Mrz ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Inspiration und Perspiration

Beethoven stand jeden Morgen im Morgengrauen auf, um sich Kaffee zu kochen. Dabei war er äußerst penibel: Jede Tasse musste aus genau sechzig Bohnen gebrüht werden, die er jedes Mal abzählte. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und komponierte bis zwei oder drei Uhr nachmittags. Danach machte er einen langen Spaziergang, bei dem er einen Bleistift und einige Blätter Notenpapier mitführte, um Ideen, die ihm unterwegs kamen, zu notieren. Jeden Abend nach dem Abendessen trank er ein Bier, rauchte eine Pfeife und ging früh zu Bett, spätestens um zehn Uhr.

Anthony Trollope, der tagsüber bei der Post arbeitete, bezahlte einen Stallburschen, der ihn jeden Tag um fünf Uhr morgens weckte. Um halb sechs setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb genau drei Stunden lang, wobei er im Wettlauf gegen die Zeit versuchte, jede Viertelstunde 250 Wörter zu produzieren. Auf diese Weise entstanden 47 Romane, viele davon in drei Bänden, und sechzehn weitere Bücher. Hatte er einen Roman beendet, bevor er sein Tagespensum von drei Romanen geschafft hatte, griff er sofort zu einem neuen Blatt Papier und begann mit dem nächsten.

Immanuel Kant, der brillanteste Philosoph der Neuzeit, war berühmt für seine Routine. Heinrich Heine drückte es so aus: „Aufstehen, Kaffee trinken, schreiben, Vorlesungen halten, essen, spazieren gehen, alles hatte seine feste Zeit, und die Nachbarn wussten genau, dass es halb vier war, wenn Kant mit seinem grauen Mantel und dem spanischen Stock in der Hand vor die Tür trat“.

Diese Details und mehr als 150 weitere Beispiele großer Philosophen, Künstler, Komponisten und Schriftsteller stammen aus Mason Curreys Buch Daily Rituals: How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get to Work[1] (Tägliche Rituale: Wie große Geister sich Zeit nehmen, Inspiration finden und an die Arbeit gehen). Die Botschaft des Buches ist einfach. Die meisten kreativen Menschen haben tägliche Rituale. Sie sind der Nährboden, auf dem die Saat ihrer Kreativität aufgeht.

In einigen Fällen haben sie bewusst Jobs angenommen, die sie nicht brauchten, nur um Struktur und Routine in ihr Leben zu bringen. Ein typisches Beispiel ist der Dichter Wallace Stevens, der eine Stelle als Versicherungsjurist bei der Hartford Accident and Indemnity Company annahm, wo er bis zu seinem Tod arbeitete. Er sagte, ein geregeltes Arbeitsverhältnis sei eines der besten Dinge, die ihm passieren konnten, denn „es bringt Disziplin und Regelmäßigkeit in das Leben“.

Man beachte das Paradox. Sie alle waren Innovatoren, Pioniere, Bahnbrecher, Wegbereiter, die neue Ideen formulierten, neue Ausdrucksformen hervorbrachten und Dinge taten, die niemand zuvor getan hatte. Sie sprengten Grenzen und veränderten die Landschaft. Sie wagten den Schritt ins Ungewisse.

Doch ihr Alltag war das genaue Gegenteil: Ritual und Routine. Man könnte es langweilig nennen. Doch was hat es damit auf sich? Das Sprichwort, das dies erklärt, ist berühmt, auch wenn wir nicht wissen, wer es zuerst gesagt hat: Genie besteht zu einem Prozent aus Inspiration und zu neunundneunzig Prozent aus Transpiration. Die paradigmenverändernde wissenschaftliche Entdeckung, die bahnbrechende Forschungsarbeit, das unglaublich erfolgreiche neue Produkt, der brillante Roman, der preisgekrönte Film sind fast immer das Ergebnis unzähliger Stunden jahrelanger Arbeit und der Liebe zum Detail. Kreativ zu sein bedeutet harte Arbeit.

Das alt-hebräische Wort für harte Arbeit ist Awoda. Es ist auch das Wort für „Gott dienen“. Was für Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Industrie gilt, trifft auch auf das spirituelle Leben zu. Jede Form von spirituellem Wachstum erfordert ständige Anstrengung und tägliche Rituale.

Daher die bemerkenswerte aggadische Passage, in der verschiedene Gelehrte ihre Vorstellung vom Klal gadol BaTora, dem „großen Prinzip der Tora“, darlegen. Ben Asai sagt, es sei der Vers: „Dies ist das Buch der Chronik des Menschen: Am Tag, da Gott den Menschen erschuf, formte er ihn im Ebenbild Gottes“ (Gen 5:1). Ben Soma sagt, dass es ein noch umfassenderes Prinzip gibt: „Höre, Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig“ (Deut. 6:4). Ben Nannas sagt wiederum, dass es ein noch weitläufigeres Prinzip gibt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev. 19:18). Ben Pasi sagt, dass ein noch allgemeineres Prinzip formuliert werden kann. Er zitiert einen Vers aus unserer Parascha: „Ein Schaf soll am Morgen geopfert werden und ein weiteres am Nachmittag“ ( Exod. 29:39) – oder, wie wir heute sagen würden: Schacharit, Mincha und Ma’ariw. Mit einem Wort: „Routine“. Er zitiert einen Vers aus unserer Parascha: „Ein Schaf soll am Morgen geopfert werden und ein weiteres am Nachmittag“ ( Exod. 29:39) – oder, wie wir es heute sagen würden: Schacharit, Mincha und Ma’ariw. Mit einem Wort: „Routine“. Die Passage schließt: Das Gesetz folgt Ben Pasi.[2]

Die Bedeutung von Ben Pasis Lehre ist klar: Alle hohen Ideale der Welt – der Mensch als Ebenbild Gottes, der Glaube an die allumfassende Einheit Gottes, die Nächstenliebe – bedeuten wenig, solange sie nicht in Handlungsgewohnheiten umgesetzt werden, die wiederum zu Gewohnheiten des Herzens werden. Wir alle können uns an Momente der Erleuchtung erinnern, in denen wir eine großartige Idee hatten, einen transformierenden Gedanken, die Vorstellung von einem Projekt, das unser Leben verändern könnte. Einen Tag, eine Woche oder ein Jahr später ist der Gedanke vergessen oder zu einer fernen Erinnerung geworden, bestenfalls zu etwas, das „hätte werden können“.

Die Menschen, die die Welt verändern, ob im Kleinen oder im Großen, sind diejenigen, die außergewöhnliche Erlebnisse zur täglichen Routine machen, die wissen, dass es auf die Details ankommt, und die die Disziplin harter Arbeit entwickelt haben, die sie über einen langen Zeitraum aufrechterhalten.

Die Größe des Judentums besteht darin, dass es hohe Ideale und erhabene Visionen – die Gottebenbildlichkeit, den Glauben an Gott, die Nächstenliebe – in Verhaltensmuster übersetzt. Die Halacha (das jüdische Gesetz) umfasst eine Reihe von Routinen, die – wie bei den großen kreativen Geistern – das Gehirn neu konfigurieren, unserem Leben Disziplin verleihen und unsere Art zu fühlen, zu denken und zu handeln verändern.

Vieles im Judentum muss für Außenstehende und manchmal sogar für praktizierende Juden langweilig, prosaisch, alltäglich, repetitiv, routinemäßig, detailverliebt und weitgehend ohne Dramatik oder Inspiration erscheinen. Aber genau das ist es, was das Schreiben eines Romans, die Komposition einer Symphonie, die Regie eines Films, die Perfektionierung einer Killer-App oder den Aufbau eines Milliarden-Dollar-Unternehmens ausmacht. Es ist eine Frage harter Arbeit, konzentrierter Aufmerksamkeit und täglicher Rituale. Hier liegt der Ursprung jeder nachhaltigen Größe.

Im Westen haben wir eine seltsame Vorstellung von religiöser Erfahrung entwickelt: dass es das ist, was einen völlig überwältigt, wenn etwas außerhalb des normalen Erfahrungsbereichs geschieht: Man besteigt einen Berg und schaut hinunter. Man wird wie durch ein Wunder aus einer Gefahr gerettet. Man findet sich in einer großen, jubelnden Menge wieder. So hat der deutsche evangelische Theologe Rudolf Otto (1869-1937) das „Heilige“ definiert: als ein Geheimnis (Mysterium), das zugleich erschreckt (Tremendum) und fasziniert (Fascinans). Man wird von etwas Unermesslichem ergriffen. Wir alle kennen solche Erfahrungen.

Aber mehr sind sie eben nicht: Erlebnisse. Wir erinnern uns an sie, aber sie sind nicht Teil unseres täglichen Lebens. Sie sind nicht in unseren Charakter eingewoben. Sie haben keinen Einfluss auf das, was wir tun, erreichen oder werden. Das Judentum will uns so verändern, dass wir zu schöpferischen Künstlern werden, deren größte Schöpfung unser eigenes Leben ist.[3] Und dazu sind tägliche Rituale erforderlich: Schacharit, Mincha, Ma’ariw, das Essen, das wir zu uns nehmen, wie wir uns am Arbeitsplatz und zu Hause verhalten, die Choreographie der Heiligkeit, die der besondere Beitrag der priesterlichen Dimension des Judentums ist, wie sie in der Parascha dieser Woche und im ganzen Buch Levitikus beschrieben wird.

Diese Rituale wirken. Wir wissen heute aus PET- und fMRI-Scans, dass wiederholte spirituelle Übungen das Gehirn neu konfigurieren. Sie verleihen uns innere Widerstandskraft. Sie machen uns dankbarer. Sie geben uns ein Gefühl des Grundvertrauens in die Quelle unseres Seins. Sie prägen unsere Identität, unsere Art zu handeln, zu sprechen und zu denken. Rituale sind für spirituelle Größe, was das Training für einen Tennisspieler, die tägliche Schreibdisziplin für einen Romanautor und das Lesen von Geschäftsberichten für Warren Buffett ist. Sie sind die Voraussetzung für große Leistungen. Gott zu dienen ist Awoda: harte Arbeit.

Wenn Sie nach einer plötzlichen Inspiration suchen, dann arbeiten Sie jeden Tag, ein Jahr lang oder ein Leben lang. Dann wird sie kommen. Ein berühmter Golfspieler soll einmal gesagt haben, als er nach dem Geheimnis seines Erfolgs gefragt wurde: „Ich hatte einfach Glück. Aber das Komische ist: Je mehr ich trainiere, desto mehr Glück habe ich.“ Je mehr man nach spirituellen Höhen strebt, desto mehr braucht man das Ritual und die Routine der Halacha, des jüdischen „Weges“ zu Gott.

[1] Mason Currey, Daily Rituals (New York, Knopf, 2013).

[2] Die Passage wird in der Einleitung zum Kommentar Hakotew zu Ein Yaakov, den gesammelten aggadischen Passagen des Talmuds, zitiert. Sie wird auch von Maharal in Netiwot Olam, Ahawat Re’a 1, angeführt.

[3] Ein Gedanke, den Rabbi Joseph Soloveitchik in seinem Werk Halakhic Man formuliert.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier