Mrz ‍‍2024 - תשפד / תשפה

Zwischen Wahrheit und Frieden

   Ki Tissa berichtet von einem besonders schockierenden Moment während der vierzig Jahre in der Wüste. Weniger als sechs Wochen nach der größten Offenbarung in der Geschichte der Religion – Israels Begegnung mit Gott am Berg Sinai – machten sie ein goldenes Kalb. Entweder war dies Götzendienst oder kam dem gefährlich nahe und veranlasste Gott, zu Moses, der bei ihm auf dem Berg war, zu sagen: „Versuche nicht, Mich aufzuhalten, wenn Ich Meinen Zorn über sie entbrennen lasse, um sie zu vernichten“ (Exod. 32:10).

Worauf ich hier näher eingehen möchte, ist die Rolle Aarons, der in Moses’ Abwesenheit de facto der Führer des Volkes war und an den sich die Israeliten mit ihrem Vorschlag wandten:

„Das Volk merkte, dass Moses lange brauchte, um vom Berg herunterzukommen. Sie versammelten sich um Aaron und sagten zu ihm: ‚Mach uns einen Gott [oder ein Orakel], der uns vorausgeht. Denn wir wissen nicht, was mit Moses geschehen ist, dem Mann, der uns aus Ägypten geführt hat‘“ (Exod. 32:1).

Es war Aaron, der die Gefahr hätte erkennen müssen, Aaron, der sie hätte aufhalten müssen, Aaron, der ihnen hätte sagen müssen, sie sollten warten, Geduld haben und Vertrauen. Stattdessen aber geschah Folgendes:

„Aaron antwortete ihnen: ‚Nehmt die goldenen Ohrringe ab, die eure Frauen, Söhne und Töchter tragen, und bringt sie zu mir.‘ Da nahmen sie alle ihre Ohrringe ab und brachten sie zu Aaron. Er nahm, was sie ihm reichten, bearbeitete es mit einem Meißel und machte ein geschmolzenes Kalb daraus. Dann sagten sie: ‚Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägypten herausgeführt hat.‘ Als Aaron das sah, baute er einen Altar vor dem Kalb und verkündete: ‚Morgen ist dem Ewigen ein Fest.‘ Am nächsten Tag stand das Volk früh auf und brachte Brandopfer und Friedensopfer dar. Danach setzten sie sich hin, um zu essen und zu trinken, und hernach standen sie auf und vergnügten sich übermütig“ (Exod. 32:2-6).

Die Tora selbst scheint Aaron die Schuld zu geben, wenn nicht für das, was er getan hat, so doch für das, was er zugelassen hat:

„Moses sah, dass das Volk außer Rand und Band war und dass Aaron es außer Kontrolle hatte geraten lassen, so dass es zum Gespött seiner Feinde wurde“ (Exod. 32:25).

Nun war Aaron aber keine unbedeutende Figur. Er hatte die Last der Führung mit Moses geteilt. Er war bereits zum Hohepriester ernannt worden oder stand kurz davor. Was also ging ihm durch den Kopf, als sich dieses Drama abspielte?

Im Midrasch, im Sohar und bei den mittelalterlichen Kommentatoren finden sich im Wesentlichen drei Verteidigungslinien. Die erste Verteidigung, wie sie im Sohar vorgeschlagen wird, ist, dass Aaron auf Zeit gespielt hat. Seine Handlungen waren eine Reihe von Verzögerungstaktiken. Er forderte die Männer auf, die goldenen Ohrringe, die ihre Frauen, Söhne und Töchter trugen, an sich zu nehmen, weil er dachte: „Während sie mit ihren Kindern und Frauen um das Gold streiten, wird es eine Verzögerung geben, und Moses wird zurückkommen. Auch mit seiner Anweisung, am nächsten Tag einen Altar zu errichten und ein Fest für Gott auszurufen, wollte er Zeit gewinnen, denn Aaron war überzeugt, dass Moses schon unterwegs war.

Die zweite Verteidigung findet sich im Talmud und stützt sich auf die Tatsache, dass Moses, als er sich aufmachte, den Berg zu besteigen, nicht nur Aaron, sondern auch Hur mit der Führung des Volkes betraute (Exod. 24:14). In der Erzählung vom Goldenen Kalb kommt Hur allerdings nicht vor. Nach dem Talmud hatte sich Hur dem Volk widersetzt, indem er ihnen sagte, dass das, was sie tun wollten, falsch sei, worauf er von ihnen getötet wurde. Aaron sah dies und entschied, dass es das kleinere Übel sei, das Kalb zu machen:

„Aaron sah Hur erschlagen vor sich liegen und sagte zu sich selbst: Wenn ich ihnen nicht gehorche, werden sie mit mir tun, was sie mit Hur getan haben, und so wird sich [die Furcht des Propheten] erfüllen: ‚Sollen der Priester [Aaron] und der Prophet [Hur] im Heiligtum Gottes erschlagen werden?‘ Wenn das geschieht, wird ihnen nie vergeben werden. Besser ist es, sie beten das Goldene Kalb an, wofür sie durch Buße noch Vergebung finden können“ (Sanhedrin 7a).

Die dritte ist die von Ibn Esra vertretene Ansicht, dass das Kalb überhaupt kein Götze war und dass das, was die Israeliten taten, nach Aarons Meinung erlaubt war. Schließlich lautete ihre anfängliche Klage: „Wir wissen nicht, was mit Moses geschehen ist.“ Sie wollten nicht etwa Gott ersetzen, sondern Moses, ein Orakel, etwas, durch das sie Gottes Anweisungen erkennen konnten – nicht unähnlich der Funktion der Urim und Tummim, die später dem Hohepriester gegeben wurden. Diejenigen, die in dem Kalb einen Götzen sahen und sagten: „Das ist dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat“, waren nur eine kleine Minderheit – dreitausend von sechshunderttausend -, und für sie konnte Aaron nicht verantwortlich gemacht werden.

In der Auslegungstradition gibt es also einen systematischen Versuch, Aarons Schuld zu mindern oder zu minimieren – verständlich, da wir ja nicht ausdrücklich finden, dass Aaron für das Goldene Kalb bestraft wurde (obwohl Abarbanel meint, dass er später bestraft wurde). Aber bei aller Nachsicht fällt es schwer, Aaron nicht anders als schwach zu sehen, insbesondere in dem Augenblick, als Moses schließlich erscheint und eine Erklärung von ihm verlangt:

„Sei nicht böse, mein Herr“, antwortete Aaron. „Du weißt doch, wie anfällig dieses Volk für das Böse ist. Sie sagten zu mir: ‚Mach uns einen Gott, der vor uns hergeht…‘ Da sagte ich zu ihnen: ‚Wer Goldschmuck hat, soll ihn ablegen.‘ Da gaben sie mir das Gold, und ich warf es ins Feuer, und heraus kam dieses Kalb“ (Exod. 32:22-24).

Hier gibt es mehr als nur eine Andeutung jener Ausflüchte, die Saul gegenüber Samuel vorbrachte, um zu rechtfertigen, warum er die Anweisungen des Propheten nicht befolgte. Er gibt dem Volk die Schuld. Er erweckt den Eindruck, er habe keine Wahl gehabt. Er sei passiv gewesen. Die Dinge sind geschehen. Er spielt die Bedeutung des Geschehenen herunter. Das ist Schwäche, nicht Führung.

Die Art und Weise, wie die spätere Überlieferung Aaron zum Helden machte, am bekanntesten in den Worten Hillels, ist daher wahrlich außergewöhnlich:

„Seid gleich den Schülern Aarons, die den Frieden lieben, dem Frieden nachjagen, die Menschen lieben und sie zur Tora führen“ (Sprüche der Väter 1:12).

In der Tradition der Aggada gibt es berühmte Beispiele dafür, wie Aaron aus Feinden Freunde und aus Sündern Gesetzestreue machen konnte. In der Sifra heißt es, Aaron habe nie zu jemandem gesagt: „Du hast gesündigt“ – was umso bemerkenswerter ist, als es zu den Aufgaben des Hohepriesters gehörte, einmal im Jahr, am Jom Kippur, die Sünden des Volkes zu sühnen. In der Tora selbst ist jedoch nichts davon explizit zu finden. Die einzige Belegstelle, die von den Weisen angeführt wird, ist die Passage in Maleachi, dem letzten der Propheten, der über den Kohen sagt:

„Mein Bund mit ihm war Leben und Friede … Er wandelte mit Mir in Frieden und Aufrichtigkeit und wandte viele von der Sünde ab“ (Maleachi 2:5-6).

Doch Maleachi spricht vom Priestertum im Allgemeinen und nicht von der historischen Gestalt Aarons. Die vielleicht aufschlussreichste Passage ist die talmudische Diskussion über die Frage, ob Schlichtung im Gegensatz zu einem Gerichtsverfahren gut oder schlecht sei. Der Talmud stellt dies als Konflikt zwischen zwei Vorbildern, Moses und Aaron, dar:

„Moses’ Motto war: Das Gesetz soll den Berg durchdringen. Aaron hingegen liebte den Frieden, jagte dem Frieden nach und stiftete Frieden zwischen einem Menschen und seinem Nächsten“ (Sanhedrin 6b).

Moses war ein Mann des Gesetzes, Aaron ein Mann der Schlichtung (nicht dasselbe wie Schiedsgerichtsbarkeit, wird aber als ähnlich angesehen). Moses war ein Mann der Wahrheit, Aaron ein Mann des Friedens. Moses strebte nach Gerechtigkeit, Aaron nach Konfliktlösung. Zwischen diesen beiden Ansätzen besteht ein echter Unterschied. Wahrheit, Gerechtigkeit, Recht: Das sind Nullsummen-Gleichungen. Wenn X wahr ist, ist Y falsch. Wenn X richtig ist, ist Y falsch. Schlichtung, Konfliktlösung, Kompromiss, die Tugenden des Typs Aaron, sind Versuche, ein Ergebnis zu erzielen, das nicht Null ist, bei dem beide Seiten das Gefühl haben, dass sie angehört werden und ihre Forderungen zumindest teilweise anerkannt werden.

Der Talmud drückt dies brillant aus, indem er den Vers kommentiert: „Richtet die Wahrheit und die Gerechtigkeit des Friedens in euren Toren“ (Sach. 8:16). Hier fragt der Talmud, was mit der Formulierung „Gerechtigkeit des Friedens“ wohl gemeint sein könnte. „Wenn es Gerechtigkeit gibt, gibt es keinen Frieden. Gibt es Frieden, gibt es keine Gerechtigkeit. Was ist also ‚Gerechtigkeit des Friedens‘? Es bedeutet Schlichtung.“

Kehren wir nun zu Moses, Aaron und dem Goldenen Kalb zurück. Obwohl es klar ist, dass Gott und Moses das Kalb als eine große Sünde betrachteten, war Aarons Bereitschaft, das Volk zu beschwichtigen – indem er versuchte, es hinzuhalten, weil er ahnte, dass sie ihn töten und das Kalb trotzdem machen würden, wenn er einfach „Nein“ sagen würde – nicht ganz falsch. Zwar brauchte das Volk zu diesem Zeitpunkt zweifellos einen Moses und nicht einen Aaron, aber unter anderen Umständen und auf lange Sicht brauchte es beide: Moses als Stimme der Wahrheit und Gerechtigkeit, Aaron mit der sozialen Kompetenz, zu schlichten und Frieden zu stiften.

So wurde Aaron in der langen Rückschau der Tradition schließlich zum Friedensstifter. Frieden ist nicht die einzige Tugend, und Frieden zu stiften ist nicht die einzige Aufgabe einer Führungskraft. Vergessen wir nie, dass das Volk, als Aaron die Führung anvertraut wurde, ein goldenes Kalb machte. Aber wir sollten auch nie glauben, dass die Leidenschaft für Wahrheit und Gerechtigkeit allein ausreicht. Moses brauchte Aaron, um das Volk zusammenzuhalten. Kurz gesagt, Führung ist die Fähigkeit, unterschiedliche Temperamente, widersprüchliche Stimmen und gegensätzliche Werte zusammenzuhalten.

Jedes Führungsteam braucht sowohl einen „Moses“ als auch einen „Aaron“, eine Stimme der Wahrheit und eine Kraft des Friedens.

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