Jun ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Zwei Arten der Furcht

   Eine der eindringlichsten Reden, die ich je gehört habe, hielt der Lubawitscher Rebbe, Rabbi Menachem Mendel Schneerson, zur Parascha dieser Woche, der Geschichte von den Spionen. Für mich war sie nicht weniger als lebensverändernd.

Er stellte die naheliegenden Fragen. Wie konnten zehn Kundschafter nur mit einem so demoralisierenden, pessimistischen Bericht zurückkehren? Wie konnten sie sagen: „Wir können nicht gewinnen, das Volk ist stärker als wir, ihre Städte sind gut befestigt, sie sind Riesen und wir sind Heuschrecken“?

Hatten sie doch mit eigenen Augen gesehen, wie Gott eine Reihe von Plagen schickte, die Ägypten, das mächtigste und langlebigste Reich der alten Welt, in die Knie zwangen. Sie hatten gesehen, wie das ägyptische Heer mit seiner modernsten Militärtechnik, dem von Pferden gezogenen Streitwagen, im Schilfmeer ertrank, während die Israeliten es trockenen Fußes durchquerten. Ägypten war weitaus stärker als die Kanaaniter, Perisiter, Jebusiter und andere kleinere Königreiche, denen sie bei der Eroberung des Landes begegnen würden. Auch war dies keine uralte Überlieferung. All dies hatte sich erst ein Jahr zuvor ereignet.

Sie wussten auch schon, dass die Bewohner des Landes nicht gleich Riesen waren, die auf Heuschrecken trafen, sondern dass sie sich vor den Israeliten fürchteten. Hatten sie es doch selbst gesagt, als sie das Lied am Meer sangen:

„Die Völker haben es gehört, sie beben;

Die Bewohner von Philisterland sind von Schmerzen geplagt.

Nun sind die Fürsten Edoms erschrocken;

Die Mächtigen Moabs sind von Zittern ergriffen;

Alle Einwohner von Kanaan sind dahingeschmolzen.

Angst und Schrecken sind über sie gekommen;

Vor der Macht Deines Armes erstarren sie wie ein Stein“ (Exod. 15:14-16).

Die Bevölkerung des Landes fürchtete sich vor den Israeliten. Warum hatten dann die Kundschafter Angst vor ihnen?

Außerdem, so der Rebbe weiter, waren die Spione keine willkürlich aus der Bevölkerung herausgegriffenen Personen. In der Tora heißt es, dass sie „allesamt Männer waren, die an der Spitze des Volkes Israel standen“. Sie waren Führungspersönlichkeiten, keine Menschen, denen man leicht Angst machen konnte.

Die Fragen sind einfach, aber die Antwort, die der Rebbe gab war eine völlig unerwartete. Die Spione hatten keine Angst vor dem Versagen, sagte er. Sie hatten Angst vor dem Erfolg.

In welcher Situation befanden sie die Israeliten? Sie aßen Manna vom Himmel. Sie tranken Wasser aus einem wundersamen Brunnen. Sie waren umgeben von Wolken der Herrlichkeit. Sie lagerten rund um das Heiligtum. Sie waren in ständigem Kontakt mit der Schechina. Nie zuvor hatte ein Volk so nahe zu Gott gelebt.

Wie würde es ihnen ergehen, wenn sie das Land betreten würden? Sie müssten Schlachten schlagen, eine Armee unterhalten, eine Wirtschaft aufbauen, das Land bestellen, sich Sorgen machen, ob es genug regnen würde, um eine Ernte einzufahren, und all die anderen tausend Ablenkungen, die das Leben in der Welt mit sich bringt. Wie wäre es um ihre Nähe zu Gott bestellt? Sie wären mit weltlichen und materiellen Dingen beschäftigt. Hier aber könnten sie ihr ganzes Leben dem Studium der Tora widmen, erleuchtet vom Glanz des Göttlichen. Dort wären sie lediglich ein weiteres Volk in einer Welt von Völkern, mit den gleichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen, mit denen jedes Volk zu kämpfen hat.

Die Spione hatten keine Angst zu versagen. Sie hatten Angst vor dem Erfolg. Ihr Fehler war der Fehler von überaus heiligen Menschen. Sie wollten ihr Leben in größtmöglicher Nähe zu Gott verbringen. Was sie nicht verstanden, war, dass Gott, wie die Chassidim sagen, „eine Wohnung in den unteren Sphären sucht“. Einer der großen Unterschiede zwischen dem Judentum und anderen Religionen besteht darin, dass die anderen versuchen, den Menschen in den Himmel zu heben, während das Judentum versucht, den Himmel auf die Erde zu bringen.

Ein großer Teil der Tora befasst sich mit Dingen, die für gewöhnlich überhaupt nicht als religiös angesehen werden: Arbeitsverhältnisse, Landwirtschaft, Sozialfürsorge, Kredite und Schulden, Landbesitz und so weiter. Es ist nicht schwer, in der Wüste, in einem Kloster oder in einem Aschram eine intensive religiöse Erfahrung zu haben. In den meisten Religionen gibt es heilige Orte und heilige Menschen, die fernab vom Alltagsstress leben. Es gab eine solche jüdische Sekte in Qumran, die uns durch die Schriftrollen vom Toten Meer bekannt ist, und es gab sicher noch andere. Das ist nichts Ungewöhnliches.

Aber das ist nicht das jüdische Anliegen, die jüdische Mission. Gott wollte, dass die Israeliten das Modell einer Gesellschaft schaffen, in der Menschen nicht als Sklaven behandelt werden, in der Herrscher nicht als Halbgötter verehrt werden, in der die Menschenwürde geachtet wird, in der das Recht unparteiisch für Arm und Reich gilt, in der niemand mittellos ist, niemand der Isolation überlassen wird, niemand über dem Gesetz steht und kein Lebensbereich eine moralfreie Zone ist. Dies erfordert eine Gesellschaft, und eine Gesellschaft bedarf eines Landes. Sie braucht eine Wirtschaft, eine Armee, Felder und Herden, Arbeit und Unternehmen. All dies sind im Judentum Mittel, um die Schechina in die gemeinsamen Räume unseres kollektiven Lebens zu bringen.

Die Kundschafter fürchteten den Erfolg, nicht das Scheitern. Es war der Irrtum tief religiöser Menschen. Dennoch, es blieb ein Irrtum.

Dies ist die geistige Herausforderung des größten Ereignisses in nahezu zweitausend Jahren jüdischer Geschichte: die Rückkehr der Juden in das Land und den Staat Israel. Womöglich hat es nie zuvor oder seither eine politische Bewegung gegeben, die von so vielen Träumen begleitet war wie der Zionismus. Für die einen war er die Erfüllung prophetischer Visionen, für die anderen die säkulare Errungenschaft von Menschen, die beschlossen hatten, die Geschichte in ihre eigenen Hände zu nehmen. Für die einen war es eine Rückkehr zu Land und Boden à la Tolstoi, für die anderen eine Behauptung des Willens und der Macht im Sinne Nietzsches. Die einen sahen darin eine Zuflucht vor dem europäischen Antisemitismus, die anderen die erste Blüte messianischer Erlösung. Jeder zionistische Denker hatte seine eigene Version der Utopie, und in bemerkenswertem Maße wurden sie alle verwirklicht.

Dennoch war Israel immer etwas Einfacheres und Grundlegenderes. In ihrer fast viertausendjährigen Geschichte haben die Juden so gut wie alle Schicksale und Umstände zwischen Tragödie und Triumph erlebt, und sie haben in fast jedem Land der Erde gelebt. Aber in all dieser Zeit gab es nur einen einzigen Ort, an dem sie das tun konnten, wozu sie seit Anbeginn ihrer Geschichte berufen waren: ihre eigene Gesellschaft nach ihren höchsten Idealen aufzubauen, eine Gesellschaft, die sich von ihren Nachbarn unterscheiden und zu einem Vorbild dafür werden sollte, wie eine Gesellschaft, eine Wirtschaft, ein Bildungssystem und die Verwaltung der Wohlfahrt zu Vehikeln werden können, um die göttliche Gegenwart auf die Erde zu bringen.

Es ist nicht schwer, Gott in der Wüste zu finden, wenn du nicht von deiner Hände Arbeit isst und darauf vertraust, dass Gott deine Kämpfe für dich austrägt. Zehn der Spione, so der Rebbe, wollten so für immer leben. Aber das, so betonte der Rebbe, ist nicht das, was Gott von uns will. Er will, dass wir in der Welt aktiv sind. Er will, dass wir die Kranken heilen, die Hungrigen speisen, der Ungerechtigkeit mit der ganzen Kraft des Gesetzes begegnen und die Unwissenheit mit allgemeiner Bildung bekämpfen. Er will, dass wir zeigen, was es heißt, den Nächsten und den Fremden zu lieben, und mit Rabbi Akiva sagen: „Geliebt ist die Menschheit, weil wir alle im Ebenbild Gottes geschaffen sind.“

Jüdische Spiritualität lebt mitten im Leben, im Leben der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Um sie zu schaffen, müssen wir gegen zwei Arten von Ängsten kämpfen: die Angst vor dem Versagen und die Angst vor dem Erfolg. Die Angst vor dem Scheitern ist weit verbreitet; die Angst vor dem Erfolg ist zwar seltener, aber nicht weniger lähmend. Beide entstehen aus der Scheu, Risiken einzugehen. Glaube ist der Mut zum Risiko. Er ist nicht Gewissheit, sondern die Fähigkeit, mit Ungewissheit zu leben. Er ist die Fähigkeit, Gott zu hören, wenn Er zu uns spricht, wie Er zu Abraham sprach: „Gehe Mir voran“ (Gen. 17:1).

Der Rebbe lebte, was er lehrte. Er schickte Abgesandte an praktisch jeden Ort der Erde, an dem es Juden gab. So veränderte er das jüdische Leben. Er wusste, dass er von seinen Anhängern verlangte, Risiken einzugehen, indem sie an Orte gingen, wo das gesamte Umfeld in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung darstellte, aber er hatte Vertrauen in sie, in Gott und in die jüdische Mission, die ihren Platz in der Öffentlichkeit hat, wo wir unseren Glauben mit anderen teilen und dies ganz praktisch tun.

Es ist eine Herausforderung, die Wüste zu verlassen und in die Welt hinauszugehen, mit all ihren Herausforderungen und Versuchungen, aber genau dort will Gott, dass wir Seinen Geist in der Art und Weise einbringen, wie wir eine Wirtschaft, ein Wohlfahrtssystem, ein Rechtswesen, ein Gesundheitssystem und eine Armee aufrechterhalten, einige der Wunden der Welt heilen und Fragmente des göttlichen Lichts an Orte bringen, die oft in Dunkelheit gehüllt sind.

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