Nov ‍‍2021 - תשפא / תשפב

War Jakob im Recht, als er den Segen nahm?

 War es richtig von Jakob, dass er Esau im Geheimen um seinen Segen brachte? War es richtig, seinen Vater zu täuschen und dem Bruder den Segen zu nehmen, den Isaak diesem hatte geben wollen? War es rechtens von Rebekka, dass sie den Plan zunächst überhaupt gefasst und Jakob dazu ermutigt hat, ihn auszuführen? Dies sind grundlegende Fragen. Dabei geht es nicht nur um die Auslegung des biblischen Textes, sondern um das moralische Leben selbst. Die Art und Weise, wie wir einen Text deuten, ist prägend dafür, was für Menschen wir sein werden.

Folgen wir einer Möglichkeit, die Erzählung zu interpretieren, so lag Rebekka mit ihrem Vorschlag richtig, und Jakob hatte ihn zu Recht ausgeführt. Rebekka wusste, dass es Jakob und nicht Esau sein würde, der den Bund fortsetzen und die Mission Abrahams in die Zukunft tragen würde. Sie wusste dies aus zwei unterschiedlichen Gründen. Erstens hatte sie es so durch die Weissagung, die sie vor der Geburt der Zwillinge erhalten hatte, von Gott selbst gehört:

Zwei Völker sind in deinem Schoß,

und zwei Völker (od. Stämme) werden sich in dir trennen;

Ein Volk (od.: Stamm) wird mächtiger sein als der andere,

und der Ältere wird dem Jüngeren dienen (Gen. 25:23).

Esau war der Ältere, Jakob der Jüngere. Deshalb würde Jakob als der Mächtigere hervorgehen, Jakob, der von Gott Auserwählte.

Zweitens hatte Rebekka die Zwillinge aufwachsen sehen. Sie wusste, dass Esau ein Jäger war, ein Mann der Gewalt. Sie hatte gesehen, dass er ungestüm und sprunghaft war, ein Mann des Impulses, nicht der Besonnenheit. Sie hatte gesehen, wie er sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkaufte. Sie hatte zugesehen, wie er „aß, trank, aufstand und fortging. So verachtete Esau sein Erstgeburtsrecht“ (Gen. 25:34). Niemand, der sein Erstgeburtsrecht verachtet, kann der vertrauenswürdige Hüter eines für die Ewigkeit bestimmten Bundes sein.

Drittens lesen wir kurz vor den Ereignissen um den väterlichen Segen: „Als Esau vierzig Jahre alt war, nahm er Judith zum Weib, die Tochter des Hethiters Beeri, und auch Basemath, die Tochter des Hethiters Elon. Sie waren Isaak und Rebekka ein Dorn im Auge“ (Gen. 26:34-35). Auch dies war ein Beweis dafür, dass Esau nicht verstanden hatte, was der Bund von ihm forderte. Indem er zwei hethitische Frauen heiratete, bewies er, dass ihm sowohl die Gefühle seiner Eltern gleichgültig waren als auch die Selbstbeschränkung bei der Wahl des Ehepartners, die grundlegend dafür war, Abrahams Erbe zu sein.

Der Segen musste also an Jakob gehen. Wenn man zwei Söhne hat, von denen der eine der Kunst gegenüber gleichgültig ist und der andere ein Kunstliebhaber und Ästhet ist, wem würde man dann den Rembrandt hinterlassen, der seit Generationen zum Familienerbe gehört? Und wenn Isaak die wahre Natur seiner Söhne nicht verstand, wenn er nicht nur physisch, sondern auch psychisch „blind“ war, war es dann nicht geboten, ihn zu täuschen? Er war inzwischen alt, und wenn es Rebekka in früheren Jahren nicht gelungen war, ihn dazu zu bringen, die wahre Natur ihrer Kinder zu erkennen, war es da wahrscheinlich, dass sie dies jetzt tun würde?

Schließlich ging es hier nicht nur um die Beziehungen innerhalb der Familie. Es ging um Gott, das Schicksal und die geistige Berufung. Es ging um die Zukunft eines ganzen Volkes, denn Gott hatte Abraham wiederholt gesagt, dass er der Stammvater eines großen Volkes sein würde, welches ein Segen für die gesamte Menschheit sein würde. Und wenn Rebekka mit all dem recht hatte, dann war es auch richtig, dass Jakob ihren Anweisungen folgte.

Rebekka, dies war die Frau, die Abrahams Knecht für den Sohn seines Herrn als Frau erwählt hatte, weil sie gütig war, weil sie am Brunnen einem Fremden und auch seinen Kamelen Wasser gegeben hatte. Rebecca war nicht Lady Macbeth, die aus Bevorzugung oder Ehrgeiz handelte. Sie war die Verkörperung der Nächstenliebe. Und wenn sie keine andere Möglichkeit sah, dafür zu sorgen, dass der Segen an denjenigen ging, der ihn zu schätzen und zu leben wusste, dann heiligte in diesem Fall doch der Zweck die Mittel. Dies ist eine Möglichkeit, die Geschichte zu lesen, und so tun dies auch viele Kommentatoren.

Es ist jedoch nicht die einzige Interpretation.[1] Betrachten wir zum Beispiel die Szene, die sich unmittelbar nach Jakobs Abschied von seinem Vater ereignete. Esau kehrt von der Jagd zurück und bringt Isaak das Essen, um das er gebeten hatte. Dann lesen wir Folgendes:

Isaak zitterte heftig und sagte: „Wer war es denn, der Wild gejagt und es mir gebracht hat? Ich habe es gegessen, kurz bevor du gekommen bist, und ich habe ihn gesegnet – und so soll er auch gesegnet sein!“

Als Esau die Worte seines Vaters hörte, stieß er einen lauten und bitteren Schrei aus und sagte zu seinem Vater: „Segne mich – mich auch, mein Vater!“

Aber er sagte: „Dein Bruder kam mit List [Bemirma] und nahm deinen Segen.“

Esau sagte: „Heißt er nicht mit Recht Jakob? Das ist das zweite Mal, dass er mich ausnutzt: Er hat mein Erstgeburtsrecht genommen und nun auch noch meinen Segen erschlichen!“ Dann fragte er: „Hast du denn keinen Segen für mich aufgehoben?“ (Gen. 27:33-36).

Es ist unmöglich, den Text in Genesis, Kapitel 27, in seiner unkommentierten Fassung zu lesen, ohne Mitgefühl für Isaak und Esau zu empfinden und nicht für Rebekka und Jakob. Die Tora ist sparsam im Umgang mit Gefühlen. Sie schweigt zum Beispiel völlig über die Gefühle von Abraham und Isaak, als sie gemeinsam auf die Prüfung der Bindung zusteuerten. Sätze wie „zitterte heftig“ und „brach in einen lauten und bitteren Schrei aus“ können uns nur tief berühren. Hier ist ein alter Mann, der von seinem jüngeren Sohn betrogen wurde, und ein junger Mann, Esau, der sich um das betrogen fühlt, was ihm rechtmäßig zusteht. Die Emotionen, die diese Szene auslöst, werden uns noch lange in Erinnerung bleiben.

Bedenken Sie auch die Folgen. Jakob musste mehr als zwanzig Jahre lang von zu Hause wegbleiben und um sein Leben fürchten. Dann erlebte er einen fast identischen Betrug, den Laban an ihm verübte, als dieser Rachel durch Lea ersetzte. Als Jakob rief: „Warum hast du mich betrogen [rimitani]“, antwortete Laban: „Es ist bei uns nicht üblich, die Jüngere vor die Ältere zu setzen“ (Gen. 29:25-26). Nicht nur die Tat, sondern auch die Worte implizieren eine Bestrafung, Maß für Maß. Der „Betrug“, den Jakob Laban vorwirft, ist genau das Wort, das Isaak in Bezug auf Jakob verwendete. Labans Antwort klingt wie ein fast ausdrücklicher Verweis auf das, was Jakob getan hatte, als wollte er sagen: „Wir tun an unserem Ort nicht, was du gerade an deinem getan hast.“

Das Ergebnis von Labans Täuschung brachte Jakob Kummer für den Rest seines Lebens. Es gab Spannungen zwischen Lea und Rachel. Zwischen ihren Kindern herrschte Hass. Jakob wurde erneut betrogen, diesmal von seinen Söhnen, als sie ihm Josephs blutbeflecktes Gewand brachten: eine weitere Täuschung eines Vaters durch seine Kinder, bei der es um den Gebrauch von Kleidung ging. Das Ergebnis war, dass Jakob zweiundzwanzig Jahre lang der Gesellschaft seines geliebten Sohnes beraubt war, genauso wie es Isaak mit Jakob erging.

Auf die Frage des Pharao, wie alt er sei, antwortete Jakob: „Wenig und trübe sind die Jahre meines Lebens gewesen“ (Gen. 47:9). Er ist die einzige Figur in der Tora, die eine solche Bemerkung macht. Es fällt schwer, den Text nicht als eine präzise Erklärung des Prinzips „Maß für Maß“ zu lesen: Wie du anderen getan hast, so werden andere dir tun. Der Betrug brachte allen Beteiligten großen Kummer, der bis in die nächste Generation anhielt.

Meine Lesart des Textes ist daher die folgende.[2]  Der Satz in der Rebekka zugedachten Weissagung, Weraw jaawod Za’ir (Gen. 25:23), ist in der Tat zweideutig. Er kann bedeuten: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen“, er kann aber auch bedeuten: „Der Jüngere wird dem Älteren dienen“. Die Tora nennt dies eine Chida (Num. 12:8), d.h. eine undurchsichtige, absichtlich zweideutige Mitteilung. Sie deutete auf einen anhaltenden Konflikt zwischen den beiden Söhnen und deren Nachkommen hin, aber nicht darauf, wer gewinnen würde.

Isaak war sich über das Wesen seiner beiden Söhne im Klaren. Er liebte Esau, aber das machte ihn nicht blind für die Tatsache, dass Jakob der Erbe des Bundes sein würde. Deshalb bereitete Isaak zwei Segenssprüche vor, einen für Esau, den anderen für Jakob. Er segnete Esau (Gen. 27:28-29) mit den Gaben, von denen er glaubte, dass er sie schätzen würde: „Möge Gott dir den Tau des Himmels und den Reichtum der Erde geben – eine Fülle von Getreide und neuem Wein“ – also Reichtum. „Mögen die Nationen dir dienen und die Völker sich vor dir verneigen. Sei Herr über deine Brüder, und die Söhne deiner Mutter sollen sich vor dir verneigen“ – das heißt Macht. Dies sind nicht die Segnungen des Bundes.

Die Segnungen des Bundes, die Gott Abraham und Isaak gegeben hatte, waren ganz andere. Sie betrafen Kinder und ein Land. Es ist dieser Segen, den Isaak später Jakob gab, bevor er sein Haus verließ (Gen. 28:3-4): „Möge Gott, der Allmächtige, dich segnen und dich fruchtbar machen und deine Zahl vermehren, bis du eine Gemeinschaft von Völkern wirst“ – also Kinder. „Er gebe dir und deinen Nachkommen den Segen, den er Abraham gegeben hat, damit du das Land in Besitz nimmst, in dem du jetzt als Fremder wohnst, das Land, das Gott Abraham gegeben hat“ – das heißt Land. Das war der Segen, den Isaak von Anfang an für Jakob vorgesehen hatte. Es gab keinen Grund für Betrug und Verstellung.

Jakob begriff all dies schließlich, vielleicht während seines Ringkampfes mit dem Engel in der Nacht vor seinem Treffen mit Esau nach ihrer langen Entfremdung. Was bei diesem Treffen geschah, ist unverständlich, wenn wir nicht verstehen, dass Jakob Esau den Segen zurückgab, den er ihm zu Unrecht genommen hatte. Das große Geschenk an Schafen, Rindern und anderem Vieh stand für den „Tau des Himmels und den Reichtum der Erde“, also für Reichtum. Die Tatsache, dass Jakob sich siebenmal vor Esau verbeugte, war seine Art, die Worte „Mögen sich die Söhne deiner Mutter vor dir verneigen“ zu erfüllen, dass heißt Macht.

Jakob gab den Segen an Esau zurück. Das sagte er sogar ausdrücklich: „Bitte nimm den Segen [Birkati] an, der dir gebracht wurde, denn Gott ist mir gnädig gewesen, und ich habe alles, was ich brauche“ (Gen. 33:11). Nach dieser Lesart der Geschichte hatten Rebekka und Jakob einen Fehler gemacht, einen verzeihlichen, einen verständlichen, aber dennoch einen Fehler. Der Segen, den Isaak Esau geben wollte, war nicht der Segen Abrahams. Er hatte die Absicht, Esau einen Segen zu geben, der diesem angemessen war. Dabei handelte er auf der Grundlage eines Präzedenzfalls. Gott hatte Ismael mit den Worten gesegnet: „Ich will ihn zu einem großen Volk machen“ (Gen. 21:18). Dies war die Erfüllung einer Verheißung, die Gott Abraham viele Jahre zuvor gegeben hatte, als er ihm sagte, dass Isaak, und nicht Ismael, den Bund fortführen würde:

Abraham sagte zu Gott: „Wenn doch nur Ismael unter Deinem Segen leben könnte!“ Da sagte Gott: „Ja, aber deine Frau Sara wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihn Isaak nennen. Ich will meinen Bund mit ihm als einen ewigen Bund für seine Nachkommenschaft errichten. Auch wegen Ismael habe Ich dich erhört: Ich will ihn segnen und ihn fruchtbar machen und seine Zahl stark vermehren. Er wird der Vater von zwölf Herrschern sein, und Ich werde ihn zu einem großen Volk machen“ (Gen. 17:18-21).

Isaak wusste dies sicherlich, denn der Überlieferung des Midrasch zufolge versöhnten er und Ismael sich später im Leben. Wir sehen sie gemeinsam an Abrahams Grab stehen (Gen. 25:9). Möglicherweise war dies eine Tatsache, die Rebekka nicht kannte. Sie verband Segen mit einem Bund. Vielleicht wusste sie nicht, dass Abraham wollte, dass Ismael gesegnet wird, obwohl er den Bund nicht erben würde, und dass Gott dieser Bitte entsprochen hatte.

In diesem Fall ist es möglich, dass alle vier Menschen ihrem Verständnis der Situation nach richtig gehandelt haben und dass es trotzdem zu einer Tragödie kam. Isaak hatte recht, Esau den Segen zu wünschen, den Abraham für Ismael suchte. Esau verhielt sich seinem Vater gegenüber ehrenhaft. Rebekka versuchte, die Zukunft des Bundes zu sichern. Jakob hatte Bedenken, aber er tat, was seine Mutter ihm geheißen, denn er wusste, dass sie keinen Betrug vorschlagen würde, wenn es nicht einen starken moralischen Grund dafür gäbe.

Haben wir es hier mit zwei möglichen Interpretationen ein und derselben Geschichte zu tun? Vielleicht, aber das ist nicht die bestmögliche Variante, sie zu beschreiben. Wir haben es hier – und es gibt noch andere Beispiele in der Genesis – mit einer Geschichte zu tun, die wir auf die eine Weise verstehen, wenn wir sie zum ersten Mal hören, und auf eine andere Weise, wenn wir alles, was später geschah, entdeckt und darüber nachgedacht haben. Erst nachdem wir von dem Schicksal Jakobs in Labans Haus, den Spannungen zwischen Lea und Rachel und der Feindseligkeit zwischen Joseph und seinen Brüdern erfahren haben, können wir zurückgehen und im Kapitel 27 den Abschnitt über den Segen in einem neuen Licht und mit tieferem Verständnis lesen.

Es gibt so etwas wie ein ehrliches Versehen, und es ist ein Zeichen von Jakobs Größe, dass er es erkannt und bei Esau wiedergutgemacht hat. Bei der bedeutenden Begegnung zweiundzwanzig Jahre später treffen sich die entfremdeten Brüder, umarmen sich, trennen sich als Freunde und gehen getrennte Wege. Aber zuerst musste Jakob mit einem Engel ringen.

So ist das mit dem moralischen Leben. Wir lernen, indem wir Fehler machen. Wir leben das Leben nach vorne gerichtet, aber wir verstehen es nur im Rückblick. Erst dann sehen wir die falschen Abzweigungen, die wir versehentlich genommen haben. Diese Entdeckung ist manchmal unser größter Moment der moralischen Wahrheit.

Für jeden von uns gibt es einen Segen, der ihm gehört. Das galt nicht nur für Isaak, sondern auch für Ismael, nicht nur für Jakob, sondern auch für Esau. Die Botschaft könnte deutlicher nicht sein. Suche niemals den Segen deines Bruders; sei mit deinem zufrieden.[3]

[1] Kritische Lesarten von Rebekkas oder Jakobs Verhalten finden sich in mehreren Midrasch-Sammlungen: Bereishit Rabba, Tanhuma (Buber), Jalkut Reuweni, Midrasch Hane’elam und Midrasch Socher Tow (zu Psalm 80:6). Zu den kritischen Kommentatoren gehören R. Elieser Aschkenasi, Zeda Lederech, und R. Jaakov Zwi Mecklenberg, Haktav Wehakabbala. Alle diese Interpretationen beruhen auf den im Folgenden zitierten Textstellen.

[2] Für eine ausführlichere Erklärung siehe Jonathan Sacks, Covenant and Conversation Genesis: The Book of Beginnings (Maggid Books, 2009), Seiten 153-158, 219-228.

[3]  Dies wurde später das zehnte der Zehn Gebote.

  1. Sind Sie der Meinung, dass das Verhalten von Rebekka und Jakob in dieser Geschichte moralisch gerechtfertigt war?
  2. Was bedeutet „Wir leben das Leben vorwärts gewandt, aber wir verstehen es nur im Rückblick“? Wie benutzt Rabbi Sacks diese biblische Episode, um dieses Prinzip zu veranschaulichen?
  3. Fallen Ihnen Beispiele für diesen Grundsatz aus Ihrem Leben ein?

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