Jul ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Das kleinste unter den Völkern

ast unauffällig steht in der Parascha dieser Woche ein kurzer Satz von explosivem Potenzial, der uns veranlasst, sowohl das Charakteristische an der jüdischen Geschichte als auch die jüdische Aufgabe in der Gegenwart neu zu durchdenken.

Moses erinnert eine neue Generation, die Kinder derer, die aus Ägypten auszogen, an die außergewöhnliche Geschichte, deren Erben sie sind:

Ist etwas so Großes wie dies je geschehen, hat man dergleichen je gehört? Hat je ein Volk die Stimme eines Gottes mitten aus dem Feuer reden hören, wie du es getan hast, und ist leben geblieben? Hat je ein Gott versucht, hinzugehen, um ein Volk mitten aus einem anderen Volke herauszuholen, unter Prüfungen, Zeichen und Wundern, unter Kämpfen, mit mächtiger Hand und ausgestrecktem Arm und unter großen furchtbaren Taten, so wie es der Ewige, euer Gott, in Ägypten vor euren Augen für euch getan hat? (Deut. 4:32-34).

Noch haben die Israeliten den Jordan nicht überquert. Noch haben sie nicht ihre Existenz als souveräne Nation in ihrem eigenen Land begonnen. Und doch weiß Moses mit einer Gewissheit, die nur prophetisch sein konnte, dass sie ein Volk wie kein anderes waren. Was sich mit ihnen ereignet hatte, ist einzigartig. Sie waren und sind ein Volk, das zur Größe berufen ist.

Moses erinnert sie an die große Offenbarung am Berge Sinai, an die Zehn Gebote, und liefert die berühmteste aller Zusammenfassungen jüdischen Glaubens: „Höre, Israel! Der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig“ (Deut. 6:4). Er erteilt ihnen das majestätischste aller Gebote: „Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft“ (Deut. 6:5). Zwei Mal sagt er dem Volk, dass es all dies seinen Kindern lehren soll. Er gibt ihnen ihr ewiges Leitbild als Nation: „Du bist dem Ewigen, deinem Gotte, ein heiliges Volk. Der Ewige, dein Gott, hat dich aus allen Völkern auf Erden erwählt, um Sein Volk zu sein, Sein kostbarer Besitz“ (Deut. 7:6).

Dann sagt er dies:

Nicht weil ihr zahlreicher seid als alle anderen Völker, trug Gott Verlangen nach euch und hat euch erwählt, denn ihr seid das kleinste unter allen Völkern (Deut. 7:7).

Das kleinste unter allen Völkern? Was ist aus all den Verheißungen aus dem Buch Bereischit geworden, dass Abrahams Kinder zahlreich sein würden, ungezählt, so viele wie die Sterne am Himmel, der Staub der Erde und die Sandkörner am Meeresufer? Was ist mit Moses’ eigener Bekundung am Anfang von Dewarim: „Der Ewige, euer Gott, hat euch vermehrt, so dass ihr heute so zahlreich seid wie die Sterne am Himmel“ (Deut. 1:10)?

Die einfache Antwort ist diese. Die Israeliten waren tatsächlich zahlreich im Vergleich zu dem, was sie einst waren. Moses selbst drückt es in der Parascha kommender Woche so aus: „Mit siebzig Seelen sind deine Vorfahren nach Ägypten hinabgezogen, und nun hat dich der Ewige, dein Gott, so zahlreich gemacht wie die Sterne am Himmel“ (Deut. 10:22). Einst waren sie eine einzige Familie, Abraham, Sara und ihre Nachkommen, und jetzt sind sie eine Nation von zwölf Stämmen.

Aber – und das ist der Punkt, auf den Moses hier hinaus will – im Vergleich zu anderen Nationen waren sie immer noch klein. „Wenn der Ewige, dein Gott, dich in das Land bringen wird, in das du ziehest, um es in Besitz zu nehmen, und Er die vielen Völker vor dir vertreiben wird – die Hethiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und mächtiger sind als du…“ (Deut. 7:1). Mit anderen Worten: Die Israeliten waren nicht nur kleiner als die großen Reiche des Altertums, sie waren selbst kleiner als die anderen Nationen in der Region. Im Vergleich zu ihren Ursprüngen waren sie exponentiell gewachsen, aber im Vergleich zu ihren Nachbarn blieben sie winzig.

Moses eröffnet ihnen dann, was dies bedeutet:

Wenn du dich fragen solltest: Diese Völker sind stärker als ich. Wie werde ich vermögen, sie zu vertreiben? Aber fürchte dich nicht vor ihnen; erinnere dich gut daran, was der Ewige, dein Gott, Pharao und ganz Ägypten getan hat (Deut. 7:17-18).

Israel wird das kleinste unter den Völkern sein, aus einem Grund, der zum Kern seiner Existenz als Nation vorstößt: Sie werden der Welt zeigen, dass ein Volk nicht groß sein muss, um groß zu sein. Es muss nicht zahlreich sein, um seine Feinde zu besiegen. Israels einzigartige Geschichte wird zeigen, dass, mit den Worten des Propheten Sacharja: „‚Nicht durch Macht und nicht durch Stärke, sondern durch meinen Geist‘, so spricht Gott, der Allmächtige“ (Sach 4:6).

In sich sollte Israel etwas bezeugen, das seine eigene Größe weit übersteigen würde. Wie der frühere marxistische Philosoph Nicolay Berdyaev es ausdrückte:

Ich entsinne mich, dass ich in meiner Jugend den Versuch unternahm, die materialistische Interpretation der Geschichte zu verifizieren, indem ich sie auf die Schicksale verschiedener Völker anwendete. Im Fall der Juden, wo das Schicksal vom materialistischen Standpunkt aus absolut unerklärlich schien, scheiterte dieser Versuch jedoch. Ihr Überleben ist ein geheimnisvolles und wunderbares Phänomen, das zeigt, dass das Leben dieses Volkes von einer besonderen Vorbestimmung geprägt ist, die über die von der materialistischen Geschichtsauffassung dargelegten Anpassungsprozesse hinausgeht. Das Überleben der Juden, ihre Resistenz gegen die Vernichtung, ihre Widerstandsfähigkeit unter absolut sonderlichen Bedingungen und die schicksalhafte Rolle, die sie in der Geschichte spielen: all dies weist auf das besondere und geheimnisvolle Fundament ihres Schicksals hin.[1]

Moses’ Aussage ist für die jüdische Identität von immenser Bedeutung. Die These, die sich durch das diesjährige Covenant & Conversation zieht, ist, dass Juden einen Einfluss haben, der in keinem Verhältnis zu ihrer Zahl steht, weil wir alle aufgerufen sind, Führer zu sein, Verantwortung zu übernehmen, einen Beitrag zu leisten, das Leben anderer zu verändern, die göttliche Gegenwart in die Welt zu bringen. Gerade weil wir klein sind, ist jeder von uns zu Großem berufen.

Samuel Joseph Agnon, der große hebräische Schriftsteller, verfasste ein Gebet, um das Kaddisch der Trauernden zu begleiten. Er bemerkte, dass die Kinder Israels im Vergleich zu anderen Nationen immer nur wenige waren. Des Weiteren sagte er, dass ein Monarch, der über eine große Bevölkerung regiert, es nicht bemerkt, wenn ein Einzelner stirbt, denn es gibt andere, die seinen Platz einnehmen. „Aber unser König, der König der Könige, der Heilige, gelobt sei Er … hat uns erwählt, und nicht, weil wir eine große Nation sind, denn wir sind eine der kleinsten Nationen. Wir sind wenige, und infolge der Liebe, mit der Er uns liebt, ist jeder von uns für Ihn gleich einer ganze Legion. Er hat nicht viele Substitutionen für uns. Fehlt, Gott behüte, einer von uns, dann sind die Streitkräfte des Königs gewissermaßen verringert, was zur Folge hat, dass sein Reich gleichsam geschwächt ist. Eine Seiner Legionen fehlt, und Seine Größe ist vermindert. Aus diesem Grund ist es unser Brauch, das Kaddisch zu rezitieren, wenn ein Jude stirbt.“[2]

Margaret Mead sagte einmal: „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe von bedachten, engagierten Bürgern die Welt verändern kann. In der Tat wurde nur so jemals Veränderung bewirkt.“ Gandhi sagte: „Eine kleine Gruppe entschlossener Geister, befeuert von einem unauslöschlichen Glauben an ihre Mission, kann den Lauf der Geschichte verändern.“[3]  Das muss unser Glaube als Juden sein. Wir mögen das kleinste aller Völker sein, aber wir haben in unserer Vergangenheit schon oft bewiesen, dass, wenn wir Gottes Ruf beherzigen, wir die Fähigkeit haben, die Welt zu heilen und zu verbessern.

[1] Nicolay Berdyaev, The Meaning of History (Transaction Publishers, 2005), S. 86.

[2] Zitiert in Leon Wieseltier, Kaddish (London: Picador, 1998), S. 22-23.[3] Harijan, 19. November 1938.