Jun ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Verlusttrauma heilen

   Ich habe zwei Jahre gebraucht, um über den Tod meines Vaters sel.Ang. hinwegzukommen. Bis heute, fast zwanzig Jahre später, bin ich mir nicht sicher, warum. Er starb weder plötzlich noch jung. Er war weit über achtzig Jahre alt. In den letzten Jahren seines Lebens musste er sich fünf Operationen unterziehen, von denen jede seine Kräfte ein wenig mehr schwächte. Zudem war es meine Aufgabe als Rabbiner, bei Beerdigungen zu amtieren und die Hinterbliebenen zu trösten. Ich wusste also, wie Trauer aussieht.

Die Weisen äußerten sich kritisch über jemanden, der zu lange und zu viel trauert.[1] Sie sagten, dass Gott selbst zu einem solchen Menschen sagt: „Bist du etwa mitfühlender als Ich?“ Maimonides legt die Halacha so fest:

„Man soll über den Tod eines Menschen nicht übermäßig betrübt sein, denn es heißt: ,Weint nicht um den Toten und beklagt ihn nicht‘ (Jer. 22:10). Das heißt: Weint nicht zu viel. Denn der Tod ist der Lauf der Welt, und wer über den Lauf der Welt zu sehr trauert, ist ein Narr.“[2]

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, liegt die äußerste Grenze der Trauer nach jüdischem Recht bei einem Jahr, nicht darüber.

Doch das Wissen um diese Dinge hat nicht geholfen. Wir sind nicht immer Herr unserer Gefühle. Auch andere zu trösten, bereitet nicht auf die eigene Verlusterfahrung vor. Das jüdische Gesetz regelt das äußere Verhalten, nicht die inneren Empfindungen, und wenn es von Gefühlen spricht, wie etwa das Gebot zu lieben und nicht zu hassen, dann übersetzt die Halacha dies in der Regel im Sinne von Verhaltensweisen, wobei sie davon ausgeht, wie es im Sefer Hachinuch heißt, dass „das Herz der Tat folgt“.[3]

Ich fühlte ein existenzielles schwarzes Loch, eine Leere im Innersten des Seins. Es betäubte meine Empfindungen, so dass ich weder schlafen noch mich konzentrieren konnte, als ob das Leben sich in weiter Ferne abspielte und ich ein Zuschauer eines verschwommenen Films mit abgeschaltetem Ton wäre. Irgendwann ging dieser Zustand vorüber, aber während er anhielt, machte ich einige der schlimmsten Fehler meines Lebens.

Ich erwähne diese Dinge, weil sie sich wie ein roter Faden durch Paraschat Chukat ziehen. Die auffälligste Episode ist wohl die, in der sich das Volk über den Mangel an Wasser beklagt. Moses begeht einen Fehler, und obwohl Gott zwar Wasser aus einem Felsen fließen lässt, verurteilt er Moses gleichzeitig zu einer schier unerträglichen Strafe: „Weil ihr Mir nicht genug vertraut habt, um Mich vor den Israeliten zu heiligen, sollt ihr diese Gemeinde nicht in das Land führen, das Ich ihnen gegeben habe“ (Num 20:12).

Die Kommentatoren sind sich uneins, worin genau sein Fehler bestand. War es, dass er gegenüber dem Volk die Beherrschung verlor („Hört zu, ihr Rebellen“ [Num. 20:10])? Oder dass er auf den Felsen einschlug, anstatt mit ihm zu reden? Dass er also den Eindruck erweckte, nicht Gott, sondern er und Aaron seien für das Wasser verantwortlich („Sollen wir für euch Wasser aus diesem Felsen holen?“ [Num 20:10])?

Noch rätselhafter ist, warum er gerade in diesem Moment die Beherrschung verlor. Er hatte schon früher vor dem gleichen Problem gestanden, aber nie die Fassung verloren. In Exodus 15 beschwerten sich die Israeliten in Mara, dass das Wasser ungenießbar sei, weil es bitter war. In Exodus 17 beklagten sie sich in Massa und Meriwa, dass es dort kein Wasser gab. Daraufhin befahl Gott Moses, seinen Stab zu nehmen und auf den Felsen zu schlagen, worauf Wasser aus dem Gestein floss. Wenn also Gott in unserer Parascha zu Moses sagt: „Nimm den Stab … und sprich zu dem Felsen“, war es sicher ein entschuldbarer Irrtum anzunehmen, dass Gott damit auch meinte, er solle ihn auch schlagen. Immerhin hatte Er das beim letzten Mal gesagt. Moses folgte einem Präzedenzfall. Und wenn Gott nicht wollte, dass er den Felsen schlug, warum befahl Er ihm dann, seinen Stab zu nehmen?

