Nov ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Jakobs Charakter

  Was für ein Mensch war Jakob? Das ist die Frage, die uns in jeder Episode seines Lebens entgegenschallt.

Das erste Mal, da wir eine Beschreibung über ihn lesen, wird er Isch tam genannt: ein einfacher, stiller, schlichter, geradliniger Mensch. Aber genau das scheint er nicht zu sein. Wir lesen, wie er Esau das Erstgeburtsrecht für einen Teller Suppe abkauft. Wir lesen, wie Jakob die Blindheit seines Vaters ausnutzt, als er in Esaus Kleidern den Segen empfängt, der eigentlich für seinen Bruder bestimmt war.

Das sind beunruhigende Ereignisse. Wir können sie nach der Interpretation des Midrasch lesen: Da wird Jakob als der vollkommen Gute und Esau als der vollkommen Böse dargestellt. Der Midrasch liest den biblischen Text neu, um ihn mit den höchsten Anforderungen an ein moralisches Leben in Einklang zu bringen. Vieles spricht für diesen Ansatz.

Man könnte auch sagen, dass in solchen Fällen der Zweck die Mittel heiligt. Im Fall des Erstgeburtsrechts könnte Jakob Esau getestet haben, um zu sehen, ob es ihm wirklich etwas bedeutete. Da Esau es ihm so bereitwillig überließ, könnte Jakob zu Recht zu dem Schluss gelangt sein, dass das Erbrecht jemandem zukommen sollte, der es auch zu schätzen weiß. Im Fall des Segens gehorchte Jakob seiner Mutter, die eine göttliche Prophezeiung erhalten hatte, nach der „der Ältere dem Jüngeren dienen soll“.

Dennoch bleibt der Text befremdlich. Isaak sagt zu Esau: „Dein Bruder ist in betrügerischer Absicht gekommen und hat deinen Segen genommen.“ Esau antwortet: „Heißt er nicht mit Recht Jakob [der Verdränger]? Er hat mich zweimal verdrängt: Er hat mein Erstgeburtsrecht genommen und jetzt auch meinen Segen!“ Solche Vorwürfe werden gegen keinen anderen biblischen Helden erhoben.

Und damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. In der Parascha dieser Woche wird ein ähnlicher Betrug an Jakob selbst begangen. Nach der Hochzeitsnacht stellt er fest, dass er Lea geheiratet hat und nicht, wie er dachte, seine geliebte Rachel. Er beschwert sich bei Laban:

„Was hast du mir da angetan? Habe ich dir nicht für Rachel gedient? Warum hast du mich dann hintergangen?“ (Gen. 29:25).

Laban erwidert:

„Bei uns ist es nicht üblich, die Jüngere vor der Erstgeborenen zu geben“ (Gen. 29:26).

Es fällt schwer, darin nicht eine präzise Vergeltung im Sinne von Maß für Maß zu sehen. Der jüngere Jakob gab vor, der ältere Esau zu sein. Nun hat sich die ältere Lea als die jüngere Rachel verkleidet. Hier ist ein Grundprinzip biblischer Moral am Werk: Wie du tust, so wird dir getan.

Aber das Netz der Täuschung geht weiter. Nachdem Rachel Josef geboren hat, will Jakob nach Hause zurückkehren. Er hat lange genug bei Laban verbracht. Laban drängt ihn zum Bleiben und fordert ihn auf, seinen Preis zu nennen. Da tut Jakob etwas Außergewöhnliches. Er sagt Laban, er wolle überhaupt keinen Lohn. Laban soll alle gefleckten und gestreiften Lämmer und alle gestreiften und gefleckten Ziegen aus der Herde entfernen. Jakob würde dann jedes neugeborene gefleckte oder gestreifte Tier als seinen Lohn behalten.

Es ist ein Angebot, das sowohl auf Labans Habgier als auch auf seine Unwissenheit abzielt. Er scheint Jakobs Arbeit fast umsonst zu bekommen. Er verlangt keinen Lohn. Und die Wahrscheinlichkeit, dass nicht gefleckte Tiere gefleckte Junge zur Welt bringen, scheint gering.

Jakob weiß es besser. Als Verantwortlicher für die Herde unterzieht er sie einer aufwendigen Prozedur mit geschälten Pappel-, Mandel- und Platanenzweigen, die er ihnen in die Tränke gibt. Das Ergebnis: gestreifte und gefleckte Nachkommen.

Wie dies geschehen konnte, hat nicht nur die Kommentatoren verblüfft (von denen die meisten davon ausgehen, dass es sich um ein Wunder handelte, mit dem Gott für das Wohlergehen Jakobs sorgte), sondern auch die Wissenschaftler. Einige argumentieren, dass Jakob etwas von Genetik verstanden haben muss. Zwei Schafe ohne Flecken können durchaus gefleckte Nachkommen haben. Jakob muss dies in den vielen Jahren, in denen er Labans Herden hütete, bemerkt haben.

Andere haben die Vermutung geäußert, dass die pränatale Ernährung einen epigenetischen Effekt haben kann, das heißt, dass sie zur Ausprägung eines bestimmten Gens führen kann, das sonst vielleicht nicht zum Ausdruck gekommen wäre. Wenn dem Wasser, das die Schafe tranken, geschälte Pappel-, Mandel- oder Platanenzweige beigefügt wurden, könnte dies das Agouti-Gen beeinflusst haben, das bei Schafen und Mäusen die Fellfarbe bestimmt.[1]

Wie auch immer es geschah, das Ergebnis war dramatisch. Jakob wurde reich:

„So wurde der Mann überaus wohlhabend und besaß große Herden, Mägde, Knechte, Kamele und Esel“ (Gen. 30:43).

Verständlicherweise fühlten sich Laban und seine Söhne betrogen. Jakob spürte ihren Unmut und nachdem er sich mit seinen Frauen beraten und von Gott selbst den Rat erhalten hatte, wegzugehen, zog er auf und davon, als Laban gerade die Schafe scherte. Als Laban entdeckte, dass Jakob fort war, verfolgte er ihn sieben Tage lang und holte ihn schließlich in den Bergen von Gilead ein.

Der Text ist voll von Vorwürfen und Gegenvorwürfen. Sowohl Laban als auch Jakob fühlen sich betrogen. Jeder von beiden glaubt, dass die Schafe und Rinder rechtmäßig ihm gehören. Beide sehen sich als Opfer des Betrugs durch den anderen. Am Ende sieht sich Jakob gezwungen, vor Laban zu fliehen, wie er zuvor vor Esau fliehen musste, in beiden Fällen aus Angst um sein Leben.

Die Frage stellt sich also erneut. Was für ein Mensch war Jakob? Er scheint alles andere als ein Isch tam, ein geradliniger Mensch gewesen zu sein. Und so verhält sich sicher auch kein religiöses Vorbild, das erst von seinem Vater, dann von seinem Bruder und schließlich von seinem Schwiegervater des Betrugs bezichtigt wird. Was für eine Geschichte erzählt uns die Tora, wenn sie das Leben Jakobs schildert?

Eine Möglichkeit, uns der Antwort zu nähern, bietet die Betrachtung von bestimmten, in Volksmärchen als Unterdrückte auftretenden Figuren – oft ist es ein Hase oder in der afroamerikanischen Tradition der Br’er Rabbit. Der amerikanische Literaturkritiker Henry Louis Gates hat argumentiert, dass solche Figuren „die kreative Art und Weise darstellen, in der die Sklavengemeinschaft auf die Unfähigkeit des Unterdrückers reagierte, sie als im Ebenbilde Gottes geschaffene Menschen zu behandeln“. Sie haben „einen zerbrechlichen Körper, aber einen trügerisch starken Geist“. Indem sie ihre Intelligenz einsetzen, um ihre stärkeren Gegner zu überlisten, sind sie in der Lage, die Hierarchie der Macht, die die Reichen und Starken begünstigt, in kleinem Maßstab zu demontieren und zu untergraben. Sie repräsentieren die momentane Freiheit der Unfreien, einen Protest gegen die willkürlichen Ungerechtigkeiten der Welt.[2]

Eben das scheint mir Jakob in dieser frühen Phase seines Lebens darzustellen. Er wird als der Jüngere der beiden Zwillinge geboren. Sein Bruder ist stark, rötlich, behaart, ein geschickter Jäger, ein Mann des offenen Landes, während Jakob ruhig ist, ein Gelehrter. Dann aber sieht sich Jakob mit der Tatsache konfrontiert, dass sein Vater seinen Bruder mehr liebt als ihn. Dann ist er Laban ausgeliefert, einem habgierigen, ausbeuterischen und betrügerischen Mann, der seine Schwäche ausnutzt. Jakob ist der Mensch, der – wie fast jeder von uns – irgendwann das Gefühl hat, dass das Leben ungerecht ist.

Jakob zeigt durch seine Schlagfertigkeit, dass die Stärke der Starken auch ihre Schwäche sein kann. So ist Esau, als er erschöpft und ausgehungert von der Jagd zurückkehrt, bereit, sein Erstgeburtsrecht impulsiv gegen etwas Suppe einzutauschen. So ist der blinde Isaak bereit, den Sohn zu segnen, der ihm Wildbret zum Essen bringt. So ist es auch, als Laban von der Aussicht hört, Jakobs Arbeitskraft umsonst zu bekommen. Jede Stärke hat ihre Achillesferse, ihre Schwäche, und diese kann von den Schwachen genutzt werden, um den Sieg über die Starken zu erringen.

Jakob steht für die Weigerung der Schwachen, die von den Starken geschaffene Hierarchie zu akzeptieren. Sein Handeln ist eine Form des Trotzes, ein Beharren auf der Würde des Schwachen (gegenüber Esau), des weniger Geliebten (von Isaak) und des Flüchtlings (im Haus Labans). In diesem Sinne ist er ein Element dessen, was es historisch bedeutet hat, Jude zu sein.

Aber der Jakob, dem wir in diesen Kapiteln begegnen, ist nicht der Jakob, dem wir letztlich nacheifern sollen. Und wir sehen, warum. Jakob gewinnt seine Kämpfe mit Esau und Laban, aber um den Preis, dass er am Ende aus Angst um sein Leben fliehen muss. Schlagfertigkeit ist nur eine vorübergehende Lösung.

Erst später, nach seinem Ringkampf mit dem Engel, erhält er einen neuen Namen – also eine neue Identität – als Israel, „denn du hast mit Gott und mit den Menschen gerungen und hast gesiegt“. Als Israel hat er keine Angst mehr, den Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Er braucht sie nicht mehr mit schlauen, aber letztlich vergeblichen Winkelzügen zu überlisten. Seine Kinder werden schließlich zu dem Volk, dessen Würde im unverbrüchlichen Bund mit Gott liegt.

Dennoch können wir in Jakobs frühem Leben etwas entdecken, das in der späteren jüdischen Geschichte bemerkenswerte Züge annahm: Fast zweitausend Jahre lang wurden Juden als Ausgestoßene betrachtet, aber sie weigerten sich, dieses Bild zu verinnerlichen, so wie Jakob sich weigerte, die Hierarchien der Macht oder der Gunst zu akzeptieren, die ihn dazu verurteilten, nur der Zweitbeste zu sein. Wie Jakob haben sich die Juden im Laufe der Geschichte nicht auf körperliche Stärke oder materiellen Reichtum verlassen, sondern auf ihre geistigen Qualitäten.

Am Ende aber wird aus Jakob Israel. Dann ist er nicht länger der schlagkräftige Sieger, sondern der Held mit moralischem Mut, der vor den Menschen und vor Gott aufrecht steht.

[1] Joshua Backon, Jacob and the Spotted Sheep: The Role of Prenatal Nutrition on Epigenetics of Fur Colour im Jewish Bible Quarterly, Band 36, Nr. 4, 2008.

[2] Henry Louis Gates, Black Literature and Literary Theory (New York, Methuen, 1984), S. 81-104.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier