Feb ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Tun und Hören

In der Parascha dieser Woche begegnen wir einer der wohl berühmtesten Stellen aus der Tora. Sie wurde oft angeführt, um den jüdischen Glauben in seiner Gesamtheit zu charakterisieren. Das Zitat besteht aus lediglich zwei Wörtern: na’asse wenischma, wörtlich: „Wir werden tun und wir werden hören“ (Exod. 24:7). Doch was bedeutet dies? Und warum ist es so wichtig?

Es gibt zwei bekannte Interpretationen, eine althergebrachte und eine moderne. Erstere erscheint im babylonischen Talmud,[1] wo sie der Beschreibung des Enthusiasmus und der Aufrichtigkeit dient, mit der die Israeliten den Bund mit Gott am Berg Sinai eingingen. Als sie zu Moses sagten: „Alles, was Gott gesprochen hat, werden wir tun, und wir werden es hören“, sagten sie damit im Grunde genommen: Was immer Gott von uns verlangt, werden wir tun – und sie sagten dies, bevor sie auch nur eines der Gebote gehört hatten. Die Worte „Wir werden es hören“ deuten darauf hin, dass sie bis dahin noch nichts gehört hatten – weder die Zehn Gebote noch die darauffolgenden detaillierten Gesetze, wie sie in unserer Parascha dargelegt sind. Sie waren so bestrebt, Gott ihre Einwilligung zu signalisieren, dass sie Seinen Forderungen zustimmten, bevor sie wussten, worum es sich handelte.[2]

Diese Lesart, die ebenfalls von Raschi in seinem Kommentar zur Tora übernommen wurde, ist schwierig, denn sie setzt voraus, dass wir die Erzählung nicht in chronologischer Reihenfolge lesen (unter Anwendung des Grundsatzes: „Es gibt kein Vorher und kein Nachher in der Tora“). Die Ereignisse des Kapitels 24 fanden dieser Auslegung zufolge vor dem Bericht über die Offenbarung am Berg Sinai und die Zehn Gebote im Kapitel 20 statt. Ibn Esra, Raschbam und Nachmanides sind anderer Meinung und lesen die Kapitel in chronologischer Reihenfolge. Für sie bedeuten die Worte na’asse wenischma nicht: „Wir werden tun und wir werden hören“, sondern einfach: „Wir werden tun und wir werden gehorchen.“

Die zweite Auslegung – nicht der einfache Sinn des Textes, aber gleichwohl von Bedeutung – findet im modernen jüdischen Denken häufig ihren Niederschlag. Gemäß dieser Auffassung bedeutet na’asse wenischma: „Wir werden tun und wir werden verstehen“.[3] Hieraus leitet sich die Schlussfolgerung ab, dass wir das Judentum nur verstehen können, wenn wir es praktizieren, indem wir die Gebote ausführen und ein jüdisches Leben führen. Am Anfang steht die Tat.[4] Erst danach kommt das Erfassen, die Einsicht, das Verstehen.

Dies ist ein beachtenswerter Punkt von substanzieller Bedeutung. Dem modernen westlichen Verständnis zufolge neigen wir dazu, den Dingen in umgekehrter Reihenfolge zu begegnen. Wir bemühen uns zu verstehen, worauf wir uns einlassen, bevor wir eine Verpflichtung eingehen. Das ist völlig in Ordnung, wenn es darum geht, einen Vertrag zu unterschreiben, ein neues Handy zu kaufen oder ein Abonnement abzuschließen, nicht aber, wenn es um eine tiefe existenzielle Entscheidung geht. Man kann Führung nur verstehen, wenn man selbst führt. Die einzige Möglichkeit, die Ehe zu verstehen, besteht darin, zu heiraten. Um zu verstehen, ob ein bestimmter Karriereweg für einen selbst der richtige ist, muss man ihn tatsächlich über einen längeren Zeitraum ausprobieren. Jene, die unschlüssig vor einer Entscheidung stehen und zögern, bis sie alle Fakten kennen, werden irgendwann feststellen, dass das Leben an ihnen vorbeigezogen ist.[5] Um eine Lebensweise zu verstehen, muss man das Risiko eingehen, sie zu leben.[6] Daher: Na’asse wenischma, „Wir werden tun und letztlich, durch lange Praxis und ausgiebige Erfahrung, werden wir verstehen.“

