Jan ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Das Gesicht des Bösen
Beschalach

   Nach dem 11. September 2001, als der Schrecken und das Trauma allmählich abklangen, stellten sich die Amerikaner die Frage, was sich ereignet hatte und warum: Eine Katastrophe? Eine Tragödie? Ein Verbrechen? Eine Kriegshandlung? Doch nichts davon schien auch nur zu einem der herkömmlichen Denkmuster zu passen. Und warum war es geschehen? Die am häufigsten zu Al-Qaida gestellte Frage lautete: „Warum hassen sie uns?“

Im Zuge der Ereignisse schrieb der amerikanische Denker Lee Harris zwei Bücher, Civilization and its Enemies und The Suicide of Reason,[1] die zu den tiefsinnigsten Reflexionen des Jahrzehnts bezüglich der Anschläge zählten. Der Grund für die Fragen und das Unvermögen, Antworten zu finden, sei, so Harris, dass wir im Westen das Konzept eines Feindes vergessen hätten. Liberaldemokratische Politik und Marktwirtschaft bewirken eine bestimmte Art von Gesellschaft, eine spezifische Denkweise und einen charakteristischen Persönlichkeitstypus. Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept des rationalen Akteurs, der Handlungen gemäß ihrer Folgen beurteilt und die beste Alternative wählt. Ein solcher Mensch glaubt, dass es für jedes Problem, für jeden Konflikt eine Lösung gibt. Der Weg dorthin bedeutet: sich zusammenzusetzen, zu verhandeln, um schließlich das zu tun, was für alle das Beste ist.

In einer solchen Welt gibt es keine Feinde, sondern nur Interessenkonflikte. Ein Feind, sagt Harris, ist einfach „ein Freund, für den wir noch nicht genug getan haben“. In der realen Welt ist jedoch nicht jeder ein Liberaldemokrat. Ein wirklicher Feind ist „jemand, der bereit ist, zu sterben, um dich zu töten. Es ist zwar richtig, dass der Feind uns immer aus einem bestimmten Grund hasst, aber es ist sein Grund, nicht der unsere.“ Er sieht eine andere Welt als die unsere, und in dieser Welt sind wir der Feind. Warum hassen sie uns? Harris antwortet: „Sie hassen uns, weil wir ihr Feind sind.“[2]

Was auch immer an Harris’ Darlegungen im Detail richtig oder falsch sein mag, die allgemeine Aussage ist tiefgründig und wahr. Es mag sein, dass wir blauäugig sind, wenn wir denken, dass die Art und Weise, wie wir – d.h. unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unsere Zivilisation – die Dinge sehen, die einzige ist oder zumindest diejenige, welche jeder wählen würde, wäre er vor die Wahl gestellt. Dieser gefährliche Irrtum lässt sich nur durch ein völliges Unverständnis der Geistesgeschichte erklären. Als Moctezuma, der Herrscher der Azteken, 1520 Hernán Cortés, den Anführer der spanischen Expedition, traf, nahm er an, er würde einem zivilisierten Mann aus einem zivilisierten Volk begegnen. Dieser Fehler kostete ihn das Leben, und innerhalb eines Jahres gab es keine aztekische Zivilisation mehr. Nicht jeder sieht die Welt so wie wir, und, wie Richard Weaver es einmal formulierte: „Das Problem mit der Menschheit ist, dass sie vergisst, das Protokoll der letzten Sitzung zu lesen.“[3]

Dies erklärt den Sinn des ungewöhnlichen Befehls am Ende unseres Wochenabschnitts. Die Israeliten waren der scheinbar unaufhaltsamen Gefahr der Streitwagen der ägyptischen Armee, der militärischen Spitzentechnologie ihrer Zeit, entkommen. Durch ein Wunder teilte sich das Meer, die Israeliten durchquerten es. Die Ägypter aber, deren Wagenräder im Schlamm stecken blieben, konnten weder vor noch zurück und wurden von der über sie hereinbrechenden Flut eingeholt.

