Sep ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Eine Führungsgestalt ruft zur Verantwortung auf

Wenn Worte Flügel bekommen, verwandeln sie sich in Gesang. Das ist es, was sie hier in Ha’asinu tun, als Moses, den Todesengel bereits vor Augen, sich darauf vorbereitet, aus diesem Leben zu scheiden. Nie zuvor hatte er mit solcher Leidenschaft gesprochen. Seine Sprache ist eindringlich, sogar stürmisch. Er möchte, dass seine letzten Worte nie vergessen werden. In gewissem Sinne hat er dieser Wahrheit schon seit vierzig Jahren Ausdruck verliehen, doch nie zuvor mit so viel Emotion. Dies sind seine Worte:

Hört, ihr Himmel, ich will reden,

Erde, hör’ die Rede meines Mundes…

Ein Fels ist Er, Sein Tun vollkommen,

Denn alle Seine Wege sind gerecht.

Ein treuer Gott ohne Unrecht,

Recht und gerade ist Er.

Er ist ohne Fehl; der Fehler ist an seinen Kindern,

Eine krumme und verzogene Generation.

So wollt ihr es Gott lohnen?

Undankbares, unverständiges Volk?

Ist Er nicht dein Vater, dein Meister?

Er hat dich erschaffen, dich gegründet (Deut. 32:1-6).

Gebt Gott nicht die Schuld, wenn etwas schiefläuft. Das ist es, was Moses so leidenschaftlich empfindet: Glaubt nicht, sagt er, dass Gott dazu da ist, um uns zu dienen. Es ist unsere Aufgabe, Ihm zu dienen und durch Ihn ein Segen für die Welt zu sein. Gott ist gerade; wir sind es, die kompliziert und selbsttrügerisch sind. Er ist nicht hier, um uns unserer Verantwortung zu entbinden. Es ist Gott, der uns zur Verantwortung ruft.

Mit diesen Worten bringt Moses das Drama, das mit Adam und Eva im Garten Eden begann, nun zu seinem Ende. Als sie sündigten, gab Adam der Frau die Schuld, die Frau wiederum der Schlange. So war es, als Gott mit der Schöpfung begann, und so ist es auch noch im säkularen Zeitalter des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Die Geschichte der Menschheit ist größtenteils eine Flucht vor der Verantwortung. Die Schuldigen wechseln. Allein das Gefühl des Opfertums bleibt: Wir sind es nicht gewesen. Es waren die Politiker. Oder die Medien. Oder die Banken. Oder unsere genetische Veranlagung. Oder unsere Eltern. Oder das System, sei es Kapitalismus, Kommunismus oder irgendetwas dazwischen. Vor allem aber sind es die anderen, die schuld sind, jene, die nicht so sind wie wir, die Ungläubigen, die Kinder des Satans und der Finsternis, die Unerlösten. Die Täter des größten Verbrechens gegen die Menschheit in der Geschichte waren davon überzeugt, dass nicht sie schuldig waren. Sie haben „nur Befehle befolgt“. Wenn alles andere fehlschlägt, dann gib Gott die Schuld. Und wenn du nicht an Gott glaubst, gib den Menschen, die an ihn glauben, die Schuld. Mensch zu sein heißt, sich aus der Verantwortung stehlen zu wollen.

Das ist es, worin sich das Judentum unterscheidet. Das ist der Grund, warum manche Menschen Juden bewundern und andere sie hassen. Denn das Judentum ist Gottes Aufruf zur menschlichen Verantwortung. Vor diesem Ruf kann man sich nicht verstecken, wie Adam und Eva merkten, als sie es versuchten, und man kann ihm nicht entkommen, wie Jona im Bauch eines Fisches erfuhr.

Was Moses in seinem großen Abschiedslied sagt, lässt sich so umschreiben: „Geliebtes Volk, ich habe euch vierzig Jahre lang geführt, und meine Zeit neigt sich dem Ende zu. In den letzten Monaten, seit ich diese Reden, diese Dewarim, begonnen habe, habe ich versucht, euch die wichtigsten Dinge über eure Vergangenheit und Zukunft zu sagen. Ich bitte euch, sie nicht zu vergessen.“

„Eure Eltern waren Sklaven. Gott hat sie und euch in die Freiheit geführt. Aber das war eine negative Freiheit, Chofesch: Die Abwesenheit eines Unterdrückers, der euch herumkommandierte. Diese Art von Freiheit ist nicht unbedeutend, denn ihr Verlust schmeckt wie ungesäuertes Brot und bittere Kräuter. Esst sie einmal im Jahr, damit ihr nie vergesst, woher ihr kommt und wer euch herausgebracht hat.“

„Glaubt jedoch nicht, dass Chofesch allein eine freie Gesellschaft erhalten kann. Wenn jeder tun kann, was er will, ist das Ergebnis Anarchie, nicht Freiheit. Eine freie Gesellschaft erfordert Cherut, die positive Freiheit, die nur entsteht, wenn die Menschen sich die Handlungsweise der Selbstbeschränkung zu eigen machen, so dass meine Freiheit nicht auf Kosten der deinen oder deine auf Kosten der meinen erworben wird.“

„Deshalb habe ich euch all diese Gesetze, Urteile und Satzungen gelehrt. Sie sind keine willkürlichen Regeln. Nichts davon existiert, weil es Gott behagt, Gesetze zu geben. Gott hat den Strukturen der Materie selbst Gesetze gegeben – Gesetze, die ein riesiges, wundersames, fast unergründliches Universum hervorgebracht haben. Wäre Gott nur daran interessiert, Gesetze zu geben, hätte er sich auf die Dinge beschränkt, die diesen Gesetzen gehorchen, nämlich Materie ohne Geist und Lebensformen, die keine Freiheit kennen.“

„Die Gesetze, die Gott mir gegeben hat und die ich euch gegeben habe, existieren nicht Gott zuliebe, sondern unseretwillen. Gott hat uns die Freiheit geschenkt – das seltenste, kostbarste und unergründlichste Gut, das es gibt, außer dem Leben selbst. Mit der Freiheit aber kommt die Verantwortung. Das bedeutet, dass wir das Risiko des Handelns eingehen müssen. Gott hat uns das Land gegeben, aber wir müssen es erobern. Gott hat uns die Felder gegeben, aber wir müssen sie pflügen, säen und ernten. Gott hat uns den Körper gegeben, aber wir müssen ihn hüten und heilen. Gott ist unser Vater; er hat uns erschaffen und uns etabliert. Aber Eltern können das Leben ihrer Kinder nicht leben. Sie können ihnen nur durch Anleitung und Liebe zeigen, wie sie leben sollen.“

„Wenn also etwas schiefläuft, gebt nicht Gott die Schuld. Er ist nicht unlauter; wir sind es. Er ist geradlinig; wir sind es, die manchmal krumm und verzogen sind.“

Dies ist die Ethik der Verantwortung, wie sie uns die Tora vermittelt. Es gibt keine höhere Einschätzung des menschlichen Wesens. Nie wurde den sterblichen Geschöpfen von Fleisch und Blut eine höhere Berufung anvertraut.

Das Judentum sieht den Menschen nicht, wie es manche Religionen tun, als unwiederbringlich verdorben, von der Erbsünde befleckt, ohne Gottes Gnade unfähig zum Guten. Das ist eine Form des Glaubens, aber es ist nicht die unsere. Wir sehen Religion auch nicht als eine Sache der blinden Unterwerfung unter Gottes Willen. Auch das ist eine Form des Glaubens, aber nicht die unsere.

Wir sehen den Menschen nicht, wie die Heiden, als Spielball launischer Götter. Wir sehen ihn auch nicht, wie manche Wissenschaftler, als bloße Materie, als die Art und Weise, wie ein Gen ein anderes hervorbringt, als eine Ansammlung von chemischen Substanzen, die von elektrischen Impulsen im Gehirn angetrieben werden, ohne besondere Würde oder Heiligkeit, als zeitweilige Bewohner eines sinnentleerten Universums, das ohne Grund entstanden ist und eines Tages, ebenfalls ohne Grund, aufhören wird zu existieren.

Wir glauben, dass wir Gottes Ebenbild sind, frei, wie er frei ist, schöpferisch, wie er schöpferisch ist. Wir existieren zwar in einem unendlich kleineren und begrenzten Maßstab, aber dennoch sind wir der eine Punkt in der ganzen widerhallenden Weite des Raums, an dem sich das Universum seiner selbst bewusst wird, die eine Lebensform, die in der Lage ist, ihr eigenes Schicksal zu gestalten: wählend, daher frei, daher verantwortlich. Das Judentum ist der Aufruf Gottes zur Verantwortung.

Das bedeutet: Du sollst dich nicht als Opfer sehen. Glaube nicht wie die Griechen, dass das Schicksal blind und unausweichlich ist, dass unser Geschick, einst vom Orakel von Delphi offenbart, schon vor unserer Geburt besiegelt war, dass wir wie Laios und Ödipus dem Schicksal ausgeliefert sind, wie sehr wir auch versuchen, den Ketten des Schicksals zu entkommen. Das ist eine fatale Sicht des menschlichen Daseins. Bis zu einem gewissen Grad wurde sie in unterschiedlicher Weise von Spinoza, Marx und Freud geteilt, dem großen Triumvirat der Juden, die das Judentum und alle seine Werke ablehnten.

Gleich Viktor Frankl, Überlebender von Auschwitz, und Aaron T. Beck, Mitbegründer der kognitiven Verhaltenstherapie, glauben wir stattdessen, dass wir nicht durch das definiert werden, was uns widerfährt, sondern vielmehr dadurch, wie wir auf das reagieren, was uns widerfährt. Das wiederum wird dadurch bestimmt, wie wir das, was uns widerfährt, interpretieren. Wenn wir die Art und Weise, wie wir denken, ändern – was uns aufgrund der Plastizität des Gehirns gegeben ist -, können wir auch die Art und Weise, wie wir fühlen und handeln, ändern. Es gibt kein endgültiges Schicksal. Es mag so etwas wie ein verhängnisvolles Dekret geben, aber Reue, Gebet und Nächstenliebe können es abwenden. Und was wir nicht allein tun können, können wir gemeinsam tun, denn wir glauben: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist (Gen. 2:18).“

So entwickelten die Juden eine Moral der Schuld anstelle der Moral der Schande, die die Griechen hatten. Eine Moral der Schuld macht einen scharfen Unterschied zwischen der Person und der Tat, zwischen dem Sünder und der Sünde. Da wir nicht gänzlich durch unsere Taten definiert werden, bleibt ein Kern in uns intakt – „Mein Gott, die Seele, die du mir gegeben hast, ist rein“ -, so dass wir, was auch immer wir an Unrecht begangen haben, bereuen können und uns vergeben wird. Das schafft eine Sprache der Hoffnung, die einzige Kraft, die stark genug ist, um eine Kultur der Verzweiflung zu besiegen.

Wenn der Mensch durch Gottes Liebe und Vergebung zu Freiheit und Verantwortung gelangt, entsteht die lebendige Hoffnung, die das Judentum zu der moralischen Kraft gemacht hat, die es für Menschen offenen Geistes und Herzens immer gewesen ist. Aber diese Hoffnung, sagt Moses mit einer Leidenschaft, die uns immer noch ergreift, wenn wir sie uns von neuem erschließen, kommt nicht von selbst. Sie muss erarbeitet und erkämpft werden. Der einzige Weg, sie zu erlangen, ist, Gott nicht zu beschuldigen. Er ist nicht korrupt. Der Fehler liegt bei uns, seinen Kindern. Wenn wir eine bessere Welt wollen, müssen wir sie schaffen. Gott lehrt uns, inspiriert uns, vergibt uns, wenn wir versagen, und richtet uns auf, wenn wir fallen, aber wir müssen es selbst vollbringen. Es ist nicht das, was Gott für uns tut, das uns verwandelt; es ist das, was wir für Gott tun.

Die ersten Menschen verloren das Paradies, als sie sich vor der Verantwortung verstecken wollten. Wir werden es nur zurückgewinnen, wenn wir Verantwortung übernehmen und zu einer Nation von Führern werden, die diejenigen respektieren und jenen Raum geben, die nicht so sind wie wir. Die Menschen mögen keine Menschen, die sie an ihre Verantwortung erinnern. Das ist einer der Gründe (sicher nicht der einzige) für die Judenfeindlichkeit seit jeher. Aber wir werden nicht von denen definiert, die uns nicht mögen. Jude zu sein, heißt, von dem Einen definiert zu werden, der uns liebt.

Das tiefste Geheimnis von allen ist nicht unser Glaube an Gott, sondern Gottes Glaube an uns. Möge dieser Glaube uns tragen, wenn wir dem Ruf zur Verantwortung folgen und das Risiko eingehen, einige der unnötigen Wunden einer verletzten, aber doch wundersamen Welt zu heilen.

  1. Was ist der Unterschied zwischen Chofesch und Cherut?
  2. Wie sagt Moses, dass wir reagieren sollen (und nicht reagieren sollen), wenn etwas schiefläuft?
  3. Was meinen wir, wenn wir sagen, dass das Judentum ein „Ruf zur Verantwortung“ ist?

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