gelten. Das bedeutet, dass Juden immer durch die gleichen Bande der gegenseitigen Verantwortung miteinander verbunden sein werden, die sie in ihrem Land haben: durch den Bund, der sie als Volk formte und sie aneinander band, so wie er sie an Gott band. Deshalb werden sie, auch wenn sie auf der Flucht vor ihren Feinden übereinander stürzen, auch weiterhin durch gegenseitige Verantwortung aneinander gebunden sein. Sie bleiben auf immer eine Nation mit einem gemeinsamen Schicksal und einer gemeinsamen Bestimmung.

Dies ist ein außerordentliches Konzept und das charakteristische Merkmal des politischen Begriffs des „Bundes“. Nach der Reformation wurde der „Bund“ zu einem wichtigen Element in der Politik des Westens. Er prägte den politischen Diskurs in der Schweiz, in Holland, Schottland und England im 17. Jahrhundert, als die Erfindung des Buchdrucks und die Verbreitung des Lesens und Schreibens die Menschen zum ersten Mal mit der hebräischen Bibel (dem „Alten Testament“, wie sie es nannten) vertraut machten. Aus ihr lernten sie, dass Tyrannen Widerstand zu leisten ist, dass unmoralische Befehle nicht befolgt werden sollten und dass Könige nicht mit göttlichem Recht, sondern nur im Konsens mit den Regierten herrschen.

Die gleichen Überzeugungen verband auch die Pilgerväter, als sie nach Amerika aufbrachen. Der Unterschied war, dass sie nicht wie in Europa mit der Zeit verschwanden. Die Vereinigten Staaten sind daher heute das einzige Land, dessen politischer Diskurs von der ursprünglichen Idee des „Bundes“ geprägt ist.

Zwei klassische Beispiele: Lyndon Baines Johnsons Antrittsrede von 1965 und Barack Obamas zweite Antrittsrede von 2013. Beide bedienen sich des rhetorischen Stilmittels der aus biblischen Texten bekannten Rekurrenz (immer eine ungerade Zahl: drei, fünf oder sieben). Johnson beruft sich fünfmal auf die Idee des Bundes. Obama beginnt fünf seiner Absätze mit einer Schlüsselphrase der Bündnispolitik – Worte, die von britischen Politikern nie benutzt werden: „We the people“ – „wir, das Volk“.

In Bündnisgesellschaften ist es das Volk als Ganzes, das unter Gott für das Schicksal der Nation verantwortlich ist. Wie Johnson es ausdrückte: „Unser nationales Schicksal und unsere Zukunft als Volk liegen nicht in den Händen eines einzelnen Bürgers, sondern ruhen auf den Schultern aller Bürger.“[2]  Und mit Obamas Worten: „Es liegt in euren und meinen Händen als Bürger, den Kurs dieses Landes zu bestimmen.“[3]  Das ist das Wesen eines Bundes: Wir sitzen alle im selben Boot. Es gibt keinen Unterscheid zwischen den Herrschenden und den einfachen Bürgern einer Nation. Wir sind gemeinsam, unter der Hoheit Gottes, füreinander verantwortlich.

Damit ist nicht unbeschränkte Verantwortung gemeint. Es gibt im Judentum nichts, was mit der tendenziösen und letztlich bedeutungslosen Idee einer „absoluten Verantwortung“ vergleichbar wäre, wie Jean-Paul Sartre sie in Das Sein und das Nichts dargelegt hat: „Die eigentliche Schlussfolgerung unserer früheren Ausführungen ist, dass der Mensch, da er dazu verurteilt ist, frei zu sein, das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern trägt, er ist für die Welt und sein persönliches Sein verantwortlich.“[4]

Nach der Anschauung des Judentums sind wir nur für das verantwortlich, was wir hätten verhindern können, aber nicht getan haben. Der Talmud drückt es so aus:

Wer seinem Haushalt untersagen kann [eine Sünde zu begehen], dies aber nicht tut, wird für ihre Sünden zur Verantwortung gezogen. Wer es seinen Mitbürgern [untersagen kann, es aber nicht tut], wird für (die Sünden) seiner Mitbürger zur Verantwortung gezogen. Wer der ganzen Welt [Einhalt gebieten kann, es jedoch unterlässt], wird für die (Sünden der) ganzen Welt zur Verantwortung gezogen (Schabbat 54b).

