Feb ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Der Dienst der Dankbarkeit

Teruma

   Es gibt ein wichtiges Prinzip im Judentum, eine Quelle der Hoffnung und auch eines der Strukturprinzipien der Tora. Es ist der Grundsatz, dass Gott das Heilmittel schon vor Ausbruch der Krankheit schafft. (Megilla 13b). Schlechtes mag uns widerfahren, aber Gott hat uns bereits das Heilmittel gegeben, wenn wir nur wissen, wo danach zu suchen.

So lesen wir zum Beispiel im Wochenabschnitt Chukat vom Tod Miriams und Aarons und wie Moses gesagt wurde, dass er in der Wüste sterben würde, ohne das Gelobte Land betreten zu dürfen – eine furchteinflößende Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit. Doch zuvor kommt noch die Vorschrift zur roten Kuh, der rituellen Reinigung nach der Begegnung mit dem Tod. Die Tora lehrt uns das Gebot an dieser Stelle, um uns im Voraus zu versichern, dass wir nach einem jeden Trauerfall auch wieder gereinigt werden können. Unsere menschliche Vergänglichkeit hindert uns letztendlich nicht daran, in der Nähe Gottes Unsterblichkeit zu verweilen.

Dies ist der Schlüssel zum Verständnis des Wochenabschnitts Teruma. Auch wenn hier nicht alle Kommentatoren übereinstimmen, liegt doch seine wahre Bedeutung darin, dass er die vorweggenommene Antwort Gottes auf die Sünde des Goldenen Kalbes ist. Streng chronologisch gesehen scheint dieser Abschnitt hier fehl am Platz. Teruma (und ebenso Tezawe) hätte nach Ki Tissa kommen müssen, wo die Geschichte mit dem Goldenen Kalb erzählt wird. Er steht aber hier vor der Sünde, um uns zu sagen, dass die Heilung vor der Krankheit, der Tikun vor dem Kilkul, die Ausbesserung vor dem Bruch, die Wiedergutmachung bereits vor der Sünde existieren.

Um also Teruma und das Phänomen des Mischkan, des Heiligtums und alles, was sich mit ihm verband, zu verstehen, müssen wir zuerst genauer untersuchen, was zur Zeit des Goldenen Kalbes schiefgelaufen ist. Hier ist die Tora sehr subtil und gibt uns in Ki Tissa eine Erzählung, die auf drei ganz unterschiedlichen Ebenen verstanden werden kann.

Die erste und wohl offensichtlichste ist, dass die Sünde mit dem Goldenen Kalb auf ein Versagen Aarons in seiner Rolle als Führungskraft zurückzuführen ist. Das ist der überwältigende Eindruck, den wir beim ersten Lesen von Exodus 32 gewinnen. Wir spüren, dass Aaron dem Geschrei des Volkes hätte widerstehen müssen. Er hätte sie anweisen sollen, auszuharren. Er hätte das Ruder in die Hand nehmen sollen. Doch er hat es nicht getan. Als Moses vom Berg herunterkommt und ihn fragt, was er getan hat, antwortet Aaron:

„Sei nicht zornig, mein Herr. Du weißt ja, wie sehr dieses Volk zum Bösen neigt. Sie sprachen zu mir: ,Mache uns ein Orakel, das uns führt, denn wir wissen nicht, was aus Moses geworden ist, dem Mann, der uns aus Ägypten herausgeführt hat‘. Da sprach ich zu ihnen: ,Wer Goldschmuck hat, soll ihn ablegen.‘ Da gaben sie mir das Gold, und ich warf es ins Feuer, und heraus kam dieses Kalb!“ (Exod. 32:22-24).

Dies ist ein Scheitern in der Verantwortlichkeit. Es ist auch ein spektakulärer Akt der Verleugnung: „Ich warf es ins Feuer, und heraus kam dieses Kalb!“[1] Auf den ersten Blick geht es bei der Geschichte also um Aarons Versagen.

Aber nur auf den ersten. Eine tiefere Lesart legt nahe, dass Moses im Mittelpunkt des Geschehens steht. Es war seine Abwesenheit vom Lager, die die Krise überhaupt erst auslöste. „Das Volk sah, dass Moses säumte, vom Berg herabzukommen. Da versammelten sie sich um Aaron und sprachen zu ihm: ,Mache uns ein Orakel, das uns führt, denn wir wissen nicht, was aus Moses geworden ist, dem Mann, der uns aus Ägypten herausgeführt hat‘“ (Exod. 32:1).

Gott teilte Moses mit, was geschehen war, und sagte: „Geh, steige hinab, denn dein Volk, das du aus Ägypten geführt hast, ist ins Verderben gestürzt“ (Exod. 32:7). Der Unterton ist deutlich. „Geh, steige hinab“ deutet darauf hin, dass Gott Moses zu verstehen gab, dass sein Platz beim Volk am Fuße des Berges war und nicht bei Gott oben. „Dein Volk“ bedeutet, dass Gott Moses gesagt hat, dass das Volk sein Problem sei, nicht das Gottes. Er war im Begriff, sich von ihnen abzuwenden.

Moses bittet Gott eindringlich um Vergebung und macht sich an den Abstieg. Und nun überstürzen sich die Ereignisse. Moses steigt herab, sieht, was geschehen ist, zerbricht die Tafeln, verbrennt das Kalb, mischt dessen Asche mit Wasser und lässt das Volk davon trinken. Dann fordert er Unterstützung an, um die Übeltäter zu bestrafen. Er ist zum Anführer inmitten des Volkes geworden und stellt da, wo kurz zuvor noch Chaos herrschte, die Ordnung wieder her. Mithin war Moses mit seiner unübertroffenen Führungskraft die zentrale Figur. Als er jedoch abwesend war, geriet das Volk in Panik. Das wiederum ist die Kehrseite einer starken Führung.

Doch dann folgt Exodus 33, ein Kapitel, das zu den am schwersten zu verstehenden der Tora gehört. Es beginnt mit der Verlautbarung Gottes, dass Er zwar einen „Engel“ oder „Boten“ schicken würde, um das Volk auf dem Rest seiner Reise zu begleiten, dass Er selbst aber nicht in ihrer Mitte weilen würde, „weil ihr ein halsstarriges Volk seid und Ich euch unterwegs vernichten könnte“. Dies betrübt das Volk zutiefst (Exod. 33:1-6).

In den Versen 12-23 fordert Moses Gott wegen dieses Urteils heraus. Er will, dass Gottes Gegenwart mit dem Volk zieht. Er bittet: „Lass mich Deine Wege erkennen.“ Und: „Bitte, lass mich Deine Herrlichkeit schauen.“ Das ist schwer zu verstehen. Der gesamte Dialog zwischen Moses und Gott, einer der intensivsten in der Tora, dreht sich nicht mehr um Sünde und Vergebung. Fast scheint es eine Untersuchung über das metaphysische Wesen Gottes zu sein. Was ist die Verbindung zum Goldenen Kalb?

Was jedoch zwischen diesen beiden Episoden geschieht, ist das Rätselhafteste von allem. Im Text heißt es, dass Moses „sein Zelt nahm und es außerhalb des Lagers, weit vom Lager entfernt, aufstellte“ (Exod. 33:7). Das war zweifelsohne in diesem Moment genau das Falsche, was er tun konnte: Wenn, wie Gott und der Text es andeuten, das Problem in der Entfernung von Moses als Anführer lag, dann wäre die Priorität für ihn jetzt, in der Mitte des Volkes zu bleiben und sich nicht außerhalb des Lagers zu positionieren. Darüber hinaus hat uns die Tora gerade berichtet, dass Gott mit Seiner Ankündigung, Er würde nicht inmitten Israels weilen, große Bestürzung unter dem Volk ausgelöst hat. Die Entscheidung von Moses, Gleiches zu tun, hätte ihre Verzweiflung sicherlich noch gesteigert. Etwas Tiefgreifendes vollzieht sich in dieser Begebenheit.

Mir scheint, als würde Moses in Exodus 33 die mutigste Tat seines Lebens vollbringen. Er sagt zu Gott: „Nicht meine Entfernung ist das Problem. Es ist Deine Entfernung. Das Volk hat Angst vor Dir. Sie haben Deine überwältigende Macht erfahren. Sie haben gesehen, wie Du das größte Reich, das die Welt je gesehen hat, in die Knie gezwungen hast. Sie haben gesehen, wie Du das Meer in trockenes Land verwandelt, wie Du Nahrung vom Himmel herabbefohlen und Wasser aus einem Felsen hervorgebracht hast. Als sie Deine Stimme am Berg Sinai hörten, kamen sie zu mir und baten mich, ein Mittler zu sein. Sie sagten: ‚Rede du mit uns, so wollen wir hören, nicht aber soll Gott zu uns sprechen, damit wir nicht sterben‘ (Exod. 20:16). Sie machten ein Kalb, nicht weil sie ein Götzenbild anbeten wollten, sondern weil sie ein Symbol Deiner Gegenwart wollten, das nicht furchterregend war. Sie brauchen Deine Nähe. Sie wollen Dich inmitten des Lagers spüren, nicht im Himmel oder auf dem Gipfel des Berges. Und selbst wenn sie Dein Angesicht nicht schauen können – denn das vermag niemand -, so lass sie doch wenigstens ein sichtbares Zeichen Deiner Herrlichkeit sehen.“

Das, so scheint mir, ist die Bitte, welche Moses vorträgt und auf die unsere Parascha wiederum die Antwort gibt: „Sie sollen Mir ein Heiligtum errichten, damit Ich unter ihnen wohne“ (Exod. 25:8). Dies ist das erste Mal in der Tora, dass wir das Verb sch-ch-n, „wohnen“, in Bezug auf Gott hören. Als Substantiv bedeutet es wörtlich: „ein Nachbar“. Schechina, das Schlüsselwort des nachbiblischen Judentums, das Gottes Gegenwart im Gegensatz zu seiner Transzendenz bedeutet, leitet sich daraus ab: die gewagte Vorstellung von Gott als einem „Nachbarn“, einem, der nahe ist.

Im Hinblick auf die Theologie der Tora ist die Idee eines Mischkan, eines Heiligtums oder Tempels, eines physischen „Hauses“ für „Gottes Herrlichkeit“, zutiefst paradox. Gott ist jenseits aller Räumlichkeit. So sagte König Salomo bei der Einweihung des ersten Tempels: „Siehe, der Himmel und der Himmel der Himmel können Dich nicht fassen, wie viel weniger dieses Haus.“ Oder wie Jesaja in den Worten Gottes sprach: „Der Himmel ist mein Thron und die Erde mein Fußschemel. Welches Haus könntest du Mir errichten, wo soll Meine Ruhestätte sein?“ (Jes. 66:1).

Die Antwort ist, wie die jüdischen Mystiker betonten, dass Gott nicht in einem Gebäude wohnt, sondern in den Herzen derer, die es bauen: „Sie sollen Mir ein Heiligtum errichten, damit Ich unter ihnen wohne“ (Exod. 25:8) – „unter ihnen“, nicht „in ihm“. Wie aber geschieht das? Welches Handeln vermag zu bewirken, dass die göttliche Gegenwart im Lager, in der Gemeinde Israels wohnt? Die Antwort liegt in der Bezeichnung unseres Wochenabschnitts: Teruma, ein Geschenk oder eine Spende.

„Der Ewige sprach zu Moses: ,Sag den Israeliten, sie sollen Mir eine Spende bringen. Du sollst die Gabe für Mich von jedem entgegennehmen, dessen Herz ihn zum Geben bewegt.‘“ Dies sollte sich als Wendepunkt in der jüdischen Geschichte erweisen.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Israeliten die Empfänger von Gottes Wundern und Erlösungen gewesen. Er hatte sie aus der Sklaverei in die Freiheit geführt und Wunder für sie vollbracht. Nur eines hatte Gott noch nicht getan, nämlich den Israeliten die Möglichkeit gegeben, Gott etwas zurückzugeben. Allein der Gedanke klingt schon absurd. Wie können wir, Gottes Geschöpfe, Ihm, der uns geschaffen hat, etwas zurückgeben? Alles, was wir haben, gehört Ihm. Wie David bei der Versammlung sagte, die er am Ende seines Lebens einberief, um den Beginn des Tempelbaus zu initiieren:

Reichtum und Ehre kommen von Dir; Du bist der Herrscher über alles… Wer bin ich und was mein Volk, dass wir so großzügig geben sollten? Alles kommt von Dir, und wir haben Dir nur gegeben, was von Deiner Hand kommt (I Chronik 29:12, 14).

Das ist letztlich die Logik des Mischkan. Gottes größtes Geschenk an uns ist die Fähigkeit, Ihm zu geben. Aus jüdischer Sicht ist dieser Gedanke mit Risiken behaftet. Die Vorstellung, dass Gott Geschenke brauchen könnte, grenzt an Heidentum und Ketzerei. Doch im Wissen um das Risiko ließ sich Gott von Moses doch überreden, seine Gegenwart im Lager ruhen zu lassen und den Israeliten zu erlauben, Gott etwas zurückzugeben.

Im Zentrum des Gedankens vom Heiligtum steht das, was Lewis Hyde so gekonnt als Dienst der Dankbarkeit beschrieben hat. In seiner klassischen Studie Die Gabe[2] geht er auf die Rolle des Gebens und Empfangens von Gaben ein, zum Beispiel in alles entscheidenden Übergangsmomenten. Er zitiert die talmudische Geschichte eines Mannes, dessen Tochter im Begriff war zu heiraten, dem aber gesagt wurde, dass sie den Tag nicht überleben würde. Am nächsten Morgen besuchte er seine Tochter und sah, dass sie noch am Leben war. Beiden war entgangen, dass, als sie nach der Hochzeit ihren Hut aufhängte, die Hutnadel eine Schlange durchbohrt hatte, die sie sonst gebissen und getötet hätte. Der Vater wollte wissen, was seine Tochter getan habe, das diesen göttlichen Eingriff verdiente. Sie antwortete: „Gestern kam ein armer Mann an die Tür. Alle waren so sehr mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, dass sie keine Zeit hatten, sich um ihn zu kümmern. Also nahm ich die Portion, die für mich bestimmt war, und gab sie ihm.“ Dieser Akt der Großzügigkeit war die Ursache für ihre wundersame Errettung (Schabbat 156b).

Der Bau des Heiligtums war von grundlegender Bedeutung, weil er den Israeliten die Möglichkeit gab, Gott etwas zurückzugeben. Später erkannte das jüdische Gesetz das Geben als einen integralen Bestandteil der Menschenwürde an, als es die bemerkenswerte Regelung traf, dass selbst eine arme Person, die völlig auf Almosen angewiesen ist, immer noch verpflichtet ist, Almosen zu geben.[3] In einer Situation zu sein, in der man nur empfangen, aber nicht geben kann, bedeutet, dass es einem an Menschenwürde fehlt.

Der Mischkan wurde zum Ort der göttlichen Gegenwart, weil Gott bestimmt hatte, dass er nur aus freiwilligen Gaben gebaut werden soll. Das Geben schafft eine gütige Gesellschaft, indem es jedem von uns ermöglicht, seinen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Deshalb war der Bau des Heiligtums das Heilmittel für die Sünde des Goldenen Kalbes. Ein Volk, das nur empfangen, aber nicht zu geben vermag, bleibt in Abhängigkeit und durch den Mangel an Selbstachtung gefangen. Gott ermöglichte Seinem Volk sich ihm zu nähern und Er sich ihnen, indem Er ihnen die Möglichkeit eröffnete, zu geben.

Deshalb wird eine Gesellschaft, die auf Rechten und nicht auf Pflichten basiert, auf dem, was wir für uns beanspruchen, und nicht auf dem, was wir anderen geben, letztlich immer auf Irrwege geraten. Und so ist das wichtigste Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen können, die Möglichkeit, etwas zurückzugeben. Die Etymologie des Wortes Teruma deutet dies an: Es bedeutet nicht einfach eine Spende, sondern wörtlich etwas „Erhöhtes“. Wenn wir etwas geben, ist es nicht nur ein Beitrag, wir werden dadurch auch erhöht. Wir überleben mit dem, was uns gegeben wird, aber wir erlangen Würde durch das, was wir geben.

[1] In Deuteronomium 9:20 offenbart Moses eine Tatsache, die uns bis dahin vorenthalten wurde: „Auch über Aaron war Gott sehr rezürnt und drohte, ihn zu vertilgen; und ich betete damals auch für Aaron.“

[2] Lewis Hyde, Die Gabe: Wie Kreativität die Welt bereichert (S. Fischer Verlag, 2008). 

[3] Maimonides, Hilchot Schekalim 1:1, Matenot Ani’im 7:5.

  1. Welchem Bedürfnis entsprach der Mischkan, und wie können wir heute dieses Bedürfnis erfüllen?
  2. Warum glauben Sie, dass der Akt des Gebens entscheidend für die Erlangung der Menschenwürde ist?
  3. Wie können wir heute „Gott etwas zurückgeben“, ähnlich wie bei den freiwilligen Spenden für den Mischkan in der Parascha dieser Woche?

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