Dez ‍‍2020 - תשף / תשפא

Vergeben und neu anfangen

Weil Jehuda umkehrt, kann Josef seine Brüder wieder annehmen

Endlich offenbart Josef den Brüdern seine wahre Identität und vergibt ihnen. Leicht fällt ihm das nicht. Das ist auch kein Wunder, denn seine Brüder haben ihn in der Vergangenheit äußerst schlecht behandelt, wollten ihn töten und verkauften ihn schließlich in die Sklaverei. Erst nachdem er bereits mit einem hinterlistigen Plan begonnen hatte, sich für das zu rächen, was sie ihm angetan hatten, lenkt er ein.

Josef erkennt, dass sich seine Brüder gewandelt haben. Sie sind miteinander und zu ihrem Vater in Liebe verbunden und bereit, sich gegenseitig zu helfen, füreinander einzustehen.

VERGEBUNG In einer chassidischen Geschichte erläutert Rabbi David von Lelow diese Veränderung der Brüder als Schlüssel zur Vergebung: »Erlösung kann zu einem Menschen nicht kommen, ehe er die Schäden seiner Seele sieht und sie zurechtzubringen unternimmt. … Wer … der Erkenntnis seiner Mängel keinen Zutritt gewährt, zu dem hat die Erlösung keinen Zutritt. Wir werden in dem Maße erlösbar, in dem wir uns selbst sichtbar werden. Als die Söhne Jakows zu Josef sprachen: ›Rechtschaffen sind wir‹, antwortete er ihnen: ›Das ist’s, was ich zu euch geredet habe: Kundschafter seid ihr.‹ Danach aber, als sie mit Herz und Mund die Wahrheit bekannten und zueinander sprachen: ›Wohl schuldig sind wir an unserem Bruder‹, begann ihre Erlösung aufzuglimmen, vom Erbarmen ergriffen wandte sich Josef zur Seite und weinte« (Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949).

Allen voran wandelte sich Jehuda. Seine eindrückliche Rede, die wir ganz zu Anfang unserer Parascha lesen, lässt Josef umstimmen. »Da trat Jehuda zu ihm hin und sprach: Oh, mein Herr, lass deinen Diener doch ein Wort in die Ohren meines Herrn sprechen und deinen Zorn nicht wider deinen Diener rege werden; denn du bist dem Pharao gleich. Mein Herr hat seine Diener gefragt: ›Habt ihr einen Vater oder einen Bruder?‹ Wir sagten meinem Herrn: ›Wir haben einen alten Vater und ein junges Kind des Alters; sein Bruder ist tot, er ist allein von seiner Mutter übrig geblieben, und sein Vater liebt ihn‹« (1. Buch Mose 44, 18–20).

Weiter sagt Jehuda zu Josef: »Komme ich nun heim zu deinem Diener, meinem Vater, und der Junge ist nicht mit uns, und des einen Seele ist an des anderen Seele geknüpft, so wird es sein, wenn er sieht, dass der Junge nicht da ist, dass er stirbt, und es werden dann deine Diener das greise Haupt deines Dieners, unseres Vaters, in Kummer zu Grabe bringen. Denn dein Diener hat sich bei seinem Vater für den Jungen verbürgt … Lass doch deinen Diener anstelle des Jungen zum Sklaven meinem Herrn verbleiben und den Jungen mit seinen Brüdern hinaufziehen« (44, 29–33).

ANSPRACHE Jehudas Wandlung zeigt sich an den beiden ersten Wörtern unseres Wochenabschnitts, nachdem er auch benannt ist: »Wajigasch Jehuda«, also »Da trat Jehuda (zu ihm)«.

Wajigasch Jehuda kann aber auch anders übersetzt werden: »Dann kam Jehuda nahe.« Wem? Sich selbst, denn »nur als Jehuda vollständig er selbst war, war er in der Lage, so zu sprechen, wie er es tat« (Itture Tora 44,18).

Er steht endlich zu sich selbst, ist quasi ein neuer Jehuda, und das zeigt sich in der Art seiner Ansprache.

Die Kommentatorin Nechama Leibowitz (1905–1997) hat aufgezählt, dass Jehuda in seiner Rede 14-mal das Wort »Vater«, 13-mal »Sklave« und sechsmal das Wort »Bruder« verwendet – innerhalb weniger Verse!

Jehuda ist verzweifelt, er fleht Josef an und setzt sich für seinen Bruder Benjamin ein. Das zeigt sehr schön, wie sich Jehuda seit Josefs Weggang weiterentwickelt hat. Jehuda mag vorher bereits Josefs Leben gerettet haben, aber er war trotzdem kein Unschuldslamm und am Komplott gegen seinen Bruder beteiligt. Er wollte, dass Josef möglichst weit weg ist, und täuschte seinen Vater, indem er ihm Josefs Gewand mit Blut zeigte, um zu beweisen, dass Josef tot ist (Kapitel 37).

Doch die Geschichte mit seiner Schwiegertochter Tamar öffnete ihm die Augen (38,26) und ließ ihn allmählich zu einer empathischen und vorausschauenden Führungsfigur unter den Brüdern werden.

Später wird Jehuda symbolisch für das gesamte jüdische Volk stehen. Der Stamm, der aus ihm hervorgeht, wird der letzte sein, von dem wir alle abstammen. Darüber hinaus wird König David ein direkter Nachkomme von ihm (Buch Ruth 4, 12–22).

Jehuda hat schwere Fehler begangen, er steht jetzt aber dazu und hat sie schon zuvor bei Tamar öffentlich zugegeben. Jetzt läuft er nicht mehr vor der Herausforderung weg, lässt Benjamin nicht im Stich, wie er vorher Josef im Stich gelassen hatte, sondern bietet sein Leben für das seines Bruders an. Das zeigt Josef, dass Jehuda sowohl seinen jüngeren Bruder wie auch seinen Vater Jakow sehr liebt – mehr als sein eigenes Leben.

TRÄNEN Diese Umkehr von Jehuda und den anderen ermöglicht es Josef, sie (wieder) als seine Brüder anzunehmen. Josef kann schließlich nicht länger an sich halten und beginnt zu weinen. Er fordert sie auf, näher zu ihm zu kommen, und spricht: »Ich bin euer Bruder Josef … Und nun betrübt euch nicht, und lasst in euren Augen nichts Bekümmerndes sein, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn zur Lebenserhaltung hat G’tt mich vor euch geschickt. … Und nun, nicht ihr habt mich hierher gesendet, sondern G’tt. Er hat mich dem Pharao zum Vater gesetzt, seinem ganzen Hause zum Herrn und im ganzen Land Ägypten zum Herrscher« (45, 3–8).

Josefs Tränen kommen von Herzen. Er zeigt Größe und Barmherzigkeit. Er ist glücklich und bietet sofort seine Hilfe an. Trotz der Misshandlungen, die er in der Vergangenheit durch seine Brüder erleiden musste, vergibt er ihnen.

Die schlechte Erfahrung hat ihn nicht hart gemacht, ganz im Gegenteil. Er macht interessanterweise seine Brüder nicht für ihre Taten verantwortlich. Für Josef war es G’ttes Plan und Fügung, dass er nach Ägypten kam, um jetzt für seine Familie sorgen zu können.

Aus einem schweren Schicksal macht Josef einen Segen. Er schaut nicht zurück, sondern nach vorn. Mit Erlaubnis des Pharaos bringt er seine Brüder und ihre Familien – und natürlich den Vater Jakow – in das ägyptische Land Goschen, wo sie sich niederlassen, um der Hungersnot im Land Kanaan zu entgehen. Jakow ist überglücklich, seinen Sohn Josef, den er für tot hielt, endlich wiederzusehen.

Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 23.12.2020