In meiner Einführung zur diesjährigen Reihe Covenant and Conversation habe ich eine gänzlich andere, eine dritte Interpretation vorgeschlagen, ausgehend von der Tatsache, dass die Israeliten gemäß den Angaben der Tora den Bund dreimal ratifizierten: einmal, bevor sie die Gebote hörten, und zweimal danach. Es gibt in der Tora einen faszinierenden Unterschied zwischen der Beschreibung der ersten beiden Reaktionen und der dritten:

„Das Volk antwortete gemeinsam: ,Wir werden alles tun [na’asse], was Gott gesagt hat‘“ (Exod. 19:8).

„Als Moses hinging und dem Volk alle Worte und Gesetze Gottes verkündete, antwortete es mit einer Stimme: ,Alles, was Gott gesagt hat, werden wir tun [na’asse]‘“ (Exod. 24:3).

„Dann nahm er das Buch des Bundes und las es dem Volk vor. Sie antworteten: ,Wir werden tun und wir werden hören [na’asse wenischma], alles was Gott gesagt hat‘“ (Exod. 24:7).

Die ersten beiden Antworten, die sich nur auf die Handlung (na’asse) beziehen, werden einstimmig gegeben. Das Volk antwortet „gemeinsam“. Sie tun dies „mit einer Stimme“. Bei der dritten, die sich nicht nur auf das Tun, sondern auch auf das Hören (nischma) bezieht, gibt es keine Einstimmigkeit. „Hören“ bedeutet hier vieles: zuhören, achtgeben, verstehen, aufnehmen, verinnerlichen, antworten und gehorchen. Es bezieht sich mit anderen Worten auf die geistige, innere Dimension des Judentums.

Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz. Das Judentum ist eher eine Gemeinschaft des Tuns als des „Hörens“. Es gibt einen verbindlichen Kodex des jüdischen Rechts. Geht es um die Halacha, den Weg jüdischen Handelns, suchen wir nach einem Konsens.

Wenn es hingegen um Spiritualität geht, gibt es keinen einheitlichen normativen jüdischen Ansatz, wenngleich es zweifelsohne Grundsätze des jüdischen Glaubens gibt. Das Judentum hat seine Priester und Propheten, seine Rationalisten und Mystiker, seine Philosophen und Dichter gehabt. Der Tanach, die hebräische Bibel, spricht mit einer Vielzahl von Stimmen. Jesaja war nicht Ezechiel. Das Buch der Sprüche entstammt einer anderen Denkweise als die Bücher Amos und Hosea. Die Tora beinhaltet Gesetz und Erzählung, Geschichte und mystische Vision, Ritual und Gebet. Es gibt Normen darüber, wie man sich als Jude zu verhalten hat. Aber es gibt nur wenige Vorgaben dafür, wie man als Jude denken und fühlen soll.

Wir erleben Gott auf unterschiedliche Weise. Manche finden Ihn in der Natur, in dem, was Wordsworth das „Gespür von etwas, das viel tiefer ist / dazu gemischt und alles ganz durchdringt, / im Licht der untergehenden Sonne wohnt, / im runden Ozean, der Luft, die lebt“ nannte.[7] Andere finden Ihn in zwischenmenschlichen Emotionen, in der Erfahrung, zu lieben und geliebt zu werden – in dem, was Rabbi Akiwa meinte, als er sagte, dass in einer wahren Ehe „die göttliche Gegenwart zwischen“ Mann und Frau weilt.

Manche finden Gott in dem prophetischen Ruf: „Lass das Recht herabströmen wie einen Fluss, und die Gerechtigkeit wie einen nie versiegenden Strom“ (Amos 5:24). Andere finden Ihn im Studium: „Freue dich an den Worten Deiner Toradenn sie sind unser Leben und die Länge unserer Tage; über sie wollen wir Tag und Nacht nachdenken.“[8] Wieder andere finden Ihn im Gebet und entdecken, dass Gott allen nahe ist, die Ihn in Wahrheit anrufen.

Wieder andere finden Gott in der Freude, im Tanzen und Singen, wie König David, als er die Heilige Lade nach Jerusalem brachte. Andere – oder dieselben Menschen an verschiedenen Stationen ihres Lebens – finden Ihn im Abgrund, in Tränen, Reue und einem gebrochenen Herzen. Einstein fand Gott in der „fürchterlichen Symmetrie“ und geordneten Komplexität des Universums. Raw Kook fand Ihn in der Harmonie der Vielfalt. Raw Soloveitchik fand Ihn in der Einsamkeit des Seins und dessen Annäherung an die Seele des Seins selbst.

Es gibt zwar eine normative Form der heiligen Handlung, aber es gibt viele Wege, die heilige Stimme zu vernehmen, der heiligen Gegenwart zu begegnen, gleichzeitig zu spüren, wie klein wir sind und wie groß doch das Universum ist, das wir bewohnen, wie unbedeutend wir angesichts der Weite des Raums und der Myriaden von Sternen erscheinen müssen, und wie bedeutsam wir dennoch sind, da wir wissen, dass Gott uns in Seinem Ebenbild geschaffen hat und uns hier, an diesem Ort, zu dieser Zeit, mit diesen Gaben, unter diesen Umständen, vor eine Aufgabe gestellt hat, wenn es uns nur gelingt, sie zu erkennen. Wir können Gott auf den Höhen und in den Tiefen finden, in der Einsamkeit und in der Zweisamkeit, in der Liebe und in der Angst, in der Dankbarkeit und in der Not, im gleißenden Licht und inmitten tiefer Finsternis. Wir können Gott finden, wenn wir Ihn suchen, doch manchmal findet Er uns, wenn wir es am wenigsten erwarten.

Das ist der Unterschied zwischen na’asse und nischma. Wir vollbringen die göttliche Tat „gemeinsam“. Wir antworten auf seine Befehle „mit einer Stimme“. Doch wir hören Gottes Gegenwart auf verschiedene Art, denn obwohl Gott Einer ist, sind wir doch alle verschieden, und ein jeder von uns begegnet Ihm auf seine ganz persönliche Weise.

[1] Schabbat 88a-b.

[2] Über die Zustimmung der Israeliten gibt es freilich ganz unterschiedliche Interpretationen. Einer Erklärung zufolge hat Gott „den Berg über ihnen gehalten“ und ihnen so keine andere Wahl gelassen, als zuzustimmen oder zu sterben (Schabbat 88a).

[3] Das Wort hat im biblischen Hebräisch bereits andernorts diese Bedeutung, so wie in der Geschichte vom Turmbau zu Babel, wo Gott sagt: „Kommt, lasst uns ihre Sprache verwirren, damit die Menschen ihren Nächsten nicht mehr verstehen können.“

[4] Dies ist der berühmte Satz aus Goethes Faust.

[5] Dies ist vergleichbar mit der Feststellung von Bernard Williams in seinem berühmten Essay Moral Luck (Moralisches Glück), dass es bestimmte Entscheidungen gibt – sein Beispiel ist Gauguins Entscheidung, seine Karriere und Familie zu verlassen und nach Tahiti zu gehen, um zu malen -, von denen wir nicht wissen können, ob sie die richtigen sind, bis wir sie getroffen haben und sehen, wie sie ausfallen. Alle derartigen existenziellen Entscheidungen sind mit Risiken verbunden.

[6] Das ist übrigens der als „Verstehen“ bekannte Ansatz in der Soziologie und Anthropologie, der besagt, dass Kulturen von außen nicht vollständig verstanden werden können. Sie müssen von innen erlebt werden. Das ist einer der Hauptunterschiede zwischen den Sozialwissenschaften und den Naturwissenschaften.

[7] William Wordsworth, Lines Composed a Few Miles Above Tintern Abbey, On Revisiting the Banks of the Wye during a Tour, July 13, 1798.

[8] Aus dem Segensspruch vor dem Sch’ma des Abendgebets.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier