Sep ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Wir sind, woran wir uns erinnern

   Einer der Gründe, warum die Religion in der modernen Welt trotz vierhundertjähriger Säkularisierung überlebt hat, ist, dass sie Antworten auf die drei Fragen gibt, die sich jeder nachdenkliche Mensch irgendwann in seinem Leben stellt: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wie soll ich also leben?

Von den vier großen Institutionen des modernen Westens – Wissenschaft, Technologie, Marktwirtschaft und liberale Demokratie – gibt es darauf keine Antwort: Die Wissenschaft nennt uns das Wie, aber nicht das Warum. Die Technologie gibt uns Macht, aber sie sagt uns nicht, wie wir diese Macht nutzen sollen. Der Markt gibt uns Wahlmöglichkeiten, aber er sagt uns nicht, welche Wahl wir treffen sollen. Der freiheitlich-demokratische Staat hält sich – aus Prinzip – zurück, wenn es darum geht, eine bestimmte Lebensweise zu empfehlen. Das Ergebnis ist, dass die heutige Kultur uns eine fast unendliche Palette von Möglichkeiten bietet, uns aber nicht sagt, wer wir sind, warum wir hier sind und wie wir leben sollen.

Und doch sind dies fundamentale Fragen. Die erste Frage, die Moses Gott bei ihrer ersten Begegnung am brennenden Dornbusch stellte, war: „Wer bin ich?“ (Exod. 3:11). Auf den ersten Blick ist dies eine rhetorische Frage: Wer bin ich, dass ich die außergewöhnliche Aufgabe übernehme, ein ganzes Volk in die Freiheit zu führen? Doch hinter dem einfachen Sinn verbirgt sich eine echte Identitätsfrage. Moses war von einer ägyptischen Prinzessin, der Tochter des Pharaos, erzogen worden. Als er die Töchter Jitros vor den Midianitern rettete, kehrten sie zurück und berichteten ihrem Vater: „Ein ägyptischer Mann hat uns gerettet.“ Moses sah aus wie ein Ägypter und sprach wie einer.

Dann heiratete er Zippora, eine der Töchter Jitros, und lebte Jahrzehnte als midianitischer Hirte. Die Chronologie ist nicht ganz klar, aber da er relativ jung war, als er nach Midian ging, und achtzig Jahre alt, als er es übernahm, die Israeliten zu führen, verbrachte er wohl die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens bei seinem midianitischen Schwiegervater und hütete dessen Schafe. Als er also Gott fragte: „Wer bin ich?“, verbarg sich unter der Oberfläche eine echte Frage. Bin ich Ägypter, Midianiter oder Jude?

Von der Erziehung her war er Ägypter, von der Erfahrung her Midianiter. Was sich jedoch als entscheidend erwies, war seine Abstammung. Er war ein Nachkomme Abrahams, ein Sohn Amrams und Jochebeds. Als er Gott seine zweite Frage stellte: „Wer bist Du?“, antwortete Gott ihm zunächst: „Ich werde sein, was Ich sein werde“ (Exod. 3:14). Doch dann gab Er ihm eine zweite Antwort:

„Sprich zu den Israeliten: ,Der Ewige, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist Mein Name in Ewigkeit; so sollt ihr mich nennen von Geschlecht zu Geschlecht‘“ (Exod. 3:15).

Auch hier gibt es einen doppelten Sinn. Vordergründig sagt Gott Moses, was er den Israeliten antworten soll, wenn sie fragen: „Wer hat dich zu uns gesandt?“ Aber auf einer tieferen Ebene sagt uns die Tora etwas über das Wesen der Identität. Die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ hängt nicht einfach davon ab, wo ich geboren wurde, wo ich meine Kindheit oder mein Erwachsenenleben verbracht habe oder welchem Land ich angehöre. Sie wird auch nicht damit beantwortet, was ich beruflich mache oder wo meine Interessen und Leidenschaften liegen. Bei diesen Dingen geht es darum, wo ich bin und was ich bin, aber nicht darum, wer ich bin.

