Dez ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Wann darf man lügen?

   Nach dem Tod Jakobs hatten Josefs Brüder Angst. Jahre zuvor, als Josef ihnen in Ägypten seine wahre Identität offenbarte, schien er ihnen zu verzeihen, dass sie ihn einst als Sklaven verkauft hatten.[1]  Noch aber waren die Brüder nicht völlig beruhigt. Womöglich meinte Josef nicht, was er sagte. Vielleicht hegte er immer noch einen Groll gegen sie. Möglich war auch, dass der einzige Grund, warum er sich noch nicht gerächt hatte, die Achtung vor seinem Vater war. In jenen Tagen war es üblich, dass zu Lebzeiten des Vaters keine Rechnungen zwischen Geschwistern beglichen werden durften. Das wissen wir aus einer früheren Begebenheit. Nachdem Jakob seinen Bruder um den väterlichen Segen gebracht hatte, sagte Esau: „Die Tage der Trauer um meinen Vater nahen; dann werde ich meinen Bruder Jakob töten“ (Gen. 27:41). Also traten die Brüder vor Josef und sprachen:

„Dein Vater hinterließ vor seinem Tod diese Anweisungen: ,Das sollst du Josef sagen: Ich bitte dich, deinen Brüdern die Sünden und das Unrecht zu vergeben, das sie begangen haben, als sie dich so schlecht behandelten.‘ Und nun vergib bitte auch den Dienern des Gottes deines Vaters ihr Vergehen.“ Als ihre Botschaft Josef erreichte, weinte er (Gen. 50:16-17).

Der Text macht es so deutlich wie nur möglich, dass die Geschichte, die sie Josef erzählten, gelogen war. Handelte es sich tatsächlich um Jakobs Worte, hätte er sie wohl Josef persönlich gesagt und nicht seinen Brüdern. Der geeignete Zeitpunkt dafür wäre auf seinem Sterbebett im vorigen Kapitel gewesen. Wir können die Geschichte der Brüder wohl eine Notlüge nennen. Sie diente in erster Linie nicht der Täuschung, sondern der Entschärfung einer potenziell explosiven Situation. Vielleicht weinte Josef gerade aus diesem Grund, da er verstand, dass seine Brüder ihn immer noch der Rache für fähig hielten.

Die Weisen leiteten aus dieser Textstelle einen Grundsatz ab: Mutar leschanot mipnej Haschalom: „Es ist erlaubt, eine Unwahrheit zu sagen (wörtl. die Tatsachen zu „ändern“), um des Friedens willen.“[2] Eine Notlüge ist dem jüdischen Gesetz nach erlaubt.

Dies ist nicht die einzige Stelle, an der sich die Weisen auf diesen Grundsatz berufen. Sie schrieben ihn sogar Gott selbst zu.[3] Als die Engel Abraham besuchten, um ihm und Sara mitzuteilen, dass sie ein Kind bekommen würden, „lachte Sara bei sich selbst und sprach: ,Nun, da ich alt bin und mein Herr auch, soll ich noch diese Freude empfinden?‘“ Daraufhin fragte Gott Abraham: „Warum hat Sara gelacht und gesagt: ,Werde ich wirklich ein Kind bekommen, jetzt, wo ich alt bin?‘“ (Gen. 18:12-13).

Gott erwähnte nicht, dass Sara nicht nur glaubte, sie selbst sei zu alt, um ein Kind zu bekommen, sondern auch Abraham (was sich im Übrigen als völlig falsch herausstellte: Abraham hatte nach Saras Tod noch sechs weitere Kinder). Die Weisen schlossen daraus, dass Gott dies nicht erwähnte, weil er nicht wollte, dass es zwischen Ehemann und Ehefrau zu einer Verstimmung kommt. Auch hier sagten die Weisen: Es ist erlaubt, die Fakten um des Friedens willen zu ändern.

Es ist offenkundig, dass die Weisen beide Episoden benötigten, um das Prinzip zu konstatieren. Von Saras Beispiel allein, hätten wir nicht ableiten können, dass es erlaubt ist, eine Notlüge zu erzählen. Gott hat keine Notlüge über Sara erzählt. Er hat Abraham lediglich nicht die ganze Wahrheit gesagt.

Hätten wir nur den Fall von Josefs Brüdern gekannt, hätten wir daraus nicht schließen können, dass das, was sie taten, erlaubt war. Vielleicht war es ja verboten, und somit wäre dies auch der Grund, warum Josef weinte. Die Tatsache, dass Gott selbst etwas ganz Ähnliches getan hatte, veranlasste die Weisen zu der Aussage, dass die Brüder gerechtfertigt waren.

Obschon es scheinen mag, dass wir lediglich von Taktgefühl und sozialen Feinheiten sprechen, geht es hier um ein wichtiges Merkmal des moralischen Lebens. Der verstorbene Sir Isaiah Berlin wies darauf hin, dass nicht alle Werte in einer Art platonischer Harmonie koexistieren. Sein bevorzugtes Beispiel: Freiheit und Gleichheit. Man kann eine freie Marktwirtschaft haben, aber das Ergebnis wird Ungleichheit sein. Oder man kann wirtschaftliche Gleichheit, also Kommunismus, haben, aber das Ergebnis wird ein Verlust an Freiheit sein. In unserer Welt nach ihrer gegenwärtigen Konfiguration ist ein moralischer Konflikt unvermeidlich.[4]

Dies war eine wichtige Tatsache, an der das Judentum jedoch nie gezweifelt zu haben scheint. Im Tanach gibt es zum Beispiel einen eindringlichen Moment, als König Davids Sohn Abschalom einen Staatsstreich gegen seinen Vater unternahm. David war gezwungen zu fliehen. Schließlich kam es zu einer Schlacht zwischen den Truppen Abschaloms und Davids. Abschalom, der gut aussah, verhedderte sich mit seinem schönen Haar in den Zweigen eines Baumes. Als er dort hing, tötete ihn Joab, der Oberbefehlshaber von Davids Armee.

Als David die Nachricht hörte, war er außer sich vor Trauer: „Der König war erschüttert. Er ging hinauf in das Zimmer über dem Tor und weinte. Als er ging, sagte er: ,O mein Sohn Abschalom! O Abschalom, mein Sohn, mein Sohn! Wäre ich doch an deiner Stelle gestorben – Abschalom, mein Sohn, mein Sohn!‘“ (II Samuel 19:1). Joab antwortete dem König brutal: „Heute hast du alle deine Männer gedemütigt, die gerade dein Leben gerettet haben … Du liebst jene, die dich hassen, und hasst diejenigen, die dich lieben … Jetzt geh hinaus und muntere deine Männer auf“ (II Sam. 19:6-8). Davids Trauer über den Verlust seines Sohnes steht im Konflikt mit seiner Verantwortung als Staatsoberhaupt und seiner Loyalität gegenüber den Truppen, die ihm das Leben gerettet haben. Was hat Vorrang: seine Pflicht als Vater oder die Verantwortung als König?

Die bestehenden Widersprüche zwischen verschiedenen Werten bedeuten, dass unsere Moralvorstellung und unser gesellschaftlicher Konsens nicht nur von unseren Werten abhängen, sondern auch davon, wie wir sie zu priorisieren verstehen. Geben wir Gleichheit den Vorrang vor Freiheit, entsteht eine Art von Gesellschaft, wie beispielsweise der Sowjetkommunismus eine war. Gibt man Freiheit den Vorrang vor Gleichheit, führt dies zur Marktwirtschaft. Die Menschen in beiden Gesellschaften mögen dieselben Werte haben, doch unterscheiden sie sich in ihrer Einordnung auf der Werteskala und somit auch, wie sie sich im Falle eines Wertekonflikts entscheiden.

Genau darum geht es in den Geschichten von Saras Lachen und Josefs Brüdern. Wahrheit und Frieden sind beides Werte, aber für welchen entscheiden wir uns, wenn sie miteinander in Konflikt geraten? Nicht jeder unserer rabbinischen Weisen war dieser Meinung.

Es gibt zum Beispiel eine berühmte Meinungsverschiedenheit zwischen den Schulen von Hillel und Schamai darüber, was man bei einer Hochzeit über die Braut sagen soll (siehe Ketubot 16b). Dem Brauch nach sagte man: „Die Braut ist schön und anmutig.“ Die Schüler Schamais waren jedoch nicht dazu bereit, wenn die Braut ihrer Meinung nach nicht schön und anmutig war. Für sie war der höchste Wert das Beharren der Tora auf der Wahrheit: „Halte dich von der Falschheit fern“ (Exod. 23:7). Die Schule Hillels akzeptierte dies nicht. Wer sollte beurteilen, ob die Braut schön und anmutig war? Sicherlich der Bräutigam selbst. Die Braut zu loben, war also keine objektive, empirisch prüfbare Aussage. Es war einfach eine Bestätigung der Wahl des Bräutigams, eine Art, das Glück des Paares zu feiern.

Höflichkeiten sind oft so. Jemandem zu sagen, wie sehr einem das mitgebrachte Geschenk gefällt, auch wenn man es nicht mag, oder zu jemandem zu sagen: „Wie schön, Sie zu sehen“, obwohl man gehofft hatte, ihm aus dem Weg zu gehen, entspricht eher guten Manieren als einem Täuschungsversuch. Wir alle sind uns dessen bewusst, und so wird kein Schaden angerichtet. Anders wäre es, wenn wir lügen würden, wenn wesentliche Interessen auf dem Spiel stehen.

Von grundlegender und philosophischer Bedeutung ist ein wichtiger Midrasch über ein Gespräch zwischen Gott und den Engeln über die Frage, ob der Mensch überhaupt erschaffen werden sollte:

Rabbi Schimon sagte: Als Gott im Begriff war, Adam zu erschaffen, teilten sich die dienenden Engel in streitende Gruppen. Die einen sagten: „Er soll erschaffen werden.“ Andere sagten: „Er soll nicht erschaffen werden.“ Deshalb steht geschrieben: „Barmherzigkeit und Wahrheit stießen zusammen, Gerechtigkeit und Frieden prallten aufeinander“ (Psalm 85:11).

Die Barmherzigkeit sagte: „Er soll erschaffen werden, denn er wird barmherzige Taten tun.“

Die Wahrheit sagte: „Er soll nicht erschaffen werden, denn er wird voller Falschheit sein.“

Die Gerechtigkeit sagte: „Er soll erschaffen werden, denn er wird gerechte Taten vollbringen.“

Der Friede sagte: „Er soll nicht erschaffen werden, denn er wird nie aufhören zu streiten.“

Was aber tat der Heilige, gepriesen sei Er? Er nahm die Wahrheit und warf sie zu Boden.

Die Engel sagten: „Herr des Universums, warum tust Du dies mit Deinem eigenen Siegel, der Wahrheit? Lass die Wahrheit vom Boden auferstehen.“

So steht es geschrieben: „Die Wahrheit soll aus der Erde hervorgehen“ (Psalm 85:12).[5]

Ein schwieriger Text. Was genau haben die Engel gemeint? Was bedeutet es zu sagen, dass „Gott die Wahrheit nahm und sie zu Boden warf“? Und was ist mit der Behauptung des Friedensengels, dass die Menschen „niemals aufhören werden zu streiten“?

Meinem Verständnis nach lässt sich der Text dergestalt interpretieren: Die Menschen sind so lange dazu verdammt, sich zu streiten, solange jede der streitenden Gruppen ein Monopol auf absolute Wahrheit beansprucht. Sie werden nur lernen, in Frieden zu leben, wenn sie erkennen, dass sie als Menschen innerhalb ihrer irdischen Grenzen in diesem Leben niemals die Wahrheit erreichen werden, wie sie im Himmel ist. Für uns ist die Wahrheit immer partiell, fragmentiert, der Blick von „irgendwoher“ und nicht, wie Philosophen es manchmal formulieren, „der Blick von nirgendwo“.[6]

Diese tiefe Einsicht ist, glaube ich, der Grund, warum die Tora multiperspektivisch ist, warum der Tanach so viele verschiedene Stimmen enthält, warum Mischna und Gemara um Argumente herum strukturiert sind und warum der Midrasch auf der Grundlage der „siebzig Facetten“ der Tora aufbaut. Keine andere Zivilisation, die ich kenne, hat ein so subtiles und komplexes Verständnis vom Wesen der Wahrheit.

Auch hat keine andere den Frieden so hoch geschätzt. Das Judentum ist und war nie pazifistisch. Nationale Selbstverteidigung erfordert manchmal einen Krieg. Aber Jesaja und Micha waren die ersten Visionäre einer Welt, in der „eine Nation das Schwert gegen eine andere Nation erheben wird“. (Jesaja 2:4; Micha 4:3) Jesaja ist der poeta laureatus des Friedens.

Wann immer sie die Wahl hatten, zogen die Weisen in den zwischenmenschlichen Beziehungen den Frieden der Wahrheit vor, nicht zuletzt, weil die Wahrheit im Frieden gedeihen kann, während sie im Krieg oft das erste Opfer ist. Es war also nicht falsch von den Brüdern, Josef um des Familienfriedens willen eine Unwahrheit zu sagen. Gemeinsam vergegenwärtigten sie sich die tiefere Wahrheit, dass nicht nur ihr nun verstorbener körperlicher Vater, sondern auch ihr ewig lebender Vater im Himmel will, dass das Volk des Bundes in Frieden lebt. Wie sonst können Juden mit der Welt in Frieden leben, wenn sie nicht imstande sind, mit sich selbst in Frieden zu leben?

[1] Dies ist das Thema des Aufsatzes Die Geburt der Vergebung in der Reihe Covenant & Conversation.

[2] Jewamot 65b.

[3] Midrasch Sechel Tow, Toldot 27:19.

[4] Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, in Isaiah Berlin, Henry Hardy und Ian Harris, Liberty: Incorporating Four Essays on Liberty (Oxford, Oxford University Press, 2002). Siehe auch das wichtige Werk von Stuart Hampshire, Morality and Conflict (Cambridge, Massachusetts, Harvard University Press, 1983).

[5] Bereishit Raba 8:5.

[6] Thomas Nagel, The View from Nowhere (New York, Oxford University Press, 1986). Der einzige Mensch, dem es gelang, eine nicht-anthropozentrische Sicht auf die Schöpfung aus Gottes Perspektive zu formulieren, war Hiob in den Kapiteln 38-41 des nach ihm benannten Buches.