Jun ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Zwei Arten eines moralischen Lebens
Nasso

   Paraschat Nasso enthält die Gesetze für den Nasir – eine Person, die sich verpflichtete, besondere Regeln der Heiligkeit und Enthaltsamkeit einzuhalten: keinen Wein oder anderen Rauschtrank zu genießen (einschließlich allem, was aus Trauben hergestellt wird), sich nicht das Haupthaar zu schneiden und sich nicht durch Kontakt mit einem Toten zu verunreinigen (Num. 6:1-21). Ein solcher Zustand wurde in der Regel für einen begrenzten Zeitraum beibehalten; die Norm waren dreißig Tage. Es gab Ausnahmen, am bekanntesten sind Samson und Samuel, die aufgrund der wundersamen Art und Weise ihrer Geburt schon vor ihrer Geburt als Nesirim auf Lebenszeit geweiht wurden.[1]

Was die Tora jedoch nicht klarstellt, ist erstens, warum eine Person sich diese Form der Enthaltsamkeit auferlegen möchte, und zweitens, ob sie diese Entscheidung als lobenswert oder lediglich als zulässig betrachtet. Einerseits bezeichnet die Tora den Nasir als „heilig für Gott“ (Num. 6:8). Andererseits verlangt sie von ihm, am Ende der Gelübdezeit ein Sündopfer darzubringen (Num. 6:13-14).

Dies war Anlass zu einer fortdauernden Meinungsverschiedenheit zwischen den Rabbinern des Zeitalters der Mischna, über die Epoche des Talmuds bis hin zum Mittelalter.

Nach Rabbi Elasar und später auch Nachmanides ist der Nasir des Lobes wert, denn er hat freiwillig die Anforderungen einer höheren Stufe der Heiligkeit auf sich genommen. Der Prophet Amos sagte: „Ich habe einige eurer Söhne zu Propheten und eure jungen Männer zu Nesirim erzogen“ (Amos 2:11), was darauf hindeutet, dass der Nasir wie der Prophet jemand ist, der Gott besonders nahesteht. Der Grund, weshalb er ein Sündopfer darbringen musste, hing mit seiner Rückkehr in das normale Leben zusammen. Seine Sünde bestand darin, dass er aufhörte, ein Nasir zu sein.

Elieser Hakapar und Schmuel vertraten eine gegenteilige Meinung. Für sie lag die Sünde darin, dass er überhaupt erst Nasir geworden war und sich dadurch einige der Freuden der von Gott geschaffenen und für gut erklärten Welt versagt hatte. Rabbi Elieser fügte hinzu:

„Daraus können wir schließen, dass, wenn jemand, der sich den Genuss des Weines versagt, ein Sünder genannt wird, dies umso mehr für jenen gilt, der sich den Genuss anderer Freuden des Lebens versagt“ (Taanit 11a; Nedarim 10a).

Es ist klar, dass die Meinungsverschiedenheit nicht nur textlicher Natur ist; sie ist substantiell. Es geht um Askese, um ein Leben der Selbstverleugnung. Fast jede Religion kennt das Phänomen, dass es Menschen gibt, die sich in ihrem Streben nach geistiger Reinheit den Vergnügungen und Versuchungen der Welt entziehen. Sie leben in Höhlen, Zufluchtsorten, Einsiedeleien, Klöstern. Die Sekte von Qumran, die uns durch die Schriftrollen vom Toten Meer bekannt geworden ist, könnte eine solche Bewegung gewesen sein.

Im Mittelalter gab es Juden, die ähnliche Formen der Entsagung praktizierten – darunter die Chassside Aschkenas, die Pietisten in Nordeuropa sowie viele Juden in islamischen Ländern. Rückblickend fällt es schwer, in diesen Verhaltensmustern nicht zumindest einen gewissen Einfluss des nichtjüdischen Umfelds zu erkennen. Die Chassside Aschkenas, die sich zur Zeit der Kreuzzüge entwickelten, lebten unter Christen, die sich der Selbstkasteiung hingaben. Gleichgesinnte aus südlicher gelegenen Gemeinden waren möglicherweise mit dem Sufismus, der mystischen Bewegung im Islam, vertraut.

Die Zwiespältigkeit der Juden gegenüber einem Leben der Entsagung mag daher auf dem Verdacht beruhen, dass sie von außen in das Judentum eingedrungen ist. In den ersten Jahrhunderten der Neuzeit gab es sowohl im Westen (Griechenland) als auch im Osten (Iran) asketische Bewegungen, die die körperliche Welt als einen Ort der Verderbnis und des Konflikts sahen. Sie waren in der Tat Dualisten und vertraten die Ansicht, dass der wahre Gott nicht der Schöpfer des Universums sei. Die physische Welt sei das Werk einer geringeren und diabolischen Gottheit. Daher sei Gott – der wahre Gott – nicht in der körperlichen Welt und ihren Genüssen zu finden, sondern vielmehr in der Loslösung von ihnen.

Die beiden bekanntesten Bewegungen, die diese Ansicht verfochten, waren der Gnostizismus im Westen und der Manichäismus im Osten. Zumindest ein Teil der negativen Bewertung der Nesirut könnte also auf dem Wunsch beruhen, Juden von der Nachahmung nichtjüdischer Praktiken abzuhalten. Das Judentum ist der festen Überzeugung, dass Gott inmitten der physischen Welt zu finden ist, die Er geschaffen hat und die im ersten Kapitel der Genesis sieben Mal als „gut“ bezeichnet wird. Es glaubt nicht an den Verzicht auf körperlicher Freuden, sondern an ihre Heiligung.

Viel rätselhafter ist die Position von Maimonides, der beide Ansichten, die positive wie die negative, in ein und demselben Buch, seinem Kodex, der Mischne Tora, vertritt. In Hilchot De’ot nimmt er die ablehnende Position von Rabbi Elieser Hakapar ein:

„Eine Person mag sagen: ,Begierde, Ehre und dergleichen sind schlechte Wege, denen man nicht folgen sollte. Sie entfernen einen Menschen von der Welt; deshalb werde ich ihnen völlig den Rücken kehren und zum anderen Extrem übergehen.‘ Infolgedessen isst er kein Fleisch, trinkt keinen Wein, nimmt sich keine Frau, lebt nicht in einem respektablen Haus und trägt keine normale Kleidung… Auch das ist schlecht, und es ist verboten, diesen Weg zu wählen“ (Maimonides, Mischne Tora, Hilchot De’ot 3:1).

In Hilchot Nesirut folgte er in seiner Entscheidung der Halacha jedoch der positiven Bewertung von Rabbi Elasar: „Wer Gott ein Gelübde zur Heiligkeit ablegt [ein Nasir zu werden], tut gut und ist lobenswert… In der Tat betrachtet die Schrift ihn als einem Propheten gleichwertig.“[2] Wie kommt ein Autor dazu, in genau demselben Werk so widersprüchliche Positionen einzunehmen, und gar ein so entschieden logisch Denkender wie Maimonides?

Die Antwort liegt in einer bemerkenswerten Einsicht, die Maimonides vom Wesen des moralischen Lebens, wie es das Judentum versteht, hat. Maimonides erkannte, dass es nicht nur ein einziges Modell für ein tugendhaftes Leben gibt. Stattdessen unterscheidet er zwei und nennt sie den Weg des Heiligen (Chassid) und den Weg des Weisen (Chacham).

Der Weise folgt der „goldenen Mitte“, dem „mittleren Weg“. Das moralische Leben ist eine Frage der Mäßigung und des Gleichgewichts, ein Weg zwischen zu viel und zu wenig. Mut zum Beispiel liegt in der Mitte zwischen Feigheit und Rücksichtslosigkeit. Großzügigkeit liegt zwischen Verschwendungssucht und Geiz. Dies ähnelt sehr der Vision von einem moralischen Leben, wie es Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik dargelegt hat.

Der Heilige hingegen folgt nicht dem Mittelweg. Er oder sie neigt zu Extremen: zum Fasten, anstatt einfach nur in Maßen zu essen, zur Armut, anstatt bescheidenen Reichtum zu erwerben, und so weiter. An verschiedenen Stellen in seinen Schriften erklärt Maimonides, warum Menschen zu Extremen neigen können. Als einen Grund nennt er die Reue und die Verbesserung des Charakters.[3] So kann sich ein Mensch von seinem Stolz heilen, indem er sich eine Zeit lang in extremer Selbsterniedrigung übt. Ein weiterer Grund ist die Asymmetrie der menschlichen Persönlichkeit: Die Extreme halten sich nicht die Waage. Feigheit ist verbreiteter als Rücksichtslosigkeit und Geiz verbreiteter als Großzügigkeit, weshalb der Chassid zur entgegengesetzten Richtung neigt. Ein dritter Grund sind für Maimonides die Verlockungen fremder Kulturen. Diese können so stark im Widerspruch zu den religiösen Werten stehen, dass fromme Menschen sich von der Gesellschaft absondern, „sich in Woll- und Haarkleider kleiden, in den Bergen wohnen und in der Wüste umherwandern“[4] und sich durch ihr extremes Verhalten abheben.

Dies ist eine sehr nuancierte Darstellung. Für Maimonides gibt es Zeiten, in denen Selbstverleugnung therapeutisch ist, andere, in denen sie in das Thoragesetz selbst integriert ist, und wieder andere, in denen sie eine Reaktion auf ein übermäßig hedonistisches Zeitalter ist. Im Allgemeinen aber gilt für Maimonides, dass uns geboten ist, den mittleren Weg zu gehen, während der Weg des Heiligen lifnim Mischurat Hadin ist, also über die strengen Anforderungen des Gesetzes hinausgeht.[5]

Moshe Halbertal sieht in seiner kürzlich erschienenen und beeindruckenden Studie über Maimonides,[6] dass er die grundlegende Spannung zwischen dem bürgerlichen Ideal der griechischen politischen Tradition und dem spirituellen Ideal des religiösen Radikalen, für den, wie der Kotzker Rebbe bekanntermaßen sagte, „die Mitte des Weges für Pferde ist“, auf den Punkt bringt. Für den Chassid kann der Weise des Maimonides wie ein „selbstgefälliger Bourgeois“ aussehen.

Im Wesentlichen handelt es sich um zwei Arten, das moralische Leben selbst zu verstehen. Ist es das Ziel, persönliche Vollkommenheit zu erreichen, oder steht das Streben, ein moralisches Leben, eine anständige, gerechte und mitfühlende Gesellschaft zu schaffen, im Vordergrund? Die intuitive Antwort der meisten Menschen wäre: beides. Das ist es, was Maimonides zu einem so scharfsinnigen Denker macht. Er erkennt, dass man nicht beides haben kann. Es sind in der Tat verschiedene Unternehmungen.

Ein Heiliger mag sein ganzes Geld an Arme verschenken. Aber was ist mit den Mitgliedern der eigenen Familie des Heiligen? Ein Heiliger mag sich weigern, in der Schlacht zu kämpfen. Was aber ist mit dem Heimatland des Heiligen? Ein Heiliger mag alle gegen ihn begangenen Verbrechen vergeben. Aber was ist mit der Rechtsstaatlichkeit und der Gerechtigkeit? Heilige sind höchst tugendhafte Menschen, wenn man sie als Individuen betrachtet. Aber man kann keine Gesellschaft aus Heiligen allein aufbauen. Letztlich sind Heilige nicht wirklich an der Gesellschaft interessiert. Ihr Anliegen ist das Seelenheil.

Dies ist die tiefe Einsicht, die Maimonides zu seinen scheinbar widersprüchlichen Beurteilungen der Nesirut führte. Der Nasir hat sich, zumindest für eine gewisse Zeit, für ein Leben der extremen Selbstverleugnung entschieden. Er ist ein Heiliger, ein Chassid. Er hat den Weg der persönlichen Vollkommenheit gewählt. Das ist edel, lobenswert und vorbildlich.

Aber es ist nicht der Weg des Weisen – und man bedarf der Weisen, wenn man die Gesellschaft vervollkommnen will. Der Weise ist kein Extremist, denn er oder sie erkennt, dass es auch um andere Menschen geht. Da sind die Mitglieder der eigenen Familie und die anderen in der eigenen Gemeinschaft. Es gibt ein Land zu verteidigen und eine Wirtschaft zu erhalten. Der Weise weiß, dass er oder sie all diesen Verpflichtungen nicht den Rücken kehren kann, um ein Leben der einsamen Tugend zu führen. Denn wir sind von Gott aufgerufen, in der Welt zu leben, nicht vor ihr zu fliehen; in der Gesellschaft zu existieren, nicht in der Abgeschiedenheit; uns zu bemühen, ein Gleichgewicht zwischen unseren widersprüchlichen Belastungen herzustellen, und uns nicht auf die einen zu konzentrieren, während wir die anderen vernachlässigen.

Obschon der Nasir aus einer auf seine Person gerichteten Perspektive also ein Heiliger ist, ist er aus gesellschaftlicher Sicht, zumindest im übertragenen Sinne, ein „Sünder“, der ein Sühneopfer bringen muss.

Maimonides lebte das Leben, das er predigte. Wir wissen aus seinen Schriften, dass er sich nach Abgeschiedenheit sehnte. Es gab Jahre, in denen er Tag und Nacht arbeitete, um seinen Kommentar zur Mischna und später die Mischne Tora zu schreiben. Doch er erkannte auch seine Verantwortung gegenüber seiner Familie und der Gemeinschaft. In seinem berühmten Brief an seinen zukünftigen Übersetzer Ibn Tibbon schildert er einen typischen Tag und eine typische Woche,[7] in der er eine doppelte Belastung als weltberühmter Arzt und als international gefragter Meister der Halacha und Weiser zu tragen hatte. Er arbeitete bis zur Erschöpfung.[8]

Maimonides war ein Weiser, der sich danach sehnte, ein Heiliger zu sein, und dabei doch wusste, dass er das nicht sein konnte, wenn er seiner Verantwortung gegenüber seinem Volk gerecht werden wollte. Dies ist ein tiefes und bewegendes Urteil, das auch heute noch inspiriert.

[1] Siehe Richter 13:1-7; und I Sam. 1:11. Der Talmud unterscheidet diese Art von Fällen von dem normalen Gelübde für einen bestimmten Zeitraum. Der berühmteste Nasir der Neuzeit war Rabbi David Cohen (1887-1972), ein Schüler von Raw Kook und Vater des Oberrabbiners von Haifa, Rabbi She’ar-Yashuv Cohen (1927-2016).

[2] Maimonides, Mischne Tora, Hilchot Nesirut 10:14,

[3] Siehe seine Schemone Perakim (die Einleitung zu seinem Kommentar zur Mischna Awot), Kap. 4, und Mishne Tora, Hilchot De’ot, Kap. 1, 2, 5 und 6.

[4] Schemone Perakim, Kap. 4.

[5] Mishne Tora, Hilchot De’ot 1:5.

[6] Moshe Halbertal, Maimonides: Life and Thought (Princeton, New Jersey, Princeton University Press, 2014), S. 154-163.

[7] Es gab Weisen, die glaubten, dass in einer idealen Welt Aufgaben wie das Verdienen des Lebensunterhalts oder das Kinderkriegen „von anderen erledigt“ werden könnten (siehe Berachot 35a für die Ansicht von R. Schimon Bar Jochai; Jewamot 63b für die von Ben Asai). Dies sind elitäre Haltungen, die im Judentum von Zeit zu Zeit auftauchen, vom Talmud aber kritisiert werden.

[8] Siehe Rabbi Yitzhak Sheilat, Briefe des Maimonides [hebräisch] (Jerusalem, Miskal, 1987-88), 2:530-554.

  1. Glaubte Maimonides, ein Nasir zu sein, sei eine gute oder eine schlechte Sache? Was meinen Sie?
  2. Zeigte Maimonides in seinem eigenen Leben eine Tendenz, ein Heiliger oder ein Weiser zu sein?
  3. Mit wem fühlen Sie sich am meisten verbunden, mit dem Weisen oder dem Heiligen?

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