Die Antwort Gottes – Ich bin der Gott eurer Väter – legt einige grundlegende Aussagen nahe. Erstens, Identität hängt mit Genealogie zusammen. Sie hängt davon ab, wer meine Eltern waren und wiederum deren Eltern und so weiter. Natürlich ist das nicht immer die Regel. Es gibt adoptierte Kinder, und es gibt Kinder, die sich bewusst von ihren Eltern distanzieren. Aber für die meisten von uns Juden liegt die Identität in der Entdeckung der Geschichte unserer Vorfahren, die angesichts der beispiellosen Ortsverlagerungen des jüdischen Lebens fast immer eine Geschichte der Reise, des Mutes, des Leids oder der Flucht vor dem Leiden und der Ausdauer ist.

Zweitens erzählt die Genealogie selbst eine Geschichte. Unmittelbar nachdem Gott Moses aufgetragen hatte, dem Volk zu sagen, dass er von dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs gesandt worden sei, fährt Er fort:

„Geh hin, versammle die Ältesten Israels und sprich zu ihnen: ,Der Ewige, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, ist mir erschienen und hat zu mir gesagt: Ich habe über euch gewacht und gesehen, was man euch in Ägypten angetan hat. Und Ich habe versprochen, euch herauszuführen aus eurem Elend in Ägypten in das Land der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen‘“ (Exod. 3:16-17).

Es war nicht nur die Tatsache, dass Gott der Gott ihrer Vorfahren war. Er war auch der Gott, der ihnen bestimmte Verheißungen gegeben hatte: dass Er sie aus der Sklaverei in die Freiheit führen würde, aus dem Exil in das Gelobte Land. Die Israeliten waren Teil einer Erzählung, die sich durch die Zeiten zog. Sie waren Teil einer noch nicht abgeschlossenen Geschichte, und Gott war dabei, das nächste Kapitel zu schreiben.

Mehr noch: Als Gott zu Moses sagte, dass Er der Gott der Vorväter der Israeliten sei, fügte Er hinzu: „Dies ist Mein ewiger Name, so soll Meiner gedacht [Sichri] werden von Geschlecht zu Geschlecht.“ Gott sagt hier, dass Er jenseits der Zeit ist – „Dies ist Mein ewiger Name“ -, aber im menschlichen Verständnis lebt Er innerhalb der Zeit, „von Generation zu Generation“. Er tut dies durch die Weitergabe von Erinnerung: „So soll man Meiner gedenken.“ Identität hängt nicht nur davon ab, wer meine Eltern waren, sondern auch davon, woran sie sich erinnerten und was sie an mich weitergaben. Persönliche Identität wird durch die individuelle Erinnerung geprägt. Gruppenidentität wird durch das kollektive Gedächtnis geprägt.[1]

All dies ist eine Art Vorspiel zu einem bemerkenswerten Gesetz in der aktuellen Parascha. Darin heißt es, dass die Erstlingsfrüchte an den Ort gebracht werden sollten, „den Gott erwählt“, also nach Jerusalem. Sie sollten dem Priester übergeben werden, und jeder sollte folgende Erklärung abgeben

„Mein Vater war ein wandernder Aramäer, der mit einigen Leuten nach Ägypten hinabzog und dort lebte und ein großes, mächtiges und zahlreiches Volk wurde.  Die Ägypter behandelten uns schlecht und ließen uns leiden, indem sie uns harte Arbeit auferlegten. Da schrien wir zum Ewigen, dem Gott unserer Vorväter, und der Ewige hörte unsere Stimme und sah unser Leid, unsere Mühsal und unsere Not. Da führte uns Gott mit starker Hand und ausgestrecktem Arm aus Ägypten, mit großer Furcht, mit Zeichen und Wundern. Er brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, in dem Milch und Honig fließen. Jetzt bringe ich die Erstlingsfrüchte des Landes, das Du, Gott, mir gegeben hast“ (Deut. 26:5-10).

Wir sind mit diesem Abschnitt vertraut, weil er mindestens seit der Zeit des Zweiten Tempels ein zentraler Bestandteil der Haggada ist, der Geschichte, die wir am Seder-Tisch erzählen. Es sei jedoch angemerkt, dass er ursprünglich bei der Darbringung der Erstlingsfrüchte gesprochen werden sollte, was nicht zu Pessach war. Normalerweise geschah dies an Schawuot.

Was dieses Gesetz so bemerkenswert macht, ist Folgendes: Wenn wir den Boden und seine Produkte feiern, würden wir erwarten, dass wir vom Gott der Natur sprechen. In diesem Text geht es jedoch nicht um die Natur. Er handelt von der Geschichte. Es geht um einen fernen Vorfahren, einen „wandernden Aramäer“, es ist die Geschichte unserer Vorfahren. Es ist eine Erzählung, die erklärt, warum ich hier bin und warum das Volk, dem ich angehöre, so ist, wie es ist und wo es ist. In der Antike gab es nichts Vergleichbares, und auch heute gibt es nicht wirklich etwas Derartiges. Wie Yosef Hayim Yerushalmi in seinem klassischen Buch Sachor[2] schreibt, waren die Juden das erste Volk, das Gott in der Geschichte sah, das erste Volk, das einen übergreifenden Sinn in der Geschichte erkannte, und das erste Volk, das die Erinnerung zu einer religiösen Pflicht machte.

Aus diesem Grund hat sich die jüdische Identität als die hartnäckigste erwiesen, die die Welt je gekannt hat: die einzige Identität, die jemals von einer über die ganze Welt verstreuten Minderheit über zweitausend Jahre aufrechterhalten wurde, eine Identität, die die Juden schließlich in das Land und den Staat Israel zurückführte und die hebräische Sprache, die Sprache der Bibel, wieder zu einer lebendigen Sprache machte, nachdem sie jahrhundertelang nur für Gedichte und Gebete verwendet worden war. Wir sind, woran wir uns erinnern, und die Erklärung über die Erstlingsfrüchte war ein Weg, um sicherzustellen, dass Juden niemals vergessen würden.

In den letzten Jahren ist in den Vereinigten Staaten eine Flut von Büchern erschienen, in denen die Frage gestellt wird, ob die amerikanische Geschichte noch erzählt wird, ob sie den Kindern noch beigebracht wird, ob sie noch eine Erzählung ist, die alle Bürger anspricht und die künftigen Generationen an die Kämpfe erinnert, die für die „Neugeburt der Freiheit“ geführt werden mussten, und an die Tugenden, die notwendig sind, um die Freiheit zu bewahren.[3] Das Gefühl der Krise ist in jedem dieser Werke spürbar, und obwohl die Autoren sehr unterschiedlichen politischen Lagern angehören, ist ihre These mehr oder weniger dieselbe: Wer seine Geschichte vergisst, verliert seine Identität. Es gibt so etwas wie eine nationale Entsprechung der Alzheimer-Krankheit. Wer wir sind, hängt davon ab, woran wir uns erinnern, und im Falle des heutigen Westens stellt das Versagen des kollektiven Gedächtnisses eine reale und gegenwärtige Gefahr für die Zukunft der Freiheit dar.

Die Juden haben die Geschichte dessen, was wir sind, länger und mit größerer Hingabe erzählt als jedes andere Volk auf der Erde. Das ist es, was die jüdische Identität so reich und resonant macht. In einem Zeitalter, in dem die Speicherkapazität von Computern und Smartphones so rapide zugenommen hat – von Kilobyte zu Megabyte zu Gigabyte -, während das menschliche Gedächtnis so stark geschrumpft ist, gibt es eine wichtige jüdische Botschaft für die gesamte Menschheit: Man kann Erinnerung nicht an Maschinen delegieren. Sie muss regelmäßig erneuert und an die nächste Generation weitergegeben werden. Winston Churchill sagte: „Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter kann man vorausschauen.“[4] Oder um es anders auszudrücken: Wer die Geschichte seiner Vergangenheit erzählt, hat bereits damit begonnen, die Zukunft seiner Kinder zu gestalten.

[1] Die klassischen Werke über Gruppengedächtnis und Identität: Maurice Halbwachs, On Collective Memory (University of Chicago Press, 1992), und Jacques le Goff, History and Memory (Columbia University Press, 1992).

[2] Yosef Hayim Yerushalmi, Sachor: Erinnere dich! – Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis (Verlag Klaus Wagenbach, 2023). Siehe auch Lionel Kochan, The Jew and His History (London, Macmillan, 1977).

[3] Zu den wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Charles Murray, Coming Apart (Crown, 2013); Robert Putnam, Our Kids (Simon and Shuster, 2015); Os Guinness, A Free People’s Suicide (IVP, 2012); Eric Metaxas, If You Can Keep It (Viking, 2016); und Yuval Levin, The Fractured Republic (Basic Books, 2016).

[4] Chris Wrigley, Winston Churchill: A Biographical Companion (Santa Barbara, 2002), Seite xxiv.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier