Jun ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Der Segen der Liebe

Der Segen der Liebe

Nasso ist mit 176 Versen der längste Wochen-abschnitt. Eine seiner bewegendsten und im Laufe der Geschichte einflussreichsten Passagen ist jedoch sehr kurz und nahezu jedem Juden bekannt: der priesterliche Segen:

Gott sprach zu Moses:

Sage Aaron und seinen Söhnen: „So sollt ihr die Israeliten segnen. Sprich zu ihnen: ,Möge der Ewige dich segnen und beschützen; möge der Ewige dir Sein Antlitz leuchten lassen und dir wohlwollend begegnen; möge der Ewige dir Sein Angesicht zuwenden und dir Frieden geben.‘“ Sie sollen meinen Namen auf die Israeliten legen, und Ich werde sie segnen (Num. 6:23-27).

Dies ist einer der ältesten Gebetstexte. Er wurde von den Priestern im Tempel verwendet. Heute wird er von den Kohanim bei der Wiederholung der Amida gesagt, in Israel täglich, in den meisten Ländern der Diaspora nur an Festtagen. Er wird von den Eltern gesprochen, wenn sie ihre Kinder am Freitagabend segnen. Häufig wird er für das Brautpaar unter der Chuppa gesagt. Es ist der einfachste und schönste aller Segenssprüche.

Er erscheint auch in den ältesten biblischen Texten, die bis heute physisch erhalten geblieben sind. 1979 untersuchte der Archäologe Gabriel Barkay alte Grabhöhlen in Ketef Hinnom, außerhalb der Stadtmauern Jerusalems, auf dem Gelände des heutigen Menachem Begin Heritage Center. Ein dreizehnjähriger Junge, der Barkay assistierte, entdeckte, dass sich unter dem Boden einer der Höhlen eine versteckte Kammer befand. Dort entdeckten die Archäologen fast eintausend antike Gegenstände, darunter zwei winzige Silberrollen, die nicht länger als einen Zentimeter lang waren.

Sie waren so zerbrechlich, dass es drei Jahre dauerte, bis man herausgefunden hatte, wie man sie entrollen konnte, ohne dass sie dabei auseinanderfielen. Schließlich stellte sich heraus, dass es sich bei den Schriftrollen um Kemejot, Amulette, handelte, die unter anderem die priesterlichen Segenssprüche enthielten. Sie wurden wissenschaftlich auf das sechste Jahrhundert v.u.Z., die Zeit Jeremias und die letzten Tage des Ersten Tempels, datiert und sind damit vier Jahrhunderte älter als die bis dahin ältesten bekannten biblischen Texte, die Schriftrollen vom Toten Meer. Heute sind die Amulette im Israel-Museum zu sehen und zeugen von der jahrtausendealten Verbundenheit der Juden mit dem Land und von der Kontinuität des jüdischen Glaubens selbst.

Die Kraft der priesterlichen Segenssprüche liegt in ihrer Einfachheit und Schönheit. Sie haben eine starke rhythmische Struktur: Die Sätze bestehen aus drei, fünf oder sieben Wörtern. In jeder Zeile ist das zweite Wort „der Ewige“. In allen drei Versen bezieht sich der erste Teil auf eine Handlung Gottes – „segnen“, „Sein Antlitz leuchten lassen“ und „Sein Angesicht zuwenden“. Der zweite Teil beschreibt die Wirkung des Segens auf uns: Er schenkt uns Schutz, Wohlwollen und Frieden.

Ferner folgen sie gleichsam einer nach innen gerichteten Progression. Der erste Vers „Möge der Ewige dich segnen und beschützen“ bezieht sich, wie die Kommentatoren anmerken, auf den materiellen Segen: Nahrung, körperliche Gesundheit und so weiter. Der zweite Vers, „Möge der Ewige dir Sein Antlitz leuchten lassen und dir wohlwollend begegnen“, bezieht sich auf den moralischen Segen. Chen, Wohlwollen, ist das, was wir anderen Menschen gegenüber zeigen und sie uns gegenüber. Es ist zwischenmenschlich. Hier bitten wir Gott, uns und anderen etwas von Seinem Wohlwollen zuteil werden zu lassen, damit wir ohne Streit und Neid, die Beziehungen so leicht vergiften, zusammenleben können.