Die Israeliten sangen Gott ein Lied, endlich schienen sie frei zu sein. Doch da geschah etwas Unerwartetes: Sie wurden von einem neuen Feind angegriffen, den Amalekitern, einem in der Wüste lebenden Nomadenvolk. Moses beauftragte Josua, das Volk in die Schlacht zu führen. Sie kämpften und siegten. Aber die Tora macht deutlich, dass dies keine gewöhnliche Schlacht war:

Da sprach Gott zu Moses: „Schreibe dies zum Gedächtnis auf eine Schriftrolle, und sorge dafür, dass Josua es hört: dass Ich den Namen Amaleks vollständig auslöschen werde, so weit der Himmel reicht.“ Da baute Moses einen Altar und nannte ihn Gott ist mein Banner. Und er sprach: „Weil seine Hand wider den Thron Gottes, darum führt der Ewige Krieg wider Amalek für alle Generationen“ (Exod. 17:14-16).

Dies ist eine sehr merkwürdige Aussage, die in deutlichem Gegensatz zu der Art und Weise steht, wie die Tora über die Ägypter spricht. Die Amalekiter griffen Israel zu Moses’ Lebzeiten nur einmal an. Die Ägypter hingegen unterdrückten und versklavten die Israeliten über einen langen Zeitraum und machten sich überdies daran, einen langsamen Völkermord zu begehen, indem sie jedes männliche israelitische Kind töteten. Der gesamte Tenor der Erzählung lässt vermuten, dass Ägypten – so überhaupt eine Nation – das Symbol des Bösen sein müsse.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Im Deuteronomium heißt es: „Du sollst den Ägypter nicht verabscheuen, denn du warst ein Fremder in seinem Land“ (Deut. 23:8). Kurz darauf wiederholt Moses das Gebot über die Amalekiter und fügt ein wichtiges Detail hinzu:

Denke daran, was Amalek dir angetan hat auf dem Wege, als ihr aus Ägypten zoget. Als du müde und erschöpft warst, traten sie dir auf deinem Weg entgegen und griffen alle an, die nachhinkten; sie hatten keine Furcht vor Gott… Du sollst den Namen Amaleks unter dem Himmel auslöschen. Vergiss es nicht! (Deut. 25:17-19).

Uns wird befohlen, Ägypten nicht zu hassen, aber das, was uns Amalek angetan hat, niemals zu vergessen. Warum der Unterschied? Die einfachste Antwort ist, uns die Aussage der Rabbiner in den Sprüchen der Väter zu vergegenwärtigen: „Wenn die Liebe von einem bestimmten Grund abhängt, dann endet auch die Liebe, wenn ihre Ursache aufhört. Hängt die Liebe jedoch nicht von einem bestimmten Grund ab, dann endet sie nie.“[4] Dasselbe gilt für den Hass. Wenn dem Hass eine bestimmte Ursache zugrunde liegt, endet er mit der Auflösung seiner Ursache. Grundloser Hass aber ist von ewiger Dauer.

Die Ägypter unterdrückten die Israeliten, weil, wie Pharao selbst sagte, „die Israeliten zu zahlreich und stark werden“ (Exod. 1:9). Mit anderen Worten: Ihr Hass kam aus der Furcht, er war nicht irrational. Die Ägypter waren schon einmal von einer Gruppe Fremder, den Hyksos, angegriffen und besiegt worden. Die Erinnerung an diese Zeit war ihnen noch immer lebendig und schmerzlich gegenwärtig. Das Volk der Amalekiter wurde jedoch nicht von den Israeliten bedroht. Sie griffen ein Volk an, das „müde und erschöpft“ war, konkret diejenigen, die „nachhinkten“. Kurz gesagt: Die Ägypter fürchteten die Israeliten, weil sie stark waren. Die Amalekiter hingegen griffen die Israeliten an, weil sie schwach waren.

In der heutigen Terminologie waren die Ägypter rationale Akteure, die Amalekiter aber nicht. Mit rationalen Akteuren kann man einen Frieden aushandeln. Menschen, die in einen Konflikt verwickelt sind, erkennen schließlich, dass sie nicht nur ihre Feinde zerstören, sondern auch sich selbst. Das sagten die Berater des Pharao nach sieben Plagen zu ihm: „Begreifst du noch nicht, dass Ägypten zugrunde geht?“ (Exod. 10:7). Es kommt der Augenblick, da rationale Akteure sich bewusst werden, dass jedes weitere Streben nach Eigennutz selbstzerstörerisch ist, und sie bereit sind, zu kooperieren.

Bei nicht-rationalen Akteuren ist dies jedoch nicht der Fall. Emil Fackenheim, einer der großen Theologen nach dem Holocaust, vermerkte, dass die Deutschen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Züge mit Nachschub für ihre eigene Armee umleiteten, um Juden in die Vernichtungslager zu transportieren. Sie waren so sehr von Hass getrieben, dass sie bereit waren, ihren eigenen Sieg aufs Spiel zu setzen, um die systematische Ermordung der europäischen Juden durchzuführen. Dies sei das Böse um des Bösen willen.[5]

Amalek fungiert im jüdischen Gedächtnis als „der Feind“ im Sinne von Lee Harris. Das jüdische Gesetz sieht jedoch zwei völlig unterschiedliche Formen des Handelns gegenüber Amalek vor. Die erste ist der Befehl, physischen Krieg gegen sie zu führen. Das war Samuels Geheiß an Schaul, ein Befehl, den er nicht in Gänze ausführte. Gilt dieses Gebot auch heute noch?

Die eindeutige Antwort von Rabbi Nachum Rabinovitch lautet: „Nein.“[6] Maimonides entschied, dass das Gebot, Amalek zu vernichten, nur dann gilt, wenn sie sich weigern, Frieden zu schließen und die sieben Gesetze Noahs anzunehmen. Des Weiteren erklärte er, dass das Gebot nicht mehr anwendbar sei, da der Assyrer Sennacherib die von ihm eroberten Völker verschleppt und umgesiedelt habe, so dass es nicht mehr möglich sei, die ethnische Zugehörigkeit eines der ursprünglichen Völker zu bestimmen, gegen die den Israeliten geboten war zu kämpfen. In seinem Führer der Unschlüssigen sagte er zudem, dass das Gebot nur für Menschen mit einer bestimmten biologischen Abstammung gelte und nicht allgemein auf Feinde oder Hasser des jüdischen Volkes anzuwenden sei. Der Befehl, Krieg gegen Amalek zu führen, hat also unter diesen Umständen keine praktische Anwendung mehr.

Es gibt jedoch ein weiteres Gebot, dass sich von dem der Kriegsführung unterscheidet. Es ist dies das Gebot, sich an Amalek zu „erinnern“ und „nicht zu vergessen“. Wir erfüllen es jährlich, indem wir am Schabbat Sachor, dem Schabbat vor Purim, den Abschnitt über das Gebot der Amalekiter lesen, wie er im Deuteronomium steht (die Verbindung zu Purim besteht darin, dass Haman, der „Agagiter“, als Nachkomme von Agag, dem König der Amaleks, angesehen wird). Hier ist Amalek eher Symbol als physische Realität.

Indem das Judentum in seiner Reaktion auf diese Weise differenziert, nimmt es eine klare Unterscheidung vor: zwischen einem alten Feind, der nicht mehr existiert, und dem Bösen, das dieser Feind verkörperte und das jederzeit und an jedem Ort wieder ausbrechen kann. In Zeiten des Friedens ist es zuweilen leicht, das Böse zu vergessen, das direkt unter der Oberfläche des menschlichen Herzens fortbesteht. Nie hat sich dies mehr bewahrheitet als in den letzten drei Jahrhunderten. Mit der Geburtsstunde der Aufklärung, mit dem Eintreten für Toleranz, Emanzipation, Liberalismus und Menschenrechte glaubten viele, darunter auch die Juden, dass das kollektive Böse so ausgestorben sei wie Amalek. Das Böse existierte damals, nicht mehr heute. Dieses Zeitalter brachte schließlich Nationalismus, Faschismus, Kommunismus, zwei Weltkriege, einige der brutalsten Tyranneien, die es je gab, und die schlimmsten Verbrechen von Menschen gegen Menschen hervor.

Die vorherrschende Gefahr heutzutage ist der Terrorismus. Hier sind die Worte des politischen Philosophen Michael Walzer aus Princeton besonders treffend:

Wo immer wir Terrorismus sehen, sollten wir auch Tyrannei und Unterdrückung vermuten… Terroristen wollen herrschen, und Mord ist ihre Methode. Sie haben ihre eigene interne Polizei, Todesschwadronen, lassen Menschen einfach verschwinden. Zuerst töten oder schüchtern sie all jene Kameraden ein, die sich ihnen in den Weg stellen, und dann fahren sie fort, dasselbe mit den Menschen zu tun, die sie zu vertreten vorgeben. Wenn Terroristen erfolgreich sind, herrschen sie tyrannisch, und das Volk trägt, ohne gefragt zu werden, die Kosten der Herrschaft der Terroristen.[7]

Das Böse stirbt nie aus und erfordert – so wie die Freiheit – immer und überall unsere höchste Wachsamkeit. Wir sind aufgefordert, uns zu erinnern, nicht um der Vergangenheit, sondern um der Zukunft willen, nicht um der Rache willen, sondern um das Gegenteil zu erreichen: eine Welt frei von Rache und anderen Formen von Gewalt.

Lee Harris beginnt Civilization and its Enemies mit den Worten: „Das Thema dieses Buches ist das Vergessen“,[8] und er endet mit einer Frage: „Kann der Westen die Vergesslichkeit überwinden, die die Nemesis jeder erfolgreichen Zivilisation ist?“[9] Deshalb wird uns befohlen, uns an Amalek zu erinnern und es niemals zu vergessen, nicht weil das historische Volk noch existiert, sondern weil eine Gesellschaft von rationalen Akteuren manchmal glauben mag, dass die Welt voller rationaler Akteure sei, mit denen man Frieden aushandeln kann. Dies trifft aber nicht immer zu.

Selten war eine biblische Botschaft so relevant für die Zukunft des Westens und der Freiheit selbst. Frieden ist möglich, sagt Moses, sogar mit einem Ägypten, das uns versklavt und zu vernichten versucht. Aber Frieden ist nicht möglich mit denen, die Menschen angreifen, die sie für schwach halten, und die ihrem eigenen Volk die Freiheit verweigern, für die sie zu kämpfen vorgeben. Die Freiheit hängt von unserer Fähigkeit ab, uns an die „ewige Bande rücksichtsloser Menschen“,[10] das historische Gesicht Amaleks, zu erinnern und ihr, wenn nötig, entgegenzutreten. Manchmal kann es tatsächlich keine andere Möglichkeit geben, als das Böse zu bekämpfen und es zu besiegen. Dies könnte der einzige Weg zum Frieden sein.

[1] Lee Harris, Civilization and its Enemies (New York, Free Press, 2004), The Suicide of Reason (New York, Basic Books, 2008).

[2] Ibid., xii-xiii.

[3] Weaver, Ideas Have Consequences (Chicago, University of Chicago Press, 1948), S. 176.

[4] Mischna Awot 5:16.

[5] Emil L. Fackenheim und Michael L. Morgan, Das jüdische Denken von Emil Fackenheim: A Reader (Detroit, Wayne State University Press, 1987), S. 126.

[6] Rabbi N. L. Rabinovitch, Sche’ejlot Uteschuwot Melumdej Milchama (Maale Adumim, Machon Maaliyot, 1993), S. 22-25.

[7] Michael Walzer, Arguing About War (Yale University Press, 2004), S. 64-65.

[8] Harris, Zivilisation, S. xi.

[9] Ibid., S. 218.

[10] Ibid., S. 216.

  1. Worin besteht der Unterschied zwischen dem uns von der Tora gebotenen Verhältnis zu Ägypten und unserer Beziehung zu Amalek? Und warum?
  2. Gibt es Amalek auch heute noch?
  3. Welche Lehren können wir aus der biblischen Botschaft, Amalek nie zu vergessen, für unsere eigene Zeit ziehen?

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