Mai ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Heilige Zeiten

Der Wochenabschnitt Emor widmet ein Kapitel den Festen des jüdischen Jahres. In der Tora gibt es fünf solcher Abschnitte. Zwei davon, beide im Buch Exodus (23:14-17 und 34:18), sind sehr kurz. Sie beziehen sich nur auf die drei Wallfahrtsfeste Pessach, Schawuot und Sukkot. Sie nennen keine genaueren Daten, sondern nur die ungefähre Zeit im landwirtschaftlichen Jahr. Auch die konkreten Gebote zu den Festen werden nicht erwähnt.

Damit verbleiben drei weitere Festbeschreibungen: die in unserer Parascha, eine zweite in Numeri 28-29 und eine dritte in Deuteronomium 16. Es fällt auf, wie unterschiedlich sie sind. Das liegt nicht, wie Kritiker behaupten, daran, dass die Tora ein aus mehreren Dokumenten zusammengesetztes Werk ist, sondern, dass sie ihr Thema aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet – ein Merkmal, das für die Denkweise der Tora insgesamt charakteristisch ist.

Der längere Abschnitt über die Feste in Numeri ist ganz den besonderen Zusatzopfern [Mussaf] gewidmet, die an geheiligten Tagen wie Schabbat und Rosch Chodesch dargebracht werden. Die Erinnerung daran wird in den Mussaf-Gebeten für diese Tage weiter wachgehalten. Aus der Sicht der Stiftshütte, des Tempels und später der Synagoge sind dies heilige Zeiten.

Der Bericht im Deuteronomium handelt von der Gesellschaft. Am Ende seines Lebens erklärte Moses der nächsten Generation, woher sie gekommen, wohin sie geht und was für eine Gesellschaft sie aufbauen sollte. Sie sollte das genaue Gegenteil von Ägypten sein. Sie würde nach Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde streben.

Eines der wichtigsten Themen im Deuteronomium ist das Beharren auf der Zentralisierung des Gottesdienstes „an dem Ort, den Gott erwählen wird“, der sich als Jerusalem erweisen sollte. Die Einheit Gottes sollte sich in der Einheit des Volkes widerspiegeln, die nicht erreicht werden konnte, wenn jeder Stamm seinen eigenen Tempel, sein eigenes Heiligtum oder seinen eigenen Schrein hatte. Aus diesem Grund spricht das Deuteronomium bei den Festen auch nur von Pessach, Schawuot und Sukkot, nicht aber von Rosch Haschana oder Jom Kippur, denn nur an diesen drei Tagen bestand die Pflicht zur Alija Leregel, der Wallfahrt zum Tempel.

Ebenso bedeutsam ist die nirgendwo sonst als im Deuteronomium zu findende Betonung der sozialen Einbindung: „Du, deine Söhne und Töchter, deine Knechte und Mägde, die Leviten in deinen Toren, der Fremdling, die Waise und die Witwe, die unter dir wohnen.“ Im Buch Deuteronomium geht es nicht so sehr um die Spiritualität des Einzelnen, sondern um eine Gesellschaft, die die Gegenwart Gottes würdigt, indem sie ihre Mitmenschen ehrt, insbesondere diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Die Vorstellung, dass wir Gott dienen können, während wir unseren Mitmenschen mit Gleichgültigkeit oder Ablehnung begegnen, ist der Vision des Deuteronomiums völlig fremd.

Bleibt noch Emor, der Bericht in der Parascha dieser Woche. Auch er hat seine besonderen Eigenheiten. Im Gegensatz zu den Abschnitten aus Exodus und Deuteronomium umfasst er Rosch Haschana und Jom Kippur. Außerdem spricht er von den spezifischen Mizwot der Feste, vor allem von Sukkot: Es ist die einzige Stelle, wo die Tora die Arba Minim erwähnt, die „vier Arten“, und das Gebot, in einer Sukka zu wohnen.

Allerdings weist er einige strukturelle Besonderheiten auf. Die auffälligste ist die Erwähnung des Schabbats in der Liste der Feiertage. Das wäre an sich nicht verwunderlich. Schließlich gehört der Schabbat ja zu den heiligen Tagen. Merkwürdig ist jedoch die Art und Weise, wie der Abschnitt über den Schabbat spricht:

„Gott sprach zu Moses: ,Rede zu den Israeliten und sprich zu ihnen: Dies sind die festgesetzten Zeiten [Mo’adej] des Ewigen, die ihr als heilige Versammlungen [Mikraej kodesch] verkünden [tikre’u] sollt. Das sind meine festgesetzten Feste [Mo’adai]. Sechs Tage sollt ihr arbeiten, aber der siebte Tag ist der Schabbat aller Schabbate, ein Tag der heiligen Versammlung [Mikra kodesch]. Ihr sollt keine Arbeit verrichten; wo immer ihr wohnt, ist es ein Schabbat für den Ewigen‘“ (Lev. 23:1-3)

Dann folgt ein Absatzwechsel, nach dem die ganze Passage von neuem zu beginnen scheint:

„Dies sind die von Gott festgesetzten Zeiten [Mo’adej], die heiligen Versammlungen [Mikraej kodesch], die ihr zu ihren festgesetzten Zeiten [Bemo’adam] verkünden [tikre’u] sollt“ (Lev. 23:4).

Dieser Aufbau mit seinen zwei Anfängen hat bei den Kommentatoren für Verwunderung gesorgt. Noch rätselhafter war die Tatsache, dass die Tora hier den Schabbat als Mo’ed, als festgesetzte Zeit, und als Mikra kodesch, als heilige Versammlung, zu bezeichnen scheint, was sie sonst nirgends tut. Wie Raschi es ausdrückt: „Was hat der Schabbat mit den Feiertagen zu tun?“ Die Feste sind jährliche Ereignisse, der Schabbat ein wöchentliches. Die Feste folgen dem Kalender, der vom Bet Din festgelegt wird. Das ist die Bedeutung des Satzes „die heiligen Versammlungen, die ihr zu ihren festgesetzten Zeiten verkünden sollt“. Der Schabbat hingegen hängt nicht von einem Akt des Bet Din ab und ist unabhängig vom Sonnen- und Mondkalender. Seine Heiligkeit kommt direkt von Gott und vom Anbeginn der Schöpfung. Es scheint keinen Sinn zu ergeben, beides unter einer Rubrik zusammenzufassen. Der Schabbat ist eine Sache, Mo’adim und Mikra’ej kodesch sind wieder eine andere. Was also verbindet beide?

Raschi sagt uns, dass hiermit die Heiligkeit der Feste unterstrichen werden soll. „Wer die Feste entweiht, wird so gesehen, als hätte er den Schabbat entweiht, und wer die Feste einhält, als hätte er den Schabbat eingehalten.“ Was Raschi damit sagen will, ist, dass man sich jemanden vorstellen kann, der sagt, er respektiere den Schabbat, weil er von Gott gegeben ist, die Feiertage aber seien von geringerer Heiligkeit, erstens, weil uns bestimmte Arbeiten wie das Kochen und Tragen erlaubt sind, und zweitens, weil sie von einem menschlichen Akt abhängen: der Festlegung des Kalenders. Die Einbeziehung des Schabbats unter den Festtagen soll dieser Argumentation entgegentreten.

Ramban gibt hingegen eine ganz andere Erklärung. Der Schabbat findet vor den Festen Erwähnung, so wie er vor Moses’ Anweisung an das Volk, mit dem Bau des Heiligtums zu beginnen, erwähnt wird, um uns zu sagen, dass so wie das Gebot, das Heiligtum zu bauen, den Schabbat nicht aufhebt, auch das Gebot, die Feste zu feiern, den Schabbat nicht außer Kraft setzt. Obwohl es uns also an den Festtagen erlaubt ist, zu kochen und zu tragen, dürfen wir dies nicht tun, wenn ein Feiertag auf den Schabbat fällt.

Die bei weitem radikalste Erklärung lieferte der Gaon von Wilna. Ihm zufolge beziehen sich die Worte „Sechs Tage sollst ihr arbeiten, aber der siebte Tag ist ein Schabbat der Schabbatenicht auf die Tage der Woche, sondern auf die Tage des Jahres. Unsere Parascha nennt sieben heilige Tage: den ersten und den siebten Tag von Pessach, einen Tag von Schawuot, Rosch Haschana, Jom Kippur, den ersten Tag von Sukkot und Schmini Atzeret. An sechs dieser Tage dürfen wir einige Arbeiten verrichten, wie zum Beispiel das Kochen und Tragen, aber am siebten Tag, Jom Kippur, dürfen wir das nicht, denn es ist der „Schabbat aller Schabbate“ (siehe Vers 32). Die Tora bedient sich zwei verschiedener Ausdrücke für das Arbeitsverbot an den Feiertagen im Allgemeinen und am „siebten Tag“. An den Festtagen ist Melechet Awoda („mühsame Arbeit oder Dienstbarkeit“) verboten, während am siebten Tag Melacha („jegliche Arbeit“) untersagt ist, auch wenn sie nicht mühsam ist. Jom Kippur ist somit für das Jahr, was der Schabbat für die Woche ist.

Die Lesart des Gaon von Wilna lässt uns noch etwas anderes erkennen: Die Struktur der heiligen Zeit folgt einem Muster, das ich (in der Einleitung zum Siddur) als „Fraktal“ bezeichnet habe: das gleiche Motiv in verschiedenen Größenordnungen. Somit spiegelt sich die Struktur der Woche – sechs Tage Arbeit, gefolgt von einem heiligen siebten Tag – in der Struktur des Jahres wider – sechs Tage von geringerer Heiligkeit und ein siebter Tag, Jom Kippur, von überragender Heiligkeit. Wie wir in zwei Kapiteln (Lev. 25) sehen werden, erscheint dasselbe Muster in einem noch größeren Maßstab: sechs gewöhnliche Jahre, gefolgt vom Schemitta-Jahr, dem Jahr der „Freigabe“.

Wo immer die Tora die Dimension der „Heiligkeit“ betonen will (das Wort kodesch kommt in Lev. 23 nicht weniger als zwölfmal vor), macht sie systematisch von der Zahl und dem Begriff der Sieben Gebrauch. So gibt es nicht nur sieben heilige Tage im Jahreskalender. Es gibt auch sieben Abschnitte in diesem Kapitel. Mehrfach kommt das Wort „sieben“ oder „siebter“ vor (achtzehnmal), ebenso das Wort für den siebten Tag, Schabbat, in der einen oder anderen Form (fünfzehnmal). Das Wort „Ernte“ kommt siebenmal vor.

Mir scheint jedoch, dass Levitikus 23 zugleich noch eine andere Geschichte erzählt – eine zutiefst spirituelle. Erinnern wir uns an unsere (von Judah Halevi und Ibn Esra vorgebrachte) These, dass fast alle vierzig Kapitel zwischen Exodus 24 und Levitikus 25 eine Abschweifung sind, die sich aus Moses’ Argument ergab, dass das Volk Gottes Nähe brauchte. Es wollte Ihm nicht nur auf dem Gipfel des Berges begegnen, sondern auch mitten im Lager; nicht nur als furchterregende Macht, die Reiche zu Fall bringt und das Meer teilt, sondern als ständige Gegenwart im Leben des Volkes. So gab Gott den Israeliten das Heiligtum (Exod. 25-40) und seinen Dienst (das heißt das gesamte Buch Levitikus).

Aus diesem Grund betont die Aufzählung der Feste in Levitikus nicht die soziale Dimension, wie wir sie im Deuteronomium finden, und auch nicht die Opferdimension wie in Numeri, sondern die spirituelle Dimension der Begegnung, der Nähe, der Zusammenkunft zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Das erklärt, warum wir in diesem Kapitel mehr als in jedem anderen zwei Schlüsselwörter finden: Das eine ist Mo’ed, das andere Mikra Kodesch, und beide sind von tieferem Gehalt als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Das Wort Mo’ed bedeutet nicht nur „festgesetzte Zeit“. Wir begegnen demselben Wort in dem Begriff Ohel Mo’ed, was „Zelt der Begegnung“ bedeutet. Wenn das Ohel Mo’ed der Ort der Zusammenkunft zwischen Mensch und Gott war, dann sind die Mo’adim in unserem Kapitel die Zeiten, in denen wir Gott begegnen. Dieser Gedanke kommt in der letzten Zeile des mystischen Liedes Jedid Nefesch, das wir am Schabbat singen, so wunderschön zum Ausdruck: „Eile, Geliebter, denn die festgesetzte Zeit [Mo’ed] ist gekommen.“ Mo’ed bedeutet hier ein Rendezvous, eine Verabredung zwischen Liebenden, sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu treffen.

Der Ausdruck Mikra kodesch ist wiederum auf dieselbe Wurzel zurückzuführen wie das Wort, das dem ganzen Buch seinen Namen gibt: Wajikra, was so viel bedeutet wie „in Liebe gerufen werden“. Ein Mikra kodesch ist nicht nur ein heiliger Tag. Es ist eine Zusammenkunft, zu der wir in Liebe von Einem uns Verbundenen gerufen werden.

Ein Großteil des Buches Wajikra handelt von der Heiligkeit des Ortes, vom Heiligtum. Andere Teile befassen sich mit der Heiligkeit der Menschen, den Kohanim, den Priestern, und Israel als Ganzes, als „Königreich von Priestern“. Im 23. Kapitel wendet sich die Tora der Heiligkeit der Zeit und den Zeiten der Heiligkeit zu.

Wir sind geistige Wesen, doch wir sind auch körperliche Wesen. Wir können nicht ständig geistig, unentwegt Gott nahe sein. Deshalb gibt es eine säkulare Zeit und eine geheiligte Zeit. Aber an einem von sieben Tagen lassen wir jegliche Arbeit ruhen und treten in die Gegenwart Gottes als dem Schöpfer allen Seins ein. An bestimmten Tagen im Jahr, den Festtagen, feiern wir den Gott der Geschichte. Die Heiligkeit des Schabbats wird von Gott allein bestimmt, denn Er allein hat das Universum erschaffen. Die Heiligkeit der Feste wird teilweise von uns bestimmt (nämlich durch die Festlegung des Kalenders), denn die Geschichte ist eine Partnerschaft zwischen uns und Gott. Aber in zweierlei Hinsicht sind sie gleich: Beides sind Zeiten der Begegnung (Mo’ed), und beides sind Zeiten, in denen wir uns als Gäste Gottes (Mikra kodesch) gerufen, berufen, eingeladen fühlen.

Wir können nicht immer nur geistlich sein. Gott hat uns eine materielle Welt gegeben, mit welcher wir uns auseinandersetzen müssen. Doch am siebten Tag der Woche und (ursprünglich) an sieben Tagen im Jahr schenkt Gott uns eine Zeit, in der wir die Nähe Seiner Schechina spüren und in den Glanz der Liebe Gottes getaucht werden.

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