Der dritte Vers ist der am meisten nach innen gerichtete von allen. Es gibt eine schöne Geschichte über eine Menschenmenge, die sich auf einem Hügel am Meer versammelt hat, um ein großes Schiff vorbeifahren zu sehen. Ein kleiner Junge winkt lebhaft. Einer der Männer in der Menge fragt ihn, warum. Das Kind antwortet: „Ich winke, damit der Kapitän des Schiffes mich sieht und zurückwinkt.“ „Aber“, erwidert der Mann, „das Schiff ist so weit weg, und wir sind hier mitten in einer Menschenmasse. Wie kommst du darauf, dass der Kapitän dich sehen kann?“ „Der Kapitän des Schiffes ist mein Vater“, entgegnet der Junge, „er wird mich in der Menge suchen.“

Das ist es in etwa, was wir meinen, wenn wir sagen: „Möge der Ewige dir Sein Angesicht zuwenden.“ Sieben Milliarden Menschen leben heute auf dieser Erde. Was macht jemanden von uns zu mehr als einem Gesicht in der Menge, einer Welle im Ozean, einem Sandkorn am Meeresstrand? Es ist die Tatsache, dass wir Kinder Gottes sind. Er ist unser Vater. Er wendet uns sein Angesicht zu. Er interessiert sich für uns.

Der Gott Abrahams ist keine bloße Naturgewalt, nicht einmal die Summe aller Naturgewalten. Ein Tsunami hält nicht inne, um zu fragen, wer seine Opfer sein werden. Ein Erdbeben oder ein Tornado haben nichts Persönliches an sich. Das Wort Elokim bedeutet „die Kraft der Kräfte, die Ursache aller Ursachen, die Gesamtheit aller wissenschaftlich erfassbaren Gesetze“. Es bezieht sich auf die Aspekte Gottes, die unpersönlich sind. Es bezieht sich auch auf Gott in Seiner Eigenschaft der Gerechtigkeit, denn Gerechtigkeit und Recht sind im Wesentlichen unpersönlich.

Doch der Name, den wir Haschem nennen – der Name, der in den priesterlichen Segenssprüchen und in fast allen priesterlichen Texten verwendet wird – ist Gott in seiner Beziehung zu uns als Individuen, jeder mit seiner eigenen Konfiguration von Hoffnungen und Ängsten, Gaben und Möglichkeiten. Haschem ist der Aspekt Gottes, der es uns erst ermöglicht, das Wort „Du“ zu verwenden. Er ist der Gott, der zu uns spricht und der zuhört, wenn wir zu Ihm sprechen. Wie das geschieht, wissen wir nicht, aber dass es geschieht, ist für den jüdischen Glauben von zentraler Bedeutung.

Die Tatsache, dass wir Gott „Haschem“ nennen, ist die metaphysische Bestätigung unserer Bedeutung im Gesamtgefüge der Dinge. Wir sind als Individuen wichtig, weil Gott für uns sorgt, wie Eltern für ihr Kind sorgen. Das ist übrigens einer der Gründe, warum die priesterlichen Segenssprüche alle in der Einzahl stehen: um zu betonen, dass Gott uns nicht nur kollektiv, sondern auch individuell segnet. Ein Menschenleben, so sagten die Weisen, ist einem Universum gleich.[1]

Daraus ergibt sich die Bedeutung des letzten der priesterlichen Segenssprüche. Das Wissen, dass Gott uns Sein Angesicht zuwendet, dass wir nicht nur ein unerkennbares Gesicht in einer Masse von Menschen sind, sondern dass Gott uns in unserer Einzigartigkeit und Einmaligkeit begegnet, ist die tiefste und eigentliche Quelle des Friedens. Konkurrenz, Streit, Gesetzlosigkeit und Gewalt entspringen dem psychologischen Bedürfnis zu beweisen, dass wir von Bedeutung sind. Wir tun Dinge, um zu beweisen, dass wir einflussreicher, vermögender oder erfolgreicher sind als andere. Ich kann dir Angst machen. Ich kann dich meinem Willen beugen. Ich kann dich zu meinem Opfer machen, zu meinem Untertan, zu meinem Sklaven. All diese Dinge zeugen nicht von Glauben, sondern von einem tiefen Mangel an Glauben.

Glaube bedeutet, dass ich davon überzeugt bin, dass Gott sich für mich interessiert. Ich bin hier, weil Er mich hier haben wollte. Die Seele, die Er mir geschenkt hat, ist rein. Auch wenn ich wie das Kind auf dem Hügel bin, das das Schiff vorbeifahren sieht, weiß ich doch, dass Gott nach mir Ausschau hält und mir zuwinkt, während ich Ihm zuwinke. Das ist die tiefste Quelle des inneren Friedens. Wir müssen uns nicht beweisen, um Gottes Segen zu empfangen. Wir müssen uns nur bewusst sein, dass sein Angesicht uns zugewandt ist. Wenn wir mit uns selbst im Frieden sind, können wir auch mit der Welt Frieden schließen.

Und so werden die Segnungen länger und tiefer: vom äußeren Segen der materiellen Güter über den zwischenmenschlichen Segen des gegenseitigen Wohlwollens bis hin zum innersten Segen, dem Seelenfrieden, der sich einstellt, wenn wir spüren, dass Gott uns sieht und hört und uns in Seiner ewigen Umarmung hält.

Ein weiteres Detail der priesterlichen Segenssprüche ist einzigartig, nämlich der Segen, den die Weisen den Kohanim vor Erfüllung der Mizwa vorschrieben: „Gesegnet seist Du…, der Du uns mit der Heiligkeit Aarons geheiligt und uns geboten hast, Sein Volk Israel in Liebe zu segnen.“

Es ist das letzte Wort, Beahawa, das so ungewöhnlich ist. Es kommt in keinem anderen Segen über die Erfüllung eines Gebotes vor. Es scheint keinen Sinn zu ergeben. Idealerweise sollten wir alle Gebote mit Liebe erfüllen. Aber ein Mangel an Liebe macht keines der Gebote ungültig. In jedem Fall ist der Segen über die Erfüllung eines Gebotes Ausdruck unseres bewussten Handelns. Es gab eine Meinungsverschiedenheit unter den Weisen darüber, ob Mizwot generell Absicht (Kawana) erfordern oder nicht.[2] Aber ob sie es tun oder nicht, ein vorheriger Segen zeigt auf jeden Fall, dass wir die Absicht haben, das Gebot zu erfüllen. Es ist jedoch eine Sache, etwas zu beabsichtigen, und eine andere, zu fühlen. Wichtig ist doch, dass die Kohanim den Segen sprechen, den Rest wird Gott besorgen. Welchen Unterschied macht es, ob sie es in Liebe tun oder nicht?

Die Kommentatoren ringen mit dieser Frage. Einige meinen, die Tatsache, dass die Kohanim dem Volk zugewandt sind, wenn sie den Segen sprechen, bedeutet, dass sie wie die Cherubim im Stiftszelt sind, deren Gesichter als Zeichen der gegenseitigen Liebe „einander zugewandt“ waren. Andere verändern die Wortfolge. Danach bedeutet der Segen eigentlich: „Der uns mit der Heiligkeit Aarons geheiligt und uns in Liebe geboten hat, Sein Volk Israel zu segnen.“ „Liebe“ bezieht sich hier auf die Liebe Gottes zu Israel, nicht auf die Liebe der Kohanim.

Die Erklärung scheint mir aber folgende zu sein: Die Tora sagt ausdrücklich dass, obwohl die Kohanim die Worte sprechen, es Gott ist, der den Segen sendet. „Sie sollen meinen Namen auf die Israeliten legen, und Ich werde sie segnen.“ Wenn wir eine Mizwa erfüllen, tun wir in der Regel etwas. Wenn aber die Kohanim das Volk segnen, tun sie selbst nichts. Stattdessen fungieren sie als Kanäle, durch die der Segen Gottes in die Welt und in unser Leben fließt. Das vermag nur die Liebe. Liebe bedeutet, dass wir uns nicht auf uns selbst konzentrieren, sondern auf den anderen. Liebe ist Selbstlosigkeit. Und nur Selbstlosigkeit ermöglicht es uns, ein Medium zu sein, durch das eine Kraft fließt, die größer ist als wir selbst, die Liebe, die, wie Dante sagt, „die Sonne und die anderen Sterne bewegt“,[3] die Liebe, die neues Leben in die Welt bringt.

Um zu segnen, müssen wir lieben, und gesegnet zu sein bedeutet, zu wissen, dass wir von dem Einen geliebt werden, der größer ist als das Universum und der uns dennoch Sein Antlitz zuwendet wie ein Vater seinem geliebten Kind. Sich dessen bewusst zu sein, heißt, den wahren geistigen Frieden zu finden.

[1] Siehe Mischna Sanhedrin 4:5.

[2] Siehe Rosch Haschana 28b.

[3] Dante Alighieri, Die göttliche Komödie

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