Eine so eindringliche wie ungewöhnliche Idee. Für das Judentum war sie einzigartig, da sie auf ein Volk angewendet wurde, das über die ganze Welt verstreut lebte und nur vereint war durch die Modalitäten des Bundes, den unsere Vorfahren am Berg Sinai mit Gott geschlossen hatten. Dennoch hat es, wie ich bereits des Öfteren dargelegt habe, enormen Einfluss auf den amerikanischen politischen Diskurs, bis auf den heutigen Tag. Es sagt uns, dass wir alle gleichberechtigte Bürger in der Republik des Glaubens sind und die Verantwortung nicht von uns an Regierungen oder Präsidenten delegiert werden kann, weil sie unveräußerlich zu jedem Einzelnen von uns gehört. Wir sind tatsächlich die Hüter unserer Brüder und Schwestern.

Das ist es, was ich mit der merkwürdigen, scheinbar widersprüchlichen Idee meine, die ich in dieser Reihe von Aufsätzen vertreten habe: dass wir alle aufgerufen sind, Führer zu sein. Man kann mit Recht einwenden: Wenn jeder ein Führer ist, dann ist es niemand. Wenn jeder führt, wer verbleibt, um zu folgen? Das den Widerspruch auflösende Konzept ist das des „Bundes“.

Führung ist die Übernahme von Verantwortung. Wenn wir daher füreinander Verantwortung übernehmen, sind wir alle aufgerufen, Führer zu sein, jeder in seinem Einflussbereich – sei es in der Familie, der Gemeinde, einer Organisation oder in einem noch größeren Verbund.

Das kann manchmal einen enormen Unterschied ausmachen. Im Spätsommer 1999 war ich in Pristina, um eine BBC-Fernsehsendung über die Nachwirkungen des Kosovo-Konflikts zu machen. Ich interviewte General Sir Michael Jackson, den damaligen Oberbefehlshaber der NATO-Truppen. Zu meiner Überraschung dankte er mir für das, was „meine Leute“ getan hatten. Die jüdische Gemeinde hatte die Verantwortung für die 23 Grundschulen der Stadt übernommen. Das sei, so sagte er, der wertvollste Beitrag zum Wohle der Stadt. Wenn 800.000 Menschen zu Flüchtlingen werden und dann nach Hause zurückkehren, gibt es kein ermutigenderes Zeichen dafür, dass das Leben zur Normalität zurückkehrt, als das, dass die Schulen wieder pünktlich ihre Türen öffnen. Das, sagte er, verdanken wir dem jüdischen Volk.

Als ich später am selben Tag den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde traf, fragte ich ihn, wie viele Juden derzeit in Pristina lebten. Seine Antwort: Elf. Die Geschichte war, wie ich später herausfand, folgende: In den frühen Tagen des Konflikts hatte Israel, so wie andere internationale Hilfsorganisationen auch, ein medizinisches Team vor Ort geschickt, um die kosovo-albanischen Flüchtlinge zu betreuen. Sie bemerkten, dass sich die anderen Organisationen nur auf die Erwachsenen konzentrierten, es aber niemanden gab, der mit den Kindern arbeitete. Durch den Konflikt traumatisiert und weit weg von ihrem Zuhause, waren die Kinder verloren und unkonzentriert, und es gab kein Fördersystem, um ihnen zu helfen.

Das Team rief in Israel an und bat um junge Freiwillige. Jede Jugendbewegung in Israel, von der säkularsten bis zur religiösesten, bildete sofort freiwillige Teams von Jugendleitern, die für jeweils zwei Wochen in den Kosovo geschickt wurden. Sie arbeiteten mit den Kindern, organisierten Sommercamps, Sportwettkämpfe, Theater- und Musikveranstaltungen und was ihnen sonst noch einfiel, um das Trauma des zeitweiligen Exils der Kinder zu lindern. Die Kosovo-Albaner waren Muslime, und für viele der israelischen Jugendarbeiter war dies der erste Kontakt und die erste Freundschaft mit Kindern eines anderen Glaubens.

Ihr Einsatz wurde von der UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, hoch gelobt. Infolge dessen wurde „das jüdische Volk“ – Israel, der aus Amerika operierende „Joint“ und andere jüdische Organisationen – gebeten, die Rückkehr zur Normalität für das Schulsystem in Pristina zu organisieren.

Diese Begebenheit lehrte mich die Macht von Chessed, Taten der Liebe, wenn sie über die Grenzen des Glaubens hinausgehen. Sie illustriert auch den praktischen Einfluss, den kollektive Verantwortung auf den Umfang der jüdischer Tatkraft hat. Das Weltjudentum ist klein, aber die unsichtbaren Fäden der gegenseitigen Verantwortung bedeuten, dass selbst die kleinste jüdische Gemeinde sich an das jüdische Volk weltweit um Hilfe wenden kann, und sie vermögen Dinge zu erreichen, die für eine Nation, die ein Vielfaches ihrer Größe hat, außergewöhnlich wären.

Wenn sich Juden überall in kollektiver Verantwortung die Hände reichen, wird das jüdische Volk zu einer gewaltigen Kraft für das Gute.