Mrz ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Opfergaben verstehen

Eines der am schwersten zu erfassenden Elemente der Tora und der von ihr vorgeschriebenen Lebensweise ist aus ganz offensichtlichen Gründen das Phänomen der Tieropfer. Erstens haben Juden und das Judentum fast zweitausend Jahre ohne sie überlebt.

Zweitens haben sich praktisch alle Propheten kritisch über sie geäußert, nicht zuletzt Jeremia in der Haftara zu Paraschat Zaw.[1]  Keiner der Propheten wollte die Opfer abschaffen, doch kritisierten sie diejenigen scharf, die sie darbrachten während sie ihre Mitmenschen unterdrückten oder ausbeuteten. Was sie beunruhigte – und was Gott, in dessen Namen sie sprachen, bekümmerte – war, dass manche Menschen die Opfer offenbar als eine Art Bestechung ansahen: Wenn wir Gott ein nur ausreichend großzügiges Geschenk machen, wird er über unsere Verbrechen und Vergehen hinwegsehen. Diese Vorstellung ist mit dem Judentum völlig unvereinbar. Andererseits gehörten die Opfer neben der Monarchie zu den am wenigsten charakteristischen Merkmalen des antiken Judentums. Jede Religion des Altertums, jeder Kult und jede Sekte hatte zu jener Zeit ihre Altäre und Opfer.

Bemerkenswert ist schließlich, wie einfach und reibungslos die Weisen in der Lage waren, einen Ersatz für den Opferdienst zu finden, insbesondere diese drei: Gebet, Studium und Zedaka. Das Gebet, vornehmlich Schacharit, Mincha und Mussaf, trat an die Stelle der Opfer. Wer die Opfergesetze studiert, ist wie jemand, der ein Opfer darbringt. Und wer für wohltätige Zwecke spendet, bringt sozusagen ein finanzielles Opfer dar und erkennt damit an, dass wir alles, was wir haben, Gott verdanken.

Obwohl wir also täglich für den Wiederaufbau des Tempels und die Wiedereinführung des Opferrituals beten, bleibt das Prinzip des Opfers selbst doch schwer zu verstehen. Anthropologen, Psychologen und Bibelwissenschaftler haben viele Theorien darüber aufgestellt, was Opfer eigentlich darstellen, doch beruhen die meisten von ihnen auf der fragwürdigen Annahme, dass der Opferdienst in allen Kulturen im Wesentlichen die gleiche Handlung sei. Das ist dubiose Wissenschaft. Wir sollten stets versuchen, eine Praxis im Lichte der spezifischen Glaubensvorstellungen der Kultur zu verstehen, in der sie stattfindet. Was könnte das Opfer in einer Religion bedeuten, in der Gott der Schöpfer und Eigentümer von allem ist?

Was also war das Opfer im Judentum und warum ist es, zumindest als Idee, auch heute noch wichtig? Die einfachste Antwort – auch wenn sie nicht die Einzelheiten der verschiedenen Arten von Opfern erklärt – ist diese: Wir lieben das, wofür wir bereit sind, Opfer zu erbringen. Deshalb haben die Israeliten, als sie ein Volk von Bauern und Hirten waren, ihre Liebe zu Gott bekundet, indem sie Ihm ihre Schafe und Rinder, ihr Getreide und ihre Früchte, also ihre Lebensgrundlage, als symbolische Gabe darbrachten. Lieben heißt danken. Lieben heißt, dem Geliebten eine Gabe bringen zu wollen. Lieben heißt geben.[2] Das Opfer ist die Choreographie der Liebe.

Das gilt für viele Bereiche des Lebens. Ein glücklich verheiratetes Paar bringt einander ständig Opfer. Eltern opfern viel für ihre Kinder. Menschen, die eine innere Berufung fühlen, für andere da zu sein – Kranke zu heilen, sich um die Armen zu kümmern oder für die Gerechtigkeit der Schwachen gegenüber den Starken einzutreten -, opfern oft eine lukrative Karriere für ihre Ideale. In Zeiten des Patriotismus erbringen die Menschen Opfer für ihr Land. Die Mitglieder starker Gemeinschaften opfern sich füreinander auf, wenn jemand in Not ist oder Hilfe braucht. Das Opfer ist der Kitt unserer Beziehung. Es bindet uns aneinander. Deshalb war das Opfer in biblischer Zeit so wichtig – nicht wie in anderen Religionen, sondern gerade weil der Kern des Judentums die Liebe ist: „Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ In anderen Religionen war das treibende Motiv für Opferungen die Angst: Angst vor dem Zorn und der Macht der Götter. Im Judentum war es die Liebe.

Das zeigt sich schon im hebräischen Wort für Opfer: das Substantiv Korban und das Verb lehakriw, das „sich nähern oder etwas nahe bringen“ bedeutet. Der Name Gottes, der stets im Zusammenhang mit Opfern gebraucht wird, ist Haschem, Gott in seinem Aspekt der Liebe und des Erbarmens, und niemals Elokim, Gott als Gerechtigkeit und Distanz. Tatsächlich kommt das Wort Elokim im ganzen Buch Levitikus nur fünfmal vor, und dann immer im Zusammenhang mit anderen Völkern. Das Wort Haschem kommt hingegen 209 Mal vor. Und wie wir in der vorhergehenden Parascha gesehen haben, bedeutet der Name des Buches, Wajikra, „in Liebe rufen“. Wo Liebe ist, gibt es auch Opfer.

Wenn wir uns dessen bewusst werden, beginnen wir zu verstehen, wie relevant das Konzept des Opfers im einundzwanzigsten Jahrhundert ist. Die wichtigsten Institutionen der modernen Welt – der liberal-demokratische Staat und die freie Marktwirtschaft – beruhen auf dem Modell des rationalen Akteurs, das heißt eines Menschen, der in dem Bestreben handelt, seinen eigenen Nutzen zu maximieren. In Hobbes’ Darstellung des Gesellschaftsvertrages liegt es im Interesse jedes Einzelnen, einen Teil seiner Rechte an eine zentrale Macht abzutreten, die für Rechtsstaatlichkeit und Landesverteidigung sorgt. Adam Smiths Einsicht in die Marktwirtschaft war: Wenn jeder von von uns nach der Maximierung seines eigenen Vorteils strebt, ist das Ergebnis ein Wachstum der Gemeinschaft. Moderne Politik und Wirtschaft wurden auf dem Fundament des rationalen Strebens nach Eigennutz aufgebaut.

Daran war nichts auszusetzen. Es geschah aus den besten Motiven. Es handelte sich um den Versuch, Frieden in einem Europa zu schaffen, das jahrhundertelang von Kriegen heimgesucht worden war. Der demokratische Staat und die Marktwirtschaft waren ein ernsthafter Versuch, die Macht des Eigeninteresses dafür zu nutzen, den zur Gewalt führenden destruktiven Leidenschaften entgegenzutreten.[3] Die Tatsache, dass Politik und Wirtschaft auf Eigeninteresse beruhten, schloss nicht aus, dass Familien und Gemeinschaften durch Altruismus aufrechterhalten werden konnten. Es war ein gutes System, nicht ein schlechtes.

Heute jedoch, nach mehreren Jahrhunderten, ist die Vorstellung von Liebe als Aufopferung in vielen Lebensbereichen verblasst. Das zeigt sich besonders in Beziehungen. Überall im Westen heiraten immer weniger Menschen, und die, die heiraten, tun es später. Fast die Hälfte aller Ehen wird geschieden. Überall in Europa schrumpft die einheimische Bevölkerung. Für eine stabile Bevölkerungszahl braucht ein Land eine durchschnittliche Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau. Im Jahr 2015 lag die durchschnittliche Geburtenrate in der Europäischen Union bei 1,55, in Spanien bei 1,27. Deutschland hat die niedrigste Geburtenrate der Welt.[4] Aus diesem Grund bleibt die Bevölkerungszahl in Europa heute nur durch eine noch nie dagewesene Zuwanderungsrate stabil. Geht der Opfergedanke in einer Gesellschaft verloren, beginnen früher oder später die Ehen zu scheitern, die Elternschaft geht zurück und die Gesellschaft altert und stirbt langsam.

Mein Vorgänger, Lord Jakobovits, seligen Andenkes, hat das sehr schön ausgedrückt. Der Talmud sagt, wenn ein Mann sich von seiner ersten Frau scheiden lässt, „vergießt der Altar Tränen“ (Gittin 90b). Was aber hat der Altar mit der Ehe zu tun? In beiden Fällen geht es um Opfer. Ehen scheitern, wenn die Partner nicht bereit sind, füreinander Opfer zu bringen.

Die Juden und das Judentum haben trotz der vielen Opfer, die Menschen für sie bringen mussten, überlebt. Im elften Jahrhundert drückte Juda Halevi geradezu Ehrfurcht vor der Tatsache aus, dass Juden Juden geblieben sind, obwohl sie „mit einem leicht gesprochenen Wort“ zum Glauben der Mehrheit hätten konvertieren und ein relativ leichtes Leben hätten führen können.[5] Es ist aber ebenso möglich, dass das Judentum nur wegen dieser Opfer überlebt hat. Wo Menschen für ihre Ideale Opfer bringen, bleiben diese Ideale stark. Opfer sind Ausdruck von Liebe.

Nicht jedes Opfer ist heilig. Selbstmordattentäter opfern ihr Leben und das ihrer Opfer in einer Weise, die ich als Sakrileg bezeichnet habe.[6] Die Existenz von Tieropfern in der Tora war vielleicht sogar ein Mittel, um die Menschen davon abzuhalten, Menschenopfer in Form von Gewalt und Krieg zu bringen. Das Prinzip des Opfers aber besteht fort: Es ist das Geschenk, das wir der Sache und jene Menschen erbringen, die wir lieben.

[1] Jeremia 7:22: „Als Ich eure Väter aus dem Land Ägypten befreite, sprach Ich nicht mit ihnen und befahl ihnen nicht, Brandopfer oder Schlachtopfer zu bringen“ – eine bemerkenswerte Aussage. Siehe Raschi und Radak ibid., und insbesondere Maimonides, Führer der Unschlüssigen, III:32.

[2] Das Verb „lieben“, ahw, ist mit den Verben hwh, hww und jhw verwandt, die alle die Bedeutung von „geben“, „bringen“ oder „darbringen“ haben.

[3] Der klassische Text ist A. O. Hirschman, The Passions and the Interests (Princeton University Press, 1977).

[4] The Observer, 23. August, 2015.

[5] Juda Halevi, Der Kusari, 4:23.

[6] Siehe Jonathan Sacks, Not in God’s Name: Confronting Religious Violence (New York, Schocken Books, 2017).

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier