Okt ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Wie vollkommen waren unsere Stammväter und -mütter

In einer außergewöhnlichen Reihe von Beobachtungen zur Parascha dieser Woche übt Ramban (Nachmanides, 1194–1270) scharfe Kritik an Abraham und Sara. Die erste bezieht sich auf Abrahams Entscheidung, das Land Kanaan zu verlassen und nach Ägypten zu gehen, weil „im Lande eine Hungersnot herrschte“ (Gen. 12:10). Dazu sagt Ramban:

Wisse, dass Abraham, unser Vater, unabsichtlich eine große Sünde begangen hat, indem er seine rechtschaffene Frau aus Angst um sein Leben zu einem Stolperstein der Sünde brachte. Er hätte darauf vertrauen sollen, dass Gott ihn, seine Frau und seine ganze Habe retten würde, denn Gott hat sicherlich die Macht zu helfen und zu retten. Dass er wegen der Hungersnot das Land verließ, das ihm von Anfang an verheißen worden war, war auch ein Fehltritt, denn in der Hungersnot würde Gott ihn doch vom Tod erlösen. Wegen dieser Tat wurde für seine Kinder die Verbannung in Ägypten unter der Gewalt Pharaos angeordnet.[1]

Ramban zufolge hätte Abraham in Kanaan bleiben und auf Gott vertrauen sollen, dass er ihn trotz der Hungersnot am Leben erhalten würde. Es war nicht nur falsch von Abraham, wegzugehen, sondern er brachte auch Sara in moralische Gefahr, weil sie durch die Reise nach Ägypten gezwungen war, die Lüge zu erzählen, sie sei Abrahams Schwester und nicht seine Frau, und folglich wurde sie in den Harem des Pharaos gebracht, wo sie gezwungen worden sein könnte, einen Ehebruch zu begehen.

Dies ist ein sehr hartes Urteil, das durch Rambans weitere Behauptung, dass Abrahams Kinder Jahrhunderte später wegen dieses mangelnden Glaubens zum Exil in Ägypten verurteilt wurden, noch verschärft wird.

Im weiteren Verlauf der Parascha kritisiert Ramban auch Saras Handeln. In ihrer Verzweiflung darüber, dass sie wohl nie ein eigenes Kind haben würde, bittet sie Abraham, sich zu ihrer Magd Hagar zu legen, in der Hoffnung, dass diese ihm ein Kind gebärt. Abraham tut dies, und Hagar wird schwanger. Im Text heißt es dann, dass Hagar „begann, ihre Herrin zu verachten“ (Gen. 16:4). Sara beschwert sich bei Abraham und „setzt Hagar zu“ (Gen. 16:6), die ihr daraufhin in die Wüste entläuft. Hierzu schreibt Ramban:

Unsere Mutter [Sara] hat sich durch diese Drangsal vergriffen, ebenso wie Abraham, indem er ihr dies erlaubte. So hörte Gott ihren [Hagars] Kummer und gab ihr einen Sohn, der ein Wildesel von einem Mann sein würde, um die Nachkommen Abrahams und Saras durch allerlei Bedrängnis zu plagen (Ramban, Kommentar zu Genesis 16:6).

Hier ist das moralische Urteil leichter nachzuvollziehen. Saras Verhalten scheint launisch und hart zu sein. In der Tora selbst heißt es, dass Sara Hagar „zugesetzt“ hat. Dennoch scheint Ramban zu sagen, dass es diese Begebenheit in der Vergangenheit war, die das jüdische Leiden unter den Muslimen (Nachkommen Ismaels) in einem viel späteren Zeitalter erklärt.

Es ist nicht schwer, Abraham und Sara in diesen Vorfällen zu verteidigen, und andere Kommentatoren tun dies auch. Abraham konnte nicht wissen, dass Gott ein Wunder tun und ihn und Sara vor der Hungersnot bewahren würde, wenn sie in Kanaan geblieben wären. Er konnte auch nicht wissen, dass die Ägypter sein Leben gefährden und Sara in ein moralisches Dilemma bringen würden. Keiner von ihnen war zuvor in Ägypten gewesen. Sie wussten nicht im Voraus, was sie erwartete.

Was Sara und Hagar betrifft, so schickte ein Engel Hagar zwar zurück in den Haushalt, aber später, als Ismael und Isaak geboren wurden, verbannte Sara Hagar erneut. Obwohl Abraham dieses Mal protestierte, befahl Gott ihm, zu tun, was Sara sagte. Beide sind also leicht gegen die Kritik von Ramban zu verteidigen. Warum hat er sie dann vorgebracht?

Ramban hat diese Bemerkungen gewiss nicht leichtfertig gemacht. Ich glaube, er war von einer ganz anderen Überlegung getrieben, nämlich von der Gerechtigkeit der Historie. Warum mussten die Israeliten Exil und Sklaverei in Ägypten erleiden? Warum wurden die Juden zu Rambans Lebtagen von radikalen Islamisten, den Almohaden, angegriffen, die der blühenden Ära, die sie in Spanien unter der toleranteren Herrschaft der Umayyaden genossen hatten, ein jähes Ende bereiteten?

Ramban glaubte, wie wir in unseren Gebeten sagen, dass „wir wegen unserer Sünden aus unserem Land vertrieben wurden“. Welche Sünden aber hatten die Israeliten in den Tagen Jakobs begangen, dass sie  ein Exil verdienten? Er glaubte auch, dass „die Taten der Väter ein Vorzeichen für die Kinder sind“ (Kommentar zu Gen. 12:6) und dass das, was im Leben der Patriarchen geschah, vorausahnen ließ, was mit ihren Nachkommen geschehen würde. Was hatten sie Ismael angetan, um die Verachtung seiner muslimischen Nachkommen auf sich zu ziehen? Eine sorgfältige Auseinandersetzung mit dem biblischen Text wies Ramban in Richtung Saras Verhalten gegenüber Hagar.

Rambans Kommentare ergeben also im Rahmen seiner Lesart der jüdischen Geschichte ihren Sinn. Aber auch dies nicht ohne Schwierigkeiten. In der Tora heißt es ausdrücklich, dass Gott wohl „die Kinder und ihre Kinder für die Sünde der Eltern bis in die dritte und vierte Generation“ bestrafen mag (Exod. 34:7), nicht aber darüber hinaus. Die Rabbiner beschränkten dies auf Fälle, in denen „die Kinder die Sünden der Eltern fortsetzen“ (Raschi zu Exod. 34:7, Jeremia 31:28 und Ezechiel 18:2). Jeremia und Hesekiel Ezechiel sagten beide, dass niemand mehr sagen würde: „Die Eltern haben saure Trauben gegessen, und die Zähne ihrer Kinder sind stumpf.“ Die Übertragung von Sünden über die Generationen hinweg ist aus jüdischer und ethischer Sicht problematisch.

Was an Rambans Herangehensweise an Abraham und Sara höchst interessant ist, ist seine Bereitschaft, auf Fehler in ihrem Verhalten hinzuweisen. Dies beantwortet eine grundlegende Frage, was unser Verständnis hinsichtlich der Erzählungen der Genesis betrifft. Wie sollen wir unsere biblischen Vorfahren beurteilen, wenn ihr Verhalten problematisch erscheint? Jakob, der den Segen von Esau in Verkleidung erschlich, oder die Brutalität von Simon und Levi bei der Rettung ihrer Schwester Dina?

Die Geschichten der Genesis sind oft moralisch verwirrend. Nur selten fällt die Tora ein ausdrückliches, eindeutiges Urteil über das Verhalten der Menschen. Das bedeutet, dass es manchmal schwierig ist, diese Erzählungen als Leitfaden für richtiges Verhalten zu vermitteln. Dies führte dazu, dass die Rabbiner sie im Midrasch systematisch uminterpretierten, so dass Schwarz und Weiß an die Stelle von subtilen Grautönen traten.

So wurden beispielsweise die Worte „Sara sah den Sohn der Ägypterin Hagar… spotten“ (Gen. 21:9) von den Weisen so verstanden, dass der dreizehnjährige Ismael sich des Götzendienstes, des unerlaubten Geschlechtsverkehrs oder des Mordes schuldig gemacht hatte. Dies ist eindeutig nicht der klare Sinn des Verses. Es ist vielmehr eine Interpretation, die Saras Beharren darauf rechtfertigen würde, dass Ismael weggeschickt werden müsse.

Rabbi Zvi Hirsch Chajes erklärt, dass die Tendenz des Midrasch, die Helden vollkommen gut und die Bösewichte vollkommen schlecht erscheinen zu lassen, pädagogische Gründe hat. Das Wort Tora bedeutet „Lehre“ oder „Unterweisung“, und es ist nicht leicht, Ethik durch Geschichten zu lehren, deren Figuren voller Komplexität und Zweideutigkeit sind.

Dennoch malt die Tora ihre Figuren in Grautönen. Warum ist das so? Er nennt drei Gründe.

Der erste ist, dass das moralische Leben nicht etwas ist, das wir auf einmal in seiner ganzen Tiefe erfassen. Als Kinder hören wir Geschichten von Helden und Schurken. Wir lernen grundlegende Unterscheidungen: richtig und falsch, gut und böse, erlaubt und verboten. Je älter wir jedoch werden, desto mehr erkennen wir, wie schwierig manche Entscheidungen sind. Soll ich nach Ägypten gehen? Bleibe ich in Kanaan? Habe ich Mitgefühl mit dem Kind meines Dieners, auch auf die Gefahr hin, dass es einen schlechten Einfluss auf mein Kind hat, das von Gott für eine heilige Mission auserwählt wurde? Wer glaubt, dass solche Entscheidungen einfach sind, ist moralisch noch nicht reif. Der beste Weg, Ethik zu lehren, ist also, dies anhand von Geschichten zu tun, die auf verschiedenen Ebenen und zu verschiedenen Zeiten in unserem Leben gelesen werden können.

Zweitens: Nicht nur sind Entscheidungen schwierig, auch die Menschen sind komplex. In der Tora wird niemand als perfekt dargestellt. Noah, die einzige Person im Tanach, die als rechtschaffen bezeichnet wird, endet betrunken und zerwühlt. Moses, Aaron und Miriam werden für ihre Sünden bestraft. Das gilt auch für König David. Salomon, der weiseste aller Weisen beendet sein Leben als ein zutiefst kompromittierter Führer. Viele der Propheten erlebten dunkle Nächte der Verzweiflung. „Es gibt keinen, der so gerecht auf Erden ist“, sagt Kohelet, „als dass er nur Gutes tut und niemals sündigt.“ Keine religiöse Literatur war je weiter entfernt von Hagiographie, Idealisierung und Heldenverehrung.

Auf der anderen Seite finden auch die Nicht-Helden rettende Gnade. Esau ist ein liebevoller Sohn, und als er seinen Bruder Jakob nach langer Entfremdung wiedertrifft, küssen sie sich, umarmen sich und gehen getrennte Wege. Levi, der von Jakob wegen seiner Gewalttätigkeit verurteilt wurde, zählt Moses, Aaron und Miriam zu seinen Enkelkindern. Sogar Pharao, der Mann, der die Israeliten versklavte, hatte eine moralische Heldin als Tochter. Die Nachkommen von Korach sangen Psalmen im Tempel Salomons. Auch das ist moralische Reife, Lichtjahre entfernt von dem Dualismus vieler Religionen, einschließlich einiger jüdischer Sekten (wie der Qumran-Sekte der Schriftrollen vom Toten Meer), der die Menschheit in Kinder des Lichts und Kinder der Finsternis unterteilt.

Schließlich und vor allem macht die Tora mehr als jede andere religiöse Literatur einen absoluten Unterschied zwischen Erde und Himmel, Gott und den Menschen. Weil Gott Gott ist, gibt es für Menschen Raum für das Menschsein. Im Judentum wird die Linie, die zwischen beiden verläuft, niemals verwischt. Wie selten das ist, hat der Philosoph Walter Kaufmann herausgestellt:

In Indien wurden Jina und Buddha, die im sechsten Jahrhundert vor der gewöhnlichen Zeitrechnung zwei neue Religionen begründeten, später von ihren Anhängern verehrt. In China wurden Konfuzius und Laotse vergöttert. Für Nichtchristen scheint Jesus ein paralleler Fall zu sein. In Griechenland glaubte man, dass die Helden der Vergangenheit von einem Gott gezeugt oder von einer Göttin geboren worden sind, und die Grenze zwischen Göttern und Menschen war fließend. In Ägypten wurde der Pharao als göttlich angesehen.[2]

In Israel, so Kaufmann, „wurde nie ein Mensch angebetet oder ihm auch nur ein halbgöttlicher Status zuerkannt. Dies ist eine der außergewöhnlichsten Tatsachen über die Religion des Alten Testaments“.[3]  Es gab nie einen Kult um Moses oder eine andere biblische Figur. Deshalb kennt auch „niemand die Grabstätte des Moses bis auf den heutigen Tag“ (Deut. 34:6), so dass sie nie zu einem Wallfahrtsort werden konnte.

Keine Religion hat ein höheres Menschenbild als das Buch, das uns sagt, dass wir alle nach dem Ebenbilde und Gleichnis Gottes geschaffen sind. Doch kein Glaube war ehrlicher in Bezug auf die Schwächen selbst seiner größten Gestalten. Gott verlangt nicht von uns, perfekt zu sein. Er fordert uns stattdessen auf, auf der Suche nach dem Richtigen und Guten Risiken einzugehen und die Fehler einzugestehen, die wir unweigerlich machen werden.

Im Judentum geht es im moralischen Leben darum, zu lernen und zu wachsen, in dem Wissen, dass auch die Größten Schwächen haben und selbst den Schlechtesten rettende Gnade zuteil wird. Es verlangt Demut uns selbst gegenüber und Großzügigkeit gegenüber anderen. Diese einzigartige Mischung aus Idealismus und Realismus ist die ausgereifteste und wohl anspruchsvollste Form der Moral.

[1] Ramban, Kommentar zu Genesis 12:10, basierend auf Sohar, Tasria, 52a.

[2] Walter Kaufmann, The Faith of a Heretic (Princeton, New Jersey, Princeton University Press, 2015), S. 187–88.

[3] Ibid., S.188.

  1. Glauben Sie, dass wir mehr aus der Vereinfachung der moralischen Situationen unserer biblischen Vorfahren durch den Midrasch lernen, oder aus den subtilen Grautönen des Originaltextes?
  2. Welchen Gewinn haben wir, wenn wir die Unvollkommenheiten unserer Stammväter und -mütter betrachten?
  3. Stimmen Sie Rambans Interpretation zu? Was ist an der Behauptung, dass die Fehler unserer Vorfahren direkte Auswirkungen auf ihre Nachkommen hatten, problematisch?

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier