Dez ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Die Geburt der Vergebung

 Es gibt Momente, die die Welt verändern: 1439, als Johannes Gutenberg den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand (obschon die Chinesen ihn bereits vier Jahrhunderte zuvor entwickelt hatten); 1821, als Faraday den ersten Elektromotor baute; oder 1990, als Tim Berners-Lee das World Wide Web ins Leben rief. In unserem Wochenabschnitt gibt es einen solchen Moment, und auf seine Art war er vielleicht nicht weniger umwälzend als die oben angeführten. Es geschah, als Josef sich seinen Brüdern endlich zu erkennen gab. Während sie schwiegen, vom Schock gelähmt, sprach er diese Worte:

„Ich bin euer Bruder Josef, den ihr nach Ägypten verkauft habt! Und nun seid nicht betrübt und ärgert euch nicht, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn Gott hat mich vor euch hergeschickt, um Leben zu retten … nicht ihr habt mich hierher geschickt, sondern Gott“ (Gen. 45:4-8).

Dies ist der erste überlieferte Moment in der Geschichte, in dem ein Mensch einem anderen vergibt.

Dem Midrasch zufolge hatte Gott schon vorher vergeben,[1] aber nicht im wörtlichen Sinn des Textes. In den Erzählungen von der Sintflut, dem Turmbau zu Babel und Sodom fehlt unübersehbar das Element der Vergebung. Als Abraham sein kühnes Gebet für die Menschen in Sodom sprach, bat er Gott nicht um Vergebung. Bei seiner Argumentation ging es ihm um Gerechtigkeit, nicht um Vergebung. Vielleicht gab es dort unschuldige Menschen, fünfzig oder sogar nur zehn. Es wäre nicht recht, wenn sie sterben müssten. Ihr Verdienst sollte daher die Verdienstlosen retten, sagt Abraham. Das ist etwas vollkommen anderes, als Gott um Vergebung zu bitten.

Josef verzieh. Ein Novum in der Geschichte. Doch die Tora deutet an, dass die Brüder die Bedeutung seiner Worte nicht vollständig erkannt hatten. Schließlich hatte er nicht ausdrücklich das Wort „vergeben“ gebraucht. Er sagte ihnen, sie sollten sich nicht grämen. Er sagte: „Nicht ihr wart es, sondern Gott.“ Er sagte ihnen, dass ihre Tat zu einem positiven Ergebnis geführt habe. Aber all das war theoretisch damit vereinbar, dass er sie für schuldig hielt und sie eine Strafe verdienten. Deshalb berichtet die Tora von einem zweiten Ereignis, Jahre später, nachdem Jakob gestorben war. Die Brüder suchten ein Treffen mit Josef, weil sie befürchteten, dass er sich nun rächen würde. Sie fabrizierten eine Geschichte:

Sie schickten eine Nachricht an Josef und sagten: „Dein Vater hat vor seinem Tod diese Anweisungen hinterlassen: ,Das sollst du Josef sagen: Ich bitte dich, deinen Brüdern die Sünden und das Unrecht zu vergeben, das sie begangen haben, weil sie dich so schlecht behandelt haben.‘ Und nun vergib bitte den Dienern des Gottes deines Vaters ihre Sünden.“ Als ihm die Nachricht übermittelt wurde, weinte Josef (Gen. 50:16-18).

Es war eine Notlüge, aber Josef verstand, warum die Brüder sie sagten. Sie gebrauchten das Wort „vergeben“ – das erste Mal, da es ausdrücklich in der Tora auftaucht -, weil sie sich immer noch nicht sicher waren, was Josef gemeint hat. Verzeiht man wirklich denen, die einen in die Sklaverei verkauft haben? Josef weinte, weil seine Brüder nicht vollständig verstanden hatten, dass er ihnen schon vor langem vergeben hatte. Er hegt keinen anhaltenden Groll, keinen Zorn, kein Verlangen nach Rache. Er hatte seine Emotionen bezwungen und sein Verständnis der Ereignisse neu geordnet.

Vergebung kommt nicht in jeder Kultur vor. Weder wohnt ihr eine menschliche Allgemeingültigkeit inne noch ein biologischer Imperativ. Das wissen wir aus einer faszinierenden Studie des amerikanischen Klassizisten David Konstan, Before Forgiveness: The Origins of a Moral Idea (2010).[2] Darin vertritt er die Auffassung, dass es in der Literatur der alten Griechen kein Konzept der Vergebung gab. Es gab etwas anderes, das oft mit Vergebung verwechselt wurde: die Beschwichtigung des Zorns.

Wenn jemand einem anderen Schaden zufügt, ist das Opfer wütend und sinnt auf Rache. Das kann für den Täter natürlich gefährlich sein, und er mag versuchen, das Opfer zu beschwichtigen, um schließlich weiterzuziehen. Er kann Ausreden erfinden: Ich bin es nicht gewesen, es war jemand anderes. Oder: Ich bin es zwar gewesen, aber ich konnte nicht anders. Oder: Ich war es wohl, aber es war doch ein kleines Unrecht, und ich habe dir in der Vergangenheit viel Gutes getan, unterm Strich solltest du es also vergessen.

Alternativ oder in Verbindung mit diesen anderen Strategien kann der Täter bitten, flehen und ein Ritual der Erniedrigung oder Demütigung vollziehen, wie um dem Opfer zu sagen: „Ich stelle keine wirkliche Bedrohung dar.“ Das griechische Wort Sugnome, das manchmal mit Vergebung übersetzt wird, bedeutet in Wirklichkeit, so Konstan, Entschuldigung oder Absolution. Es bedeutet nicht, dass ich dir verzeihe, was du mir angetan hast, sondern dass ich verstehe, warum du es getan hast – du konntest nicht wirklich etwas dafür, du hattest keinen Einfluss auf die Umstände. Oder aber, ich brauche mich nicht an dir zu rächen, weil du mir jetzt durch deine Ehrerbietung gezeigt hast, dass du mich angemessen respektierst. Meine Würde ist wiederhergestellt.

In der Tora gibt es ein klassisches Beispiel für die Strategie der Beschwichtigung: Jakobs Verhaltensweise gegenüber Esau, als sie sich nach einer langen Trennung wiederbegegnen. Jakob war aus dem elterlichen Hause geflohen, nachdem Rebekka mitbekommen hatte, dass Esau vorhatte, ihn nach Isaaks Tod zu töten (Gen. 27:41). Vor dem Treffen schickt Jakob ihm ein großes Viehgeschenk mit den Worten: „Ich will ihn mit dem Geschenk besänftigen, das vor mir hergeht, und danach werde ich sein Gesicht sehen; vielleicht wird er mich annehmen“ (Gen. 32:21). Als sich die Brüder begegnen, verneigt sich Jakob sieben Mal vor Esau, ein klassisches Ritual der Erniedrigung. Die Brüder treffen sich, küssen sich, umarmen sich und gehen wieder getrennter Wege, nicht weil Esau Jakob verziehen hat, sondern weil er es entweder vergessen hat oder beschwichtigt wurde.

Beschwichtigung als eine Form der Konfliktbewältigung gibt es auch unter Tieren. Der Primatenforscher Frans de Waal hat friedensstiftende Rituale bei Schimpansen, Bonobos und Berggorillas beschrieben.[3] Bei diesen sozialen Tieren wird zwar um Vorherrschaft gekämpft, aber es muss auch Wege geben, die Harmonie in der Gruppe wiederherzustellen, so sie überleben soll. Es gibt also Formen der Beschwichtigung und der Friedensstiftung, die unabhängig von jeder Moralvorstellung und dem menschlichen Bewusstsein existieren.

Anders verhält es sich mit der Vergebung. Konstan argumentiert, dass sie zum ersten Mal in der hebräischen Bibel auftaucht, und er zitiert den Fall Josefs. Worüber er uns jedoch nicht aufklärt, ist, weshalb Joseph verzeiht und warum die Idee und die Institution der Vergebung speziell im Judentum entstanden sind.

Die Antwort lautet, dass mit dem Judentum eine neue Form der Moral geboren wurde. Das Judentum ist (in erster Linie) eine Ethik der Schuld, im Gegensatz zu den meisten anderen Systemen, die eine Ethik der Scham sind. Einer der grundlegenden Unterschiede besteht darin, dass sich Scham mit der Person verbindet, Schuld hingegen ist auf die Tat bezogen. In „Schamkulturen“ ist eine Person, die etwas Falsches tut, sozusagen befleckt, gezeichnet, entehrt. In „Schuldkulturen“ hingegen ist das Unrechte nicht der Täter, sondern die Tat, nicht der Sünder, sondern die Sünde. Die Person behält ihren grundlegenden Wert („Die Seele, die du mir gegeben hast, ist rein“, wie wir in unseren Gebeten sagen). Es ist die Tat, die irgendwie korrigiert werden muss. Deshalb gibt es in „Schuldkulturen“ Prozesse der Reue, Sühne und Vergebung.

Hierin liegt der Schlüssel zum Verständnis für Josefs Verhalten von dem Moment an, als die Brüder zum ersten Mal in Ägypten vor ihm erscheinen, bis zu dem Punkt, an dem er in der Parascha dieser Woche seine Identität offenbart und seinen Brüdern verzeiht. Es ist ein Lehrbuchbeispiel, das erste in der Literatur, in dem die Brüder einem Kurs der Sühne unterzogen werden. Josef lehrt sie, und die Tora lehrt uns, was es heißt, Vergebung zu verdienen.

Rufen wir uns das Geschehen ins Gedächtnis. Zuerst beschuldigt er die Brüder eines Verbrechens, das sie nicht begangen haben. Unter dem Vorwurf der Spionage lässt er sie drei Tage lang gefangen halten. Dann hält er Schimon als Geisel fest und sagt ihnen, sie sollen nun nach Hause zurückkehren und ihren jüngsten Bruder Benjamin mitbringen. Mit anderen Worten, er zwingt sie dazu, das frühere Geschehen zu wiederholen, als sie zu ihrem Vater zurückkehrten und einer der Brüder, Josef, fehlte. Beachten wir, was dann geschieht:

Sie sprachen zueinander: „Sicherlich sind wir ob unseres Bruders der Strafe schuldig [aschemim]. Wir haben gesehen, wie verzweifelt er war, als er uns um sein Leben anflehte, aber wir wollten nicht auf ihn hören; deshalb ist diese Not über uns gekommen“ … Sie wussten nicht, dass Josef sie verstehen konnte, da er einen Dolmetscher benutzte (Gen. 42:21-23).

Dies ist die erste Stufe der Teschuwa, des Wegs der Umkehr und Buße vor Gott: Die Brüder gestehen ein, dass sie Unrecht begangen haben.

Nach der zweiten Begegnung veranlasst Josef, dass sein Silberbecher in Benjamins Sack gesteckt wird. Dieser belastende Beweis wird gefunden und die Brüder werden zurückgebracht. Man sagt ihnen, dass Benjamin als Sklave bleiben muss.

„Was können wir meinem Herrn sagen?“ antwortet Juda. „Was können wir sagen? Wie können wir unsere Unschuld beweisen? Gott hat die Schuld deiner Knechte aufgedeckt. Wir sind jetzt die Sklaven meines Herrn – wir selbst und der, bei dem der Becher gefunden wurde“ (Gen. 44:16).

Dies ist die zweite Stufe der Teschuwa. Sie legen ein Bekenntnis ab. Mehr noch als das, sie geben die gemeinsame Verantwortung zu. Das ist sehr wichtig. Als die Brüder Josef in die Sklaverei verkauften, war es zwar Juda, der das Verbrechen vorschlug (Gen. 37:26-27), sie alle aber (außer Ruben) waren mitschuldig.

Auf dem Höhepunkt der Geschichte sagt schließlich Juda selbst: „So lasse mich nun anstelle des Jungen als deinen Sklaven bleiben. Lass den Jungen mit seinen Brüdern zurückkehren!“ (Gen. 44:33). Juda, der Josef als Sklaven verkauft hatte, ist nun bereit, selbst Sklave zu werden, damit sein Bruder Benjamin frei gehen kann. Das ist es, was die Weisen und Maimonides als vollkommene Reue definieren, nämlich wenn sich die Umstände wiederholen und sich einem die Gelegenheit bietet, das gleiche Verbrechen noch einmal zu begehen, man es aber unterlässt, weil man sich geändert hat.

Jetzt kann Josef vergeben, weil seine Brüder, angeführt von Juda, alle drei Stufen der Teschuwa durchlaufen haben: [1] Eingeständnis der Schuld, [2] Bekenntnis und [3] Verhaltensänderung.

Vergebung gibt es nur in einer Kultur, in der es Umkehr, Teschuwa, gibt. Diese setzt voraus, dass wir freie und moralisch verantwortliche Akteure sind, die zu einer Änderung fähig sind, insbesondere der Veränderung, die eintritt, wenn wir erkennen, dass etwas, das wir getan haben, falsch ist, wir dafür verantwortlich sind und es nie wieder tun dürfen. Die Möglichkeit eines solchen moralischen Wandels gab es im alten Griechenland oder einer anderen heidnischen Kultur einfach nicht. Griechenland war eine Kultur der Scham und der Ehre, die sich auf die beiden Konzepte von Charakter und Schicksal stützte.[4] Das Judentum ist hingegen eine Kultur der Buße und Vergebung, deren zentrale Begriffe der Wille und die freie Entscheidung sind. Der Gedanke der Vergebung wurde dann vom Christentum übernommen, womit die jüdisch-christliche Ethik zum wichtigsten Träger der Vergebung in der Geschichte wurde.

Buße und Vergebung sind nicht nur zwei Ideen unter vielen. Sie haben die menschliche Situation verändert. Zum ersten Mal eröffnete die Teschuwa die Möglichkeit, dass wir nicht dazu verdammt sind, die Vergangenheit endlos zu wiederholen: Wenn ich Buße tue, zeige ich, dass ich mich ändern kann. Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt. Ich kann sie anders gestalten, als sie hätte sein können. Vergebung befreit uns von der Vergangenheit. Sie durchbricht die Unumkehrbarkeit von Reaktion und Rache, lässt das Geschehene ungeschehen werden.[5]

Die Menschheit veränderte sich an dem Tag, an dem Josef seinen Brüdern vergab. Wenn wir vergeben und es wert sind, dass man uns vergibt, sind wir nicht länger Gefangene unserer Vergangenheit. Das moralische Leben ist eines, das Raum für Vergebung schafft.        

[1] Es gibt Stellen im Midrasch, die besagen, dass Gott die Strafen für Adam, Eva und Abel teilweise zurücknahm oder zumindest linderte. Ismael soll ein Büßer geworden sein, und im Midrasch gibt es Interpretationen, die Ketura, die Frau, die Abraham nach dem Tod von Sara heiratete, mit Hagar gleichsetzen, was bedeutet, dass Abraham und Isaak mit Saras Magd und ihrem Sohn wiedervereint und versöhnt wurden.

[2] David Konstan, Before Forgiveness: The Origins of a Moral Idea (Cambridge, Cambridge University Press, 2010).

[3] Frans de Waal, Peacemaking Among Primates (Cambridge, Massachusetts, Harvard University Press, 1989).

[4] Siehe Bernard Williams, Shame and Necessity (Berkeley, University of California Press, 1993).

[5] Hannah Arendt argumentiert so in The Human Condition (Chicago, University of Chicago Press, 1958), S. 241.

  1. Sind alle Menschen fähig, sich zu ändern?
  2. Sollte allen Menschen vergeben werden?
  3. Wer ist der Hauptnutznießer des Vergebungsakts?

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier