Apr ‍‍2024 - תשפד / תשפה

Spontanität: Gut oder schlecht?

   Der Wochenabschnitt Schemini erzählt die tragische Geschichte, wie die große Einweihung des Stiftszeltes – ein Tag, über den die Weisen sagten, Gott habe sich so sehr gefreut wie über die Erschaffung des Universums – durch den Tod von zwei Söhnen Aarons, Nadab und Abihu, überschattet wurde:

„Und die Söhne Aarons, Nadab und Abihu, nahmen ihre Räucherpfannen und taten Feuer hinein und Räucherwerk darauf und brachten vor dem Ewigen unerlaubterweise ein Feuer dar, das [Gott] ihnen nicht geboten hatte darzubringen. Da ging ein Feuer aus vor der Gegenwart Gottes und verzehrte sie, und sie starben vor dem Ewigen.“ (Lev. 10,1-2).

Die Weisen und die späteren Kommentatoren haben viele Erklärungen dafür gegeben, worin die Sünde von Nadab und Abihu bestand. Die einfachste Antwort, die die Tora selbst hier und an anderen Stellen gibt (Num. 3:4, 26:61), ist jedoch, dass sie aus eigenem Antrieb handelten. Sie taten, was ihnen nicht befohlen worden war. Sie handelten spontan, vielleicht aus reiner Begeisterung im Gefühl des Augenblicks und brachten „unerlaubtes Feuer“. Offensichtlich ist es gefährlich, in spirituellen Dingen spontan zu handeln.

Aber ist es das? Moses handelte spontan unter viel schwierigeren Umständen, als er die Steintafeln zerschmetterte, als er sah, wie die Israeliten wild um das Goldene Kalb herumsprangen. Die Tafeln – von Gott selbst gehauen und graviert – waren vielleicht die heiligsten Gegenstände überhaupt. Dennoch wurde Moses für seine Tat nicht bestraft. Die Weisen sagten, er habe zwar aus eigenem Antrieb gehandelt, ohne Gott vorher zu fragen, aber Gott habe diese Tat gutgeheißen. Raschi bezieht sich auf diesen Moment in seinem allerletzten Kommentar zur Tora, in deren letztem Vers (Deut. 34:12) von „all der gewaltigen Stärke und all den großen und furchtbaren Taten, die Moses vor den Augen von ganz Israel vollbrachte“ die Rede ist:

לעיני כל ישראל: שנשאו לבו לשבור הלוחות לעיניהם, שנאמר (לעיל ט, יז) ואשברם לעיניכם, והסכימה דעת קב“ה לדעתו, שנאמר (שמות לד, א) אשר שברת, יישר כחך ששברת.

„Dies bezieht sich darauf, dass [Moses] sich die Freiheit nahm, die Tafeln vor ihren Augen zu zerbrechen, wie es heißt: ‚Ich habe sie vor euren Augen zerbrochen‘. Der Heilige, gelobt sei Er, stimmte ihm zu, wie es heißt: ‚Die du zerbrochen hast‘ – ‚Wohl dir, dass du sie zerbrochen hast!‘“

Warum also war Spontaneität für Nadab und Abihu falsch, für Moses aber richtig? Die Antwort lautet: Nadab und Abihu waren Kohanim, Priester. Moses war ein Nawi, ein Prophet. Das sind zwei verschiedene Formen religiöser Führung. Sie haben unterschiedliche Aufgaben, unterschiedliche Sensibilitäten, ja sogar unterschiedliche Herangehensweisen im Umgang mit der zeitlichen Dimension selbst.

Der Kohen dient Gott auf eine Weise, die sich im Laufe der Zeit nicht ändert (außer natürlich, als der Tempel zerstört wurde und der Dienst der Kohanim ein jähes Ende fand). Der Prophet dient Gott auf eine Weise, die sich im Verlauf der Zeit ständig verändert. Wenn die Menschen zu sorglos sind, warnt der Prophet vor einer bevorstehenden Katastrophe. Wenn sie eine Katastrophe erleiden und in tiefer Verzweiflung sind, bringt der Prophet Trost und Hoffnung.

Die Worte, die der Kohen spricht, sind immer die gleichen. Der priesterliche Segen verwendet heute dieselben Worte wie zur Zeit Moses und Aarons. Aber die Worte eines Propheten sind nie dieselben. Wie es heißt:

„Keine zwei Propheten haben den gleichen Stil“ (Sanhedrin 89a).

Für einen Propheten ist Spontaneität also lebensnotwendig. Aber für einen Kohen, der einen göttlichen Dienst verrichtet, ist sie völlig fehl am Platz.

Warum der Unterschied? Priester und Prophet dienten schließlich demselben Gott. Die Tora bedient sich eines Mittels, das wir in etwas anderer Form erst kürzlich wieder erfunden haben. Der stereophone Ton – der Ton kommt aus zwei verschiedenen Lautsprechern – wurde in den 1930er Jahren entwickelt, um den akustischen Eindruck einer Perspektive zu vermitteln. In den 1950er Jahren wurde der 3D-Film entwickelt, um für das Bild zu tun, was Stereo für den Ton getan hatte. Seit den Arbeiten von Pierre Broca in den 1860er Jahren bis heute versuchen Neurowissenschaftler mit Hilfe von MRT- und PET-Scans zu verstehen, wie unser bikamerales Gehirn es uns ermöglicht, intelligenter auf unsere Umwelt zu reagieren, als es sonst möglich wäre. Zwillings­perspektiven sind notwendig, um die Realität vollständig zu erfahren.

Die Zwillingsperspektive des Priesters und des Propheten entspricht der Zwillingsperspektive der Schöpfung, wie sie in Genesis 1:1 – 2:3 (mit priesterlicher Stimme gesprochen, mit Betonung auf Ordnung, Struktur, Unterteilungen und Grenzen) und in Genesis 2:4 – 3:24 (mit prophetischer Stimme gesprochen, mit Betonung auf den Nuancen und der Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen) beschrieben wird.

Wenden wir uns nun einem anderen Bereich zu, in dem es einen ständigen Konflikt zwischen Struktur und Spontaneität gab, nämlich der Tefila, dem Gebet, insbesondere der Amida. Wir wissen, dass Rabban Gamliel und sein Hof in Jawne nach der Zerstörung des Tempels einen Standardtext für die werktägliche Amida einführten, der achtzehn, später neunzehn Segenssprüche in einer genau festgelegten Reihenfolge umfasste (Mischna Berachot 4:3).

Aber nicht alle waren damit einverstanden. Rabbi Josua war der Meinung, dass Einzelne eine verkürzte Form der Amida sprechen könnten. Rabbi Elieser war nach einigen Auslegungen gegen einen festen Text und meinte, man solle jeden Tag etwas Neues sagen (Jerusalemer Talmud, Berachot 4).

Es scheint, dass diese Meinungsverschiedenheit genau parallel zu einer anderen über die Quelle der täglichen Gebete verläuft:

„Es heißt, Rabbi Jose, Sohn des Rabbi Chanina, habe gesagt: ‚Die Gebete wurden von den Patriarchen eingeführt.‘ Rabbi Josua Ben Levi sagte: ‚Die Gebete wurden eingeführt, um die täglichen Opfer zu ersetzen‘“ (Berachot 26b).

Nach Rabbi Josef, dem Sohn von Rabbi Chanina, wurde Schacharit von Abraham, Mincha von Isaak und Ma’ariw von Jakob eingeführt. Nach Rabbi Josua Ben Levi entspricht Schacharit dem täglichen Morgenopfer und Mincha dem Nachmittagsopfer. Auf den ersten Blick hat diese Meinungsverschiedenheit keine praktischen Auswirkungen und doch gibt es sie.

Wenn die Gebete von den Patriarchen eingeführt wurden, sind sie prophetischen Ursprungs. Wenn sie als Opferersatz eingeführt wurden, sind sie priesterlichen Ursprungs. Den Priestern war es verboten, spontan zu handeln, aber die Propheten taten dies ganz selbstverständlich. Jemand, der das Gebet als priesterlich ansieht, würde, wie Rabban Gamliel, die Bedeutung des genauen Textes betonen. Jemand, der das Gebet als prophetisch ansieht, würde wie Rabbi Elieser im Sinne des Jerusalemer Talmuds eher die Spontaneität schätzen und versuchen, jeden Tag etwas Neues zu sagen.

In unserer Tradition wurde das Problem schließlich auf bemerkenswerte Weise gelöst. Wir sagen jede Amida zweimal, einmal privat und still, in der Tradition der Propheten, und dann ein zweites Mal öffentlich und gemeinsam durch den Schaliach Zibur, die „Wiederholung des Vorbeters“, in der Tradition eines Priesters, der im Tempel ein Opfer darbringt. (Es ist leicht zu verstehen, warum es im Ma’ariw-Gottesdienst keine Wiederholung der Lesung gibt: In der Nacht gab es kein Opfer). Während der stillen Amida ist es erlaubt, eigene Worte hinzuzufügen. Während der Wiederholung ist dies nicht gestattet. Der Grund dafür ist, dass die Propheten spontan handelten, die Priester jedoch nicht.

Die Tragik von Nadab und Abihu besteht darin, dass sie den Fehler begingen, sich wie Propheten zu verhalten, obwohl sie in Wirklichkeit Priester waren. Wir aber haben beide Traditionen geerbt, und das aus gutem Grund, denn ohne Struktur gäbe es keine Kontinuität im Judentum, aber ohne Spontaneität würde es ihm an neuem Leben fehlen. Die Herausforderung besteht darin, das Gleichgewicht zu wahren, ohne den Platz der beiden zu verwechseln.

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