Mrz ‍‍2024 - תשפד / תשפה

Warum Zivilisationen sterben

   In ihrem Buch Kollaps oder Evolution?[1] mit dem Untertitel Wie wir den Untergang unserer Welt verhindern können liefert Rebecca Costa einen faszinierenden Bericht darüber, wie Zivilisationen sterben: Wenn ihre Probleme zu komplex werden, stoßen Gesellschaften an eine kognitive Grenze. Sie sind einfach nicht mehr in der Lage, einen Weg von der Gegenwart in die Zukunft zu finden.

Als Beispiel führt sie die Maya an. Über einen Zeitraum von dreieinhalbtausend Jahren, zwischen 2600 v.u.Z. und 900 u.Z., entwickelten sie eine außergewöhnliche Zivilisation, die sich über das heutige Mexiko, Guatemala, Honduras, El Salvador und Belize erstreckte und schätzungsweise 15 Millionen Menschen umfasste.

Sie waren nicht nur erfahrene Töpfer, Weber, Architekten und Bauern, sondern entwickelten auch ein kompliziertes zylindrisches Kalendersystem mit Himmelskarten, um den Lauf der Sterne zu verfolgen und das Wetter vorherzusagen. Sie hatten ihre eigene, einzigartige Schrift und ein hochentwickeltes mathematisches System. Besonders beeindruckend ist die Entwicklung einer Infrastruktur für die Wasserversorgung, die ein komplexes Netz von Stauseen, Kanälen, Dämmen und Deichen umfasste.

Dann brach das ganze System plötzlich zusammen, aus Gründen, die wir bis heute nicht ganz verstehen. Irgendwann zwischen der Mitte des achten und neunten Jahrhunderts verschwand der größte Teil des Maya-Volkes einfach. Es gibt viele Theorien, warum dies geschah. Es könnte eine langanhaltende Dürre, Überbevölkerung, interne Kriege, eine verheerende Epidemie, Nahrungsmangel oder eine Kombination dieser und anderer Faktoren gewesen sein. Wie auch immer, die Maya-Zivilisation, die 35 Jahrhunderte überlebt hatte, scheiterte und starb aus.

Rebecca Costa ist der Ansicht, dass der Zusammenbruch der Maya, ebenso wie der des Römischen Reiches und des Khmer-Reiches im 13. Jahrhundert, darauf zurückzuführen ist, dass die Probleme zu zahlreich und zu komplex wurden, um von den Menschen der Zeit und des Ortes gelöst werden zu können. Es kam zu einer kognitiven Überlastung und die Systeme brachen zusammen.

Das kann jeder Zivilisation widerfahren. Es könnte auch unserer Zivilisation passieren, sagt sie. Das erste Anzeichen eines Zusammenbruchs ist Stillstand. Anstatt die großen, für alle sichtbaren Probleme anzugehen, machen die Menschen weiter wie bisher und schieben ihre Probleme einfach auf die nächste Generation ab. Das zweite Anzeichen ist der Rückzug in die Irrationalität. Weil die Menschen mit den Tatsachen nicht mehr zurechtkommen, flüchten sie sich in religiöse Tröstungen. Die Maya brachten Opfer dar. Archäologen haben grausame Beweise für massenhafte Menschenopfer gefunden. Da die Maya nicht in der Lage waren, ihre Probleme rational zu lösen, konzentrierten sie sich darauf, die Götter durch manische Opfergaben zu besänftigen. Genau dies scheinen auch die Khmer getan zu haben.

Das macht die Geschichte der Juden und des Judentums so faszinierend. Zwischen der Eroberung durch Pompeius im Jahre 63 v.u.Z. und dem Zusammenbruch des Bar-Kochba-Aufstandes im Jahre 135 u.Z. erlebten sie unter römischer Herrschaft zwei Jahrhunderte der Krise. Sie waren hoffnungslos zersplittert. Schon lange vor dem großen Aufstand gegen Rom und der Zerstörung des Zweiten Tempels rechneten die Juden mit einer großen Katastrophe.

Bemerkenswert ist, dass sie sich nicht wie die Maya und Khmer zwanghaft auf Opfer konzentrierten. Vielmehr konzentrierten sie sich nach der Zerstörung ihres Tempels darauf, einen Ersatz für den Opferdienst zu finden. Einer davon war Gemilut Chassadim, Wohltätigkeit. Rabban Jochanan Ben Sakai tröstete Rabbi Josua, der sich fragte, wie Israel seine Sünden ohne Opfer sühnen könne, mit den Worten:

„Mein Sohn, wir haben eine andere Sühne, die ebenso wirksam ist wie diese: Taten der Güte, wie geschrieben steht (Hosea 6:6): ‚Denn ich begehre Wohltätigkeit und nicht Schlachtopfer‘“ (Awot Derabbi Natan 8).

Ein anderer Ersatz war das Studium der Tora. Die Weisen deuteten die Worte Maleachis: „Meinem Namen werden überall Opfer dargebracht“ (Maleachi 1:11) als Hinweis auf die Gelehrten, die die Opfergesetze studierten. (Menachot 100a).

„Wer die Ordnung der Opfer liest, ist, als ob er sie selbst dargebracht hätte“ (Ta’anit 27b).

Ein weiterer Ersatz war das Gebet. Hosea sagte: „Nehmt Worte mit euch und kehrt zu Gott zurück. Wir wollen unsere Lippen gleich einem Stieropfer darbringen“ (Hosea 14:2-3), womit angedeutet wird, dass Worte an die Stelle von Opfern treten können.

„Wer in einem Gebetshaus betet, ist wie jemand, der ein reines Opfer darbringt“ (Jerusalemer Talmud 5:1).

Ein weiteres Beispiel ist die Teschuwa. Im Psalm (51:19) heißt es: „Die Opfer Gottes sind ein reuevoller Geist.“ Daraus folgerten die Weisen: „Wenn ein Mensch Buße tut, wird es ihm angerechnet, als wäre er nach Jerusalem hinaufgegangen und hätte den Tempel und den Altar gebaut und dort alle Opfer dargebracht, die in der Tora vorgeschrieben sind“ (Wajikra Rabba 7:2).

Ein fünftes Mittel war das Fasten. Da der Verzicht auf Nahrung das Fett und das Blut eines Menschen reduzierte, galt es als Ersatz für das Fett und das Blut eines Opfers (Berachot 17a). Das sechste war die Gastfreundschaft. „Solange der Tempel stand, sühnte der Altar für Israel, jetzt aber sühnt der Tisch eines Menschen für ihn“ (Berachot 55a). Und so weiter.

Im Nachhinein ist es bemerkenswert, dass führende Persönlichkeiten wie Rabban Jochanan Ben Sakai nicht obsessiv an der Vergangenheit festhielten, sondern an die Zukunft dachten, in der das Schlimmste eintreten konnte. Die große Frage, die Paraschat Zaw aufwirft, wenn es um die verschiedenen Arten von Opfern geht, lautet nicht: „Warum wurden überhaupt Opfer angeordnet?“, sondern: „Wie konnte das Judentum ohne sie überleben, wenn man bedenkt, wie zentral sie für das religiöse Leben Israels in der Tempelzeit waren?“.

Die kurze Antwort lautet, dass die überwältigende Mehrheit der jüdischen Propheten, Weisen und Denker des Mittelalters erkannte, dass Opfer symbolische Darstellungen von Vorgängen des Geistes, des Herzens und der Tat sind, die auch auf andere Weise zum Ausdruck gebracht werden können. Wir können dem Willen Gottes durch das Studium der Tora begegnen, uns durch das Gebet in den Dienst Gottes stellen, durch Wohltätigkeit finanzielle Opfer bringen, durch Gastfreundschaft heilige Gemeinschaft schaffen und so weiter.

Die Juden haben sich nicht von ihrer Vergangenheit abgewandt. Wir beziehen uns in unseren Gebeten immer noch auf die Opfer. Aber sie haben sich nicht an die Vergangenheit geklammert. Sie haben sich auch nicht in Irrationalität geflüchtet. Sie haben die Zukunft im Blick gehabt und Institutionen geschaffen wie die Synagoge, das Lehrhaus, die Schule. Sie konnten überall errichtet werden und bewahrten auch unter widrigsten Umständen die jüdische Identität.

Das ist keine geringe Leistung. Die größten Zivilisationen der Welt sind im Laufe der Zeit alle untergegangen, während das Judentum immer überlebt hat. In gewisser Weise war das sicher göttliche Vorsehung. Auf der anderen Seite war es die Weitsicht von Menschen wie Rabban Jochanan Ben Sakai, die dem kognitiven Zusammenbruch widerstanden, die heute Lösungen für die Probleme von morgen fanden, die sich nicht ins Irrationale flüchteten und die ohne viel Aufhebens die jüdische Zukunft aufbauten.

Sicherlich gibt es hier eine Lehre für das jüdische Volk von heute: Generationen im Voraus zu planen. Mindestens 25 Jahre voraus denken. Den schlimmsten Fall durchspielen. Sich fragen: „Was würden wir tun, wenn…?“ Was das jüdische Volk gerettet hat, war seine Fähigkeit, trotz seines tiefen und unerschütterlichen Glaubens nie das rationale Denken aufzugeben und trotz seiner Treue zur Vergangenheit weiter für die Zukunft zu planen.

[1] Englischer Originaltitel: The Watchman‘s Rattle: Thinking our Way out of Extinction (London, Virgin Books, 2011).

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