Dez ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Kollektive Verantwortung

   Es war in jeder Hinsicht eine schockierende Episode. Jakob hatte sich am Rande der Stadt Schechem niedergelassen, die von Chamor beherrscht wurde. Dina, Jakobs Tochter, geht aus, um sich die Stadt anzusehen. Schechem, der Sohn Chamors, sieht sie, entführt und vergewaltigt sie, verliebt sich in sie und will sie heiraten. Er fleht seinen Vater an: „Nimm mir dieses Mädchen zur Frau“ (Gen. 34:4).

Jakob erfährt davon und schweigt, aber seine Söhne sind wütend. Sie muss gerettet und das Volk bestraft werden. Chamor und sein Sohn suchen die Familie auf und bitten sie, der Heirat zuzustimmen. Jakobs Söhne tun so, als würden sie das Angebot ernst nehmen. Wir wollen uns bei euch niederlassen, sagen sie, und uns mit euch verheiraten unter der Bedingung, dass alle eure Männer beschnitten werden. Chamor und Schechem überbringen den Vorschlag den Bewohnern der Stadt.

Am dritten Tag nach der Beschneidung, wenn die Schmerzen am größten sind und die Männer des Kampfes unfähig daniederliegen, kommen Simon und Levi, die Brüder Dinas, in die Stadt und töten jeden der männlichen Einwohner (Gen. 34:26).

Es war eine furchtbare Rache. Jakob tadelt seine Söhne:

„Ihr habt mich in Bedrängnis gebracht, ihr habt mich bei den Bewohnern des Landes, den Kanaanitern und den Perisitern, verhasst gemacht. Ich bin nur wenige, und wenn sie sich zusammentun, um mich anzugreifen, werde ich mit meinem Hause vernichtet werden“ (Gen. 34:30).

Doch Simon und Levi erwidern:

„Sollte er unsere Schwester wie eine Prostituierte behandeln?“ (Gen. 34:31).

Der Text legt nahe, dass Simon und Levi mit ihrer Tat im Recht waren. Ungewöhnlicherweise fügt die Tora dreimal eine auktoriale Bemerkung über die moralische Schwere der Situation hinzu:

„Die Söhne Jakobs, die gehört hatten, was geschehen war, kamen vom Feld zurück. Sie waren schockiert und wütend, denn Schechem hatte in Israel eine Schandtat begangen, indem er mit Jakobs Tochter geschlafen hatte. So etwas darf nicht sein!“ (Gen. 34:7).

„Die Söhne Jakobs kamen über die Erschlagenen und plünderten die Stadt, weil sie ihre Schwester geschändet hatten“ (Gen. 34:27).

Aber Jakob verurteilt ihr Verhalten, und obwohl er zu diesem Zeitpunkt nichts weiter sagt, brennt es ihm weiter im Gedächtnis. Viele Jahre und 15 Kapitel später, auf seinem Sterbebett, verflucht er die beiden Brüder für ihr Verhalten:

„Simon und Levi sind Brüder, Waffen der Gewalt sind ihre Ware. Ich will nicht in ihrem Rat treten, und meine Ehre soll nicht in ihrer Versammlung sein. Denn in ihrer Wut haben sie Menschen erschlagen und nach ihrer Laune Ochsen verstümmelt. Verflucht sei ihr Zorn, denn er ist überaus heftig, und ihr Grimm, denn er ist überaus grausam. Ich werde sie in Jakob verteilen und sie in Israel zerstreuen.“ (Gen. 49:5-7).

Wer hatte recht in diesem Streit? Maimonides verteidigt die Brüder. In seinem Gesetzbuch, der Mischne Tora, erklärt er, dass die Schaffung von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit zu den sieben Gesetzen Noahs gehört, die für die gesamte Menschheit verbindlich sind:

„Und wie werden die Nichtjuden aufgefordert, Gerichtshöfe einzurichten? Sie sind verpflichtet, Richter und Beamte in jedem Wohnbezirk einzusetzen, die in Übereinstimmung mit der Durchsetzung der anderen sechs Gebote regieren und das Volk in Bezug auf diese Gesetze warnen und jeden Übertreter mit dem Tod durch das Schwert bestrafen sollen. Und auf dieser Grundlage haben sich alle Einwohner von Schechem des Todes schuldig gemacht (durch die Hand von Simon und Levi, den Söhnen Jakobs), weil Schechem (ihr Prinz) Dina geraubt (und vergewaltigt) hatte, was sie sahen und wussten, ihn aber nicht vor Gericht brachten…“ (Maimonides, Gesetze der Könige, 9:14).

Nach Maimonides gibt es das Prinzip der kollektiven Verantwortung. Die Einwohner von Schechem, die wussten, dass ihr Prinz ein Verbrechen begangen hatte, und es aber unterließen, ihn vor Gericht zu stellen, machten sich kollektiv des Unrechts schuldig.

Nachmanides ist anderer Meinung. Das noachidische Gebot, für Gerechtigkeit zu sorgen, ist eine Verpflichtung zur aktiven Einführung von Gesetzen, Gerichten und Richtern, aber es gibt weder ein Prinzip der kollektiven Verantwortung noch eine Todesstrafe für die Nichtbefolgung des Gebotes. Das wäre auch gar nicht möglich, denn wenn Simon und Levi im Recht gewesen wären, wie Maimonides argumentiert, warum hätte Jakob sie dann kritisiert und später auf dem Sterbebett verflucht?

Der Streit zwischen ihnen ist ebenso ungelöst wie der zwischen Jakob und seinen Söhnen. Wir wissen, dass es im jüdischen Recht das Prinzip der kollektiven Verantwortung gibt: Kol Jisrael Arewin seh baseh, „Alle Juden stehen füreinander ein“. Aber ist dies eine Eigenart des Judentums? Liegt die Besonderheit des jüdischen Rechts darin, dass es sich aus dem Bund zwischen Gott und den Israeliten am Berg Sinai ableitet, in dem sich das Volk individuell und kollektiv verpflichtete, das Gesetz zu befolgen und dafür zu sorgen, dass es eingehalten wird?

Maimonides scheint im Gegensatz zu Nachmanides zu sagen, dass kollektive Verantwortung ein Merkmal aller Gesellschaften ist. Wir sind nicht nur für unser eigenes Verhalten verantwortlich, sondern auch für die Menschen um uns herum, unter denen wir leben. Vielleicht ergibt sich dies nicht aus dem Konzept einer Gesellschaft, sondern einfach aus der Natur der moralischen Verpflichtung. Wenn X falsch ist, darf ich es nicht nur nicht tun. Ich muss, wenn ich kann, andere davon abhalten, es zu tun, und wenn ich das nicht tue, bin ich mitschuldig. Heute würden wir das die Schuld des Zuschauers nennen. Der Talmud drückt es so aus:

„Raw und R. Chanina, R. Jochanan und R. Chawiwa lehrten [das Folgende]: Wer seinen Hausgenossen verbieten kann [eine Sünde zu begehen], es aber nicht tut, wird für [die Sünden] seiner Hausgenossen ergriffen; [wenn er] seinen Mitbürgern verbieten kann, wird er für [die Sünden] seiner Mitbürger ergriffen; wenn der ganzen Welt, wird er für [die Sünden] der ganzen Welt ergriffen“ (Schabbat 54b).

Es ist jedoch klar, dass es sich um ein komplexes Thema handelt, das differenziert betrachtet werden muss. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Täter und einem Zuschauer. Es ist eine Sache, ein Verbrechen zu begehen, und eine andere, Zeuge eines Verbrechens zu sein und es nicht zu verhindern. Wir können einen Zuschauer für schuldig halten, aber nicht im gleichen Maße. Der Talmud verwendet die Formulierung „wird ergriffen“. Das kann bedeuten, dass er moralisch schuldig ist. Er kann zur Verantwortung gezogen werden. Er kann vom „himmlischen Gericht“ in dieser oder in der nächsten Welt bestraft werden. Es jedoch bedeutet nicht, dass er wegen krimineller Fahrlässigkeit vor Gericht gestellt und verurteilt werden kann.

Diese Frage wurde bekanntlich im Zusammenhang mit dem deutschen Volk und dem Holocaust aufgeworfen. Der Philosoph Karl Jaspers unterschied zwischen der moralischen Schuld der Täter und der, wie er es nannte, metaphysischen Schuld der Zuschauer:

„Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen. Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Dass ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich.“[1]

Es gibt also eine reale Schuld, die sich nach Jaspers aber nicht auf juristische Kategorien reduzieren lässt. Simon und Levi mögen recht gehabt haben, als sie meinten, die Männer von Schechem seien schuldig, nichts getan zu haben, als ihr Prinz Dina entführte und vergewaltigte, aber das bedeutet nicht, dass sie das Recht hatten, im Schnellverfahren Recht zu sprechen und alle männlichen Einwohner zu töten. Jakob hatte recht, als er dies als brutalen Überfall betrachtete. In diesem Fall scheint die Position von Nachmanides überzeugender zu sein als die von Maimonides.

Einer der tiefgründigsten Moralisten Israels, der verstorbene Jeschajahu Leibowitz (1903-1994), schrieb, dass es zwar eine ethische Rechtfertigung für das geben mag, was Simon und Levi getan haben, „aber es gibt auch ein ethisches Postulat, das selbst keine Sache der Rationalisierung ist und das einen Fluch über all diese gerechtfertigten und gültigen Erwägungen ausspricht.“[2] Es kann Handlungen geben, die sich zwar rechtfertigen lassen, aber dennoch verflucht sind. Das meinte Jakob, als er seine Söhne verfluchte.

Kollektive Verantwortung ist eine Sache. Kollektive Bestrafung ist eine andere.

[1] Karl Jaspers, The Question of German Guilt, Trans. E. B. Ashton (New York, Fordham University Press, 2000), S. 26. Deutsche Fassung: Die Schuldfrage: Von der politischen Haftung Deutschlands (München, Piper Taschenbuch, 5. Auflage, 2012).

[2] Jeschajahu Leibowitz, After Kibiyeh: Judaism, Human Values, and the Jewish State, 1953-1954,

http://www.leibowitz.co.il/leibarticles.asp?id=85.

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