Noch schwieriger zu verstehen ist die Reihenfolge der Ereignisse. Gott hatte Moses bereits genau gesagt, was er zu tun hatte. Versammle das Volk. Rede mit dem Fels, so wird Wasser fließen. Das war, bevor Moses seine unbeherrschte Rede hielt, die mit den Worten begann: „Hört zu, ihr Rebellen!“ Es ist verständlich, dass man die Nerven verliert, wenn man sich mit einem scheinbar unlösbaren Problem konfrontiert sieht. Das ging Moses schon so, als das Volk über den Mangel an Fleisch klagte. Aber es macht keinerlei Sinn, dies zu tun, wenn Gott bereits gesagt hat: „Sprich zu dem Felsen … Er wird sein Wasser sprudeln lassen und du wirst ihnen Wasser aus dem Felsen bringen, und so wirst du der Gemeinde und ihrem Vieh Wasser zu trinken geben.“ Moses war der Schlüssel zur Lösung des Problems bereits gegeben worden. Warum war er dann so aufgebracht?

Erst nachdem ich meinen Vater verloren hatte, verstand ich diese Passage. Was hatte sich unmittelbar zuvor ereignet? Im ersten Vers des Kapitels heißt es: „Und das Volk machte Rast in Kadesch. Dort starb Miriam und wurde begraben.“ Erst danach heißt es, dass das Volk kein Wasser hatte. Eine frühe Überlieferung erklärt, dass das Volk bis dahin durch Miriams Verdienst mit einer wunderbaren Wasserquelle gesegnet war. Als sie starb, versiegte das Wasser.

Mir scheint jedoch, dass der tiefere Zusammenhang nicht zwischen Miriams Tod und dem Ausbleiben des Wassers besteht, sondern zwischen ihrem Tod und dem Verlust des emotionalen Gleichgewichts von Moses. Miriam war seine ältere Schwester. Sie hatte über sein Schicksal gewacht, als er als Baby in einen Korb gelegt wurde und den Nil hinuntertrieb. Sie hatte den Mut und die Eigeninitiative gehabt, mit der Tochter des Pharaos zu sprechen und vorzuschlagen, dass er von einer Hebräerin gestillt werden sollte, um so Moses und seine Mutter wieder zu vereinen und dafür zu sorgen, dass er in dem Bewusstsein aufwuchs, wer er war und zu welchem Volk er gehörte. Er verdankte ihr sein Identitätsgefühl. Ohne Miriam hätte er niemals das menschliche Antlitz Gottes für die Israeliten werden können, der Gesetzgeber, Befreier und Prophet. Als er sie verlor, verlor er nicht nur seine Schwester. Er verlor auch die menschliche Grundlage seines Lebens.

In der Trauer verliert man die Kontrolle über seine Emotionen. Man wird wütend, wenn die Situation Ruhe verlangt. Man schlägt, wenn man reden sollte, und spricht, wenn man schweigen sollte. Selbst wenn Gott einem sagt, was man tun soll, hört man nur halb zu. Man hört die Worte, aber sie dringen nicht ganz in den Geist ein. Maimonides wirft die Frage auf, wie es sein kann, dass Jakob, ein Prophet, nicht wusste, dass sein Sohn Josef noch am Leben war. Er antwortet, weil er sich in einem Zustand der Trauer befand, und die Schechina stellt sich nicht ein, wenn man sich in einem Zustand der Trauer befindet.[4] Moses auf dem Felsen war nicht so sehr ein Prophet als vielmehr ein Mann, der gerade seine Schwester verloren hatte. Er war untröstlich und konnte sich nicht beherrschen. Er war der größte aller Propheten. Aber er war auch ein Mensch, selten so sehr wie hier.

In unserer Parascha geht es um die Sterblichkeit. Das ist der Punkt. Gott ist ewig, wir sind vergänglich. Wie wir im Unetane Tokef-Gebet an Rosch Haschana und Jom Kippur sagen, sind wir „eine Tonscherbe, ein Grashalm, eine Blume, die vergeht, ein Schatten, eine Wolke, ein Windhauch.“ Wir sind Staub und kehren zum Staub zurück, aber Gott ist das ewige Leben.

Auf einer Ebene ist „Moses am Felsen“ eine Geschichte über Sünde und Strafe: „Weil ihr Mir nicht genug vertraut habt, um Mich zu heiligen, sollt ihr diese Gemeinde nicht in das Land führen, das Ich ihnen gegeben habe.“ Wir wissen vielleicht nicht, was genau die Sünde war oder warum sie eine so harte Strafe verdiente, aber wir kennen zumindest den Rahmen, das Gebiet, in dem sich die Geschichte abspielt.

Dennoch scheint mir, dass es hier – wie an so vielen anderen Stellen in der Tora – eine Geschichte hinter der Geschichte gibt, und zwar eine ganz andere. In Chukat geht es um Tod, Verlust und Trauer. Miriam stirbt. Aaron und Moses erfahren, dass sie den Einzug in das Gelobte Land nicht mehr erleben werden. Aaron stirbt, und das Volk trauert dreißig Tage lang um ihn. Zusammen waren sie das größte Führungsteam, das das jüdische Volk je gekannt hatte: Moses der höchste aller Propheten, Aaron der erste Hohepriester, und Miriam vielleicht die größte von allen.[5] Unsere Parascha sagt uns, dass es für jeden von uns einen Jordan gibt, den wir nicht überqueren, ein verheißenes Land, das wir nicht betreten werden. „Es liegt nicht an dir, die Aufgabe zu vollenden.“ Selbst die Größten sind sterblich.

Aus diesem Grund beginnt die Parascha mit dem Ritual der Roten Kuh, deren Asche, vermischt mit der Asche von Zedernholz, Ysop und scharlachroter Wolle und aufgelöst in „lebendigem Wasser“, über denjenigen gestreut wird, der mit den Toten in Berührung gekommen ist, damit sie das Heiligtum betreten können.

Das ist eines der Grundprinzipien des Judentums: Der Tod verunreinigt. Für die meisten Religionen der Geschichte war das Leben nach dem Tod realer als das Leben selbst. Dort wohnen die Götter, dachten die Ägypter. Dort leben unsere Vorfahren, glaubten Griechen und Römer und viele Naturvölker. Dort gibt es Gerechtigkeit, dachten viele Christen. Dort ist das Paradies, meinten viele Muslime.

Das Leben nach dem Tod und die Auferstehung der Toten sind nicht verhandelbare Grundprinzipien des jüdischen Glaubens, aber der Tanach schweigt auffallend dazu. Er konzentriert sich darauf, Gott in diesem Leben, auf diesem Planeten zu finden, ungeachtet unserer Sterblichkeit. „Die Toten loben Gott nicht“, heißt es im Psalm (115:17). Gott ist im Leben selbst zu finden, mit all seinen Risiken und Gefahren, seinen Verlusten und Leiden. Wir sind vielleicht nur „Staub und Asche“ (Gen. 18:27), wie Abraham sagt, aber das Leben selbst ist ein nie versiegender Strom, „lebendiges Wasser“, und das symbolisiert der Ritus der Roten Kuh.

Mit großer Raffinesse vermischt die Tora Gesetz und Erzählung miteinander – das Gesetz vor der Erzählung, weil Gott die Heilung vor der Krankheit bereitstellt. Miriam stirbt. Moses und Aaron sind von Trauer überwältigt. Moses verliert für einen Moment die Kontrolle, und er und Aaron werden daran erinnert, dass auch sie sterblich sind und sterben werden, bevor sie das Land betreten. Aber dies ist, wie Maimonides sagte, „der Lauf der Welt“. Wir sind verkörperte Seelen. Wir sind aus Fleisch und Blut. Wir werden alt. Wir verlieren jene, die wir lieben. Äußerlich versuchen wir die Fassung zu bewahren, aber innerlich weinen wir. Aber das Leben geht weiter, und was wir begonnen haben, werden andere fortsetzen.

Die, die wir geliebt und verloren haben, leben in uns weiter, so wie wir in denen weiterleben werden, die wir lieben. Denn die Liebe ist stark wie der Tod,[6] und das Gute, das wir tun, stirbt nie.[7]

[1] Mo’ed Katan 27b.

[2] Maimonides, Hilchot Awel 13:11.

[3] Sefer Hachinuch, Gebot 16.

[4] Maimonides, Schemone Perakim, Kap. 7, basierend auf Pessachim 117a.

[5] Es gibt viele Midraschim zu dem Motiv von Miriams Glauben, Mut und Weitsicht.

[6] Hohelied 8:6.

[7] Siehe Sprüche 10:2 und 11:4.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier