Apr ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Die Beschneidung des Begehrens

   Es fällt immer schwer, genau den Zeitpunkt zu benennen, an dem eine neue Idee zum ersten Mal auf dem Schauplatz der Menschheitsgeschichte auftaucht, insbesondere, wenn es um eine so amorphe Idee wie die der Liebe geht. Aber die Liebe hat eine Geschichte.[1] Im griechischen und später im christlichen Denken gibt es den Gegensatz zwischen Eros und Agape: zwischen sexuellem Begehren und einer äußerst abstrakten, allgemeinen Liebe zur Menschheit.

Dann gibt es das Konzept der Ritterlichkeit, das im Zeitalter der Kreuzzüge aufkam: der Verhaltenskodex, der Galanterie und Tapferkeit schätzt, um „das Herz einer Dame zu gewinnen“. Es gibt die romantische Liebe in den Romanen von Jane Austen, die mit der Bedingung versehen ist, dass der für die Heldin bestimmte junge oder nicht mehr ganz so junge Mann, über ein entsprechendes Einkommen und einen Landsitz verfügen muss, um die „allgemein anerkannte Wahrheit“ zu veranschaulichen, „dass ein Junggeselle im Besitz eines hübschen Vermögens nichts Dringenderes braucht als eine Frau“.[2] Und es gibt den Moment in Anatevka, als sich Tevje, der von seinen Kindern mit den neuen Ideen im vorrevolutionären Russland konfrontiert wird, an seine Frau Golde wendet und es zu folgendem Dialog kommt:

Tevje: Liebst du mich?

Golde: Ich bin deine Frau!

Tevje: Ich weiß! Aber liebst du mich auch?

Golde: Ob ich ihn liebe? Seit fünfundzwanzig Jahren lebe ich mit ihm, streite ich mit ihm, hungere ich mit ihm. Seit fünfundzwanzig Jahren teile ich das Bett mit ihm…

Tevje: Pst!

Golde: Wenn das keine Liebe ist, was dann?

Tevje: Dann liebst du mich!

Golde: Ich nehme an, ja!

Die Geschichte der Menschheit ist in ihrem Kern auch die Geschichte von der Idee der Liebe. Und irgendwann taucht im biblischen Israel eine neue Idee auf. Wir können sie am besten in einer sehr suggestiven Passage im Buch eines der großen Propheten, Hosea, nachverfolgen.

Hosea lebte im achten Jahrhundert vor der gewöhnlichen Zeitrechnung. Das Königreich war seit dem Tod Salomos geteilt. Vor allem das Nordreich, in dem Hosea lebte, war nach einer Zeit des Friedens und des Wohlstands in Gesetzlosigkeit, Götzendienst und Chaos versunken. Zwischen 747 und 732 vor der gewöhnlichen Zeitrechnung gab es nicht weniger als fünf Könige, das Ergebnis einer Reihe von Intrigen und blutigen Machtkämpfen. Auch das Volk war nachlässig geworden:

„Es gibt keine Treue und keine Güte und kein Gotteserkenntnis im Lande; es wird geflucht, gelogen, getötet, gestohlen und Ehebruch begangen; sie brechen alle Grenzen, und Mord folgt auf Mord“ (Hos. 4:1-2).

Wie andere Propheten wusste auch Hosea, dass Israels Schicksal von seinem Sendungsbewusstsein abhing. In seiner Treue zu Gott war es imstande, Außergewöhnliches zu vollbringen: Es überlebte angesichts mächtiger Imperien und brachte eine in der antiken Welt einzigartige Gesellschaft hervor, in der alle Menschen als Bürger unter der Souveränität des Schöpfers von Himmel und Erde die gleiche Würde besaßen. Vom Glauben abtrünnig geworden war es jedoch nur eine weitere unbedeutende Macht im Nahen Osten der Antike, deren Überlebenschancen gegenüber größeren politischen Aggressoren sehr gering war.

Was das Buch Hosea so bemerkenswert macht, ist die Begebenheit, mit der es beginnt. Gott befiehlt dem Propheten, eine Prostituierte zu heiraten, um zu erfahren, wie es ist, wenn einer Liebe Betrug widerfährt. Nur so kann Hosea eine Ahnung von dem Gefühl des Verrats vermittelt werden, das Gott durch Sein Volk Israel empfand. Nachdem Gott es aus der Sklaverei befreit und in sein Land geführt hatte, musste Er mit ansehen, wie es seine Vergangenheit vergaß, den Bund verriet und fremde Götter anbetete. Und obwohl es Ihm den Rücken gekehrt hat, kann Er es doch nicht verlassen. Es ist eine eindrucksvolle Passage, die die erstaunliche Behauptung macht: Mehr noch als das jüdische Volk Gott liebt, liebt Gott das jüdische Volk. Die Geschichte Israels ist eine Liebesgeschichte zwischen einem treuen Gott und Seinem oft ungläubigen Volk. Auch wenn Gott manchmal zornig ist, kann er nicht anders, als zu vergeben. Er entführt es auf eine Art zweite Hochzeitsreise, und sie erneuern ihr Eheversprechen:

„Deshalb werde ich sie jetzt verführen;

Ich werde sie in die Wüste führen

und zärtlich zu ihr sprechen…

Ich will dich Mir auf ewig antrauen;

Ich will dich Mir in Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit antrauen,

in Liebe und Barmherzigkeit.

Ich will dich Mir in Treue antrauen,

und du wirst Gott erkennen“ (Hos. 2:16-22).

Es ist dieser letzte Satz – mit seinem ausdrücklichen Vergleich zwischen dem Bund mit Gott und einer Ehe -, den jüdische Männer sagen, wenn sie die Tefillin auf den Arm anlegen und deren Riemen wie einen Ehering um den Finger wickeln.

Ein Vers mitten in dieser Prophezeiung verdient nähere Betrachtung. Er enthält zwei vielschichtige Metaphern, die es sorgfältig zu enträtseln gilt:

„An jenem Tag“, verkündet Gott,

„wirst du Mich ,mein Mann‘ [Ischi] nennen;

und du wirst Mich nicht mehr ,mein Herr‘ [Baali] nennen“ (Hos. 2:18).

Dies ist ein doppeltes Wortspiel. Baal bedeutet im biblischen Hebräisch „Ehemann“, aber in einem sehr knonkreten Sinne, nämlich „Herr, Besitzer, Eigentümer, Beherrscher“. Baal signalisierte physische, rechtliche und wirtschaftliche Dominanz. Es war dies auch der Name des kanaanitischen Gottes, dessen Propheten in der berühmten Konfrontation am Berg Karmel durch Elia herausgefordert wurden. Baal (oft als Stier dargestellt) war der Gott des Sturms, der Mot, den Gott der Unfruchtbarkeit und des Todes, besiegte. Baal war der Regen, der die Erde befruchtete und sie fruchtbar machte. Die Religion des Baal ist die Anbetung einer Götze als Macht.

Hosea stellt diese Art von Beziehung dem anderen hebräischen Begriff für „Ehemann“ gegenüber: Isch. Hier ruft er die Worte ins Gedächtnis, die der erste Mann zur ersten Frau sprach:

„Dies ist nun Bein von meinem Gebein

und Fleisch von meinem Fleische;

Sie soll „Frau“ [Ischa] genannt werden,

denn sie wurde vom Manne [Isch] genommen“ (Gen. 2:23).

Hier beruht die Beziehung zwischen Mann und Frau auf etwas ganz anderem als auf Macht und Dominanz, Besitz und Kontrolle: Mann und Frau stehen sich in Gleichheit und Verschiedenheit gegenüber. Jeder ist ein Abbild des anderen, und zugleich ist jeder ein singuläres und andersartiges Wesen. Die einzige Beziehung, die sie ohne Zwang aneinander binden kann, ist die Ehe als Bund – ein Band gegenseitiger Loyalität und Liebe, in dem sie einander das Versprechen geben, einer dem anderen zu dienen.

Dies ist nicht nur eine radikale Art, die Beziehung zwischen Mann und Frau neu zu konzipieren, sondern auch, so impliziert Hosea, die Art und Weise, wie wir uns die Beziehung zwischen Mensch und Gott vorstellen sollten. Gott wendet sich an den Menschen nicht als Macht – der Sturm, der Donner, der Regen – sondern in Liebe, und zwar nicht in abstrakter, philosophischer Liebe, sondern als tiefe und beständige Leidenschaft, die alle Enttäuschungen und allen Verrat überdauert. Israel mag sich Gott gegenüber nicht immer liebevoll verhalten, sagt Hosea, aber Gott liebt Israel und wird nie aufhören, es zu lieben.

Unsere Beziehung zu Gott wirkt sich auf unser Verhältnis zu anderen Menschen aus. Das ist die Botschaft Hoseas – und auch umgekehrt: Wie wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten, wirkt sich darauf aus, wie wir über Gott denken. Israels politisches Chaos im achten Jahrhundert vor der gewöhnlichen Zeitrechnung war eng mit seiner religiösen Verwahrlosung verknüpft. Eine Gesellschaft, die auf Korruption und Ausbeutung beruht, ist eine Gesellschaft, in der die Macht über die Gerechtigkeit siegt. Das ist nicht Judentum, sondern Götzendienst, Baal-Anbetung.

So verstehen wir, warum das Zeichen des Bundes die Beschneidung ist, das Gebot, das in unserem Wochenabschnitt, Paraschat Tasria, gegeben wird. Wenn Glaube mehr sein soll als die Verehrung der Macht, muss er die intimsten Beziehungen zwischen Mann und Frau berühren. In einer Gesellschaft, die sich auf einen Bund gründet, beruhen die Beziehungen zwischen Mann und Frau auf etwas anderem, etwas sanfterem als männlicher Dominanz, maskuliner Macht, sexuellem Begehren und dem Drang, zu besitzen, zu kontrollieren und zu beherrschen. Baal muss zum Isch werden, Alpha-Männchen zum fürsorglichen Ehemann. Sex muss geheiligt und durch gegenseitigen Respekt gemäßigt werden. Der Sexualtrieb muss beschnitten werden, so dass er nicht mehr zu beherrschen verlangt, sondern in der Liebe Erfüllung findet.

Es gibt also mehr als eine nur zufällige Verbindung zwischen Monotheismus und Monogamie. Obwohl das biblische Gesetz die Monogamie nicht vorschreibt, stellt es sie doch von Beginn der Menschheitsgeschichte an als den Normalzustand dar: Adam und Eva, ein Mann und eine Frau. Wann immer in der Genesis ein Patriarch mehr als eine Frau heiratet, kommt es zu Spannungen und Kümmernissen. Die Verpflichtung gegenüber einem Gott spiegelt sich in der Verpflichtung gegenüber einer Person wider.

Das hebräische Wort Emuna, das oft mit „Glaube“ übersetzt wird, bedeutet in Wirklichkeit Treue, eben die Verpflichtung, die bei einer Eheschließung eingegangen wird. Umgekehrt sehen die Propheten einen Zusammenhang zwischen Götzendienst und Ehebruch. So beschreibt Gott Israel gegenüber Hosea. Gott ehelichte die Israeliten, aber indem sie Götzen dienten, verhielten sie sich gleich einer promiskuitiven Frau (Hos. 1-2).

Die Liebe zwischen Mann und Frau – eine Liebe, die zugleich persönlich und moralisch, leidenschaftlich und verantwortungsvoll ist – kommt dem Verständnis der Liebe Gottes zu uns und unserer optimalen Liebe zu Ihm so nah wie nur möglich. Wenn Hosea sagt: „Du wirst Gott erkennen“, dann meint er damit nicht Erkenntnis im abstrakten Sinn. Er meint das gegenseitige Erkennen in Intimität und persönlicher Bindung, die Berührung zweier Wesen über den metaphysischen Abgrund hinweg, der ein Bewusstsein vom anderen trennt. Das ist das Thema des Hohelieds, dieser überaus menschliche und doch zutiefst mystische Ausdruck des Eros, der Liebe zwischen Mensch und Gott. Das ist auch die Bedeutung eines der wichtigsten Sätze des Judentum:

„Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Können“ (Deut. 6:5).

Das Judentum hat von Anfang an einen Zusammenhang zwischen Sexualität und Gewalt einerseits und ehelicher Treue und sozialer Ordnung andererseits hergestellt. Nicht umsonst heißt die Ehe Kiduschin, „Heiligung“. Ganz im Sinne eines Bundes ist die Ehe ein Treueversprechen zwischen zwei Parteien, von denen jede Seite die Integrität der anderen anerkennt und ihr Anderssein ehrt, eben da sie beide zusammenkommen, um ein neues Leben in die Welt zu bringen. Die Ehe ist für die Gesellschaft, was der Bund für den religiösen Glauben ist: die Entscheidung, die Liebe – und nicht Macht, Reichtum oder höhere Gewalt – zum generativen Prinzip des Lebens zu machen.

So wie die Spiritualität die intimste Beziehung zwischen uns und Gott ist, so ist der Sex die intimste Beziehung zwischen uns und einem anderen Menschen. Die Beschneidung ist das ewige Zeichen des jüdischen Glaubens, weil sie das Dasein der Seele mit den Leidenschaften des Körpers zusammenführt und uns daran erinnert, dass beide von Demut, Selbstbeherrschung und Liebe reguliert werden müssen.

Die Brit Mila dient der Transformation eines Mannes vom Baal zum Isch, vom dominanten Partner zum liebenden Ehemann, eben wie Gott zu Hosea sagt, dass es dies ist, was Er in seiner Beziehung zum Volk des Bundes anstrebt. Die Beschneidung verwandelt die Biologie in Spiritualität. Der männliche Instinkt, sich fortzupflanzen, wird im Rahmen des Bundes zum Akt der Partnerschaft und der gegenseitigen Bestätigung. Damit stellte die Brit Mila eine ebenso entscheidende Wende in der menschlichen Zivilisation dar wie der abrahamitische Monotheismus selbst. In beiden Fällen geht es darum, die Macht als Beziehungsgrundlage aufzugeben und stattdessen das zu verfolgen, was Dante als „die Liebe, die die Sonne und die anderen Sterne bewegt“ bezeichnete.[3] Die Beschneidung ist der körperliche Ausdruck des Glaubens, der in der Liebe lebt.

[1] Siehe zum Beispiel C. S. Lewis, The Four Loves (New York, Harcourt, Brace, 1960). Auch Simon Mays, Love: A History (New Haven, Yale University Press, 2011).

[2] Die berühmte erste Zeile von Jane Austens Stolz und Vorurteil.

[3] Göttliche Komödie, 33:143-45.

  1. Verändert Rabbi Sacks mit seinem Essay die Art und Weise, wie Sie über Liebe und Ehe denken?
  2. Ändert die Thematik dieser Woche Ihre Vorstellungen von Gottes Beziehung zu Seinem Volk?
  3. „Mehr als das jüdische Volk Gott liebt, liebt Gott das jüdische Volk.“ Welche Beweise können Sie in der jüdischen Geschichte finden, um diese Aussage zu belegen?

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