Feb ‍‍2024 - תשפד / תשפה

Gottes Anstoß

Zunächst lasen wir im Wochenabschnitt Jitro die Asseret Hadibrot, die „Zehn Sprüche“, die Zehn Gebote, formuliert als allgemeine Grundsätze. Nun, in Mischpatim, folgen die Einzelheiten. Und so beginnt es:

„Wenn du einen hebräischen Knecht kaufst, soll er dir sechs Jahre dienen. Im siebten Jahr aber soll er frei gehen, ohne etwas zu bezahlen. Wenn der Knecht aber erklärt: ‚Ich liebe meinen Herrn, meine Frau und meine Kinder und will nicht frei gehen‘, so soll ihn sein Herr vor die Richter führen. Er soll ihn an die Tür oder an den Türpfosten führen und ihm mit einer Ahle das Ohr durchbohren. Dann wird er für immer sein Knecht sein“ (Exod. 21:2-6).

Da liegt die Frage auf der Hand: Es gibt 613 Gebote. Warum beginnt Mischpatim – der erste vollständige Gesetzeskodex der Tora – ausgerechnet damit?

Die Antwort ist ebenso naheliegend. Die Israeliten haben gerade die Sklaverei in Ägypten durchlitten. Dafür muss es einen Grund gegeben haben, wusste Gott doch, dass es so kommen würde. Offensichtlich wollte Er es so. Schon Jahrhunderte zuvor hatte Er Abraham angekündigt, dass sich dies ereignen würde:

„Als die Sonne unterging, fiel Abram in einen tiefen Schlaf, und eine dichte, schreckliche Finsternis brach über ihn herein. Da sprach Gott zu ihm: ‚Du sollst wissen, dass deine Nachkommen vierhundert Jahre lang Fremde sein werden in einem Land, das ihnen nicht gehört, und dass sie dort versklavt und misshandelt werden‘“ (Gen. 15:12-13).

Es scheint, dass dies die erste notwendige Erfahrung der Israeliten als Nation war. Seit Beginn der Menschheitsgeschichte wollte der Gott der Freiheit, dass freie Menschen ihn freiwillig anbeten. Aber einer nach dem anderen missbrauchte diese Freiheit: zuerst Adam und Eva, sodann Kain, dann die Generation der Sintflut, schließlich die Erbauer von Babel.

Da begann Gott von neuem, dieses Mal nicht mit der ganzen Menschheit, sondern mit einem Mann, einer Frau, einer Familie, die zu Pionieren der Freiheit werden sollten. Und doch: Freiheit ist schwierig. Jeder von uns sucht sie für sich, aber wir verweigern sie anderen, wenn deren Freiheit mit der unseren in Konflikt gerät. Wie wahr das ist, zeigt die Geschichte von Josef und seinen Brüdern: Innerhalb von drei Generationen nach Abrahams Söhnen waren Josefs Brüder bereit, ihn in die Sklaverei zu verkaufen, eine Tragödie, die erst endete, als Juda bereit war, seine eigene Freiheit aufzugeben, damit sein Bruder Benjamin freikommen konnte.

Es bedurfte der kollektiven Erfahrung der Israeliten, ihrer tiefen, intimen, persönlichen, zermürbenden, bitteren Erfahrung der Sklaverei – eine Erinnerung, die sie nie vergessen sollten -, um sie zu einem Volk zu machen, das seine Brüder und Schwestern nicht mehr zu Sklaven macht, ein Volk, das in der Lage ist, eine freie Gesellschaft aufzubauen, die schwierigste aller menschlichen Errungenschaften.

So ist es nicht verwunderlich, dass die ersten Gesetze, die ihnen nach dem Sinai gegeben wurden, die Sklaverei betrafen. Es wäre eine Überraschung gewesen, wenn es um etwas anderes gegangen wäre. Aber jetzt kommt die eigentliche Frage. Wenn Gott die Sklaverei nicht will, wenn Er sie für einen Verstoß gegen die menschliche Natur hält, warum hat Er sie dann nicht sofort abgeschafft? Warum hat Er zugelassen, dass sie fortbesteht, wenn auch in eingeschränkter und geregelter Form, wie in der Parascha dieser Woche beschrieben? Ist es denkbar, dass Gott, der Wasser aus dem Felsen und Manna vom Himmel hervorbringen und das Meer in trockenes Land verwandeln kann, nicht auch eine solche Veränderung des menschlichen Verhaltens verlangen kann? Gibt es Bereiche, in denen der Allmächtige gewissermaßen machtlos ist?

Im Jahr 2008 veröffentlichten der Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und der Juraprofessor Cass Sunstein ein faszinierendes Buch mit dem Titel Nudge (Anstoß).[1] Darin gehen sie auf ein grundlegendes Problem in der Logik der Freiheit ein. Einerseits hängt Freiheit davon ab, dass nicht zu viele Gesetze erlassen werden. Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem die Menschen das Recht haben, selbst zu entscheiden.

Andererseits wissen wir, dass Menschen nicht immer die richtigen Entscheidungen treffen. Das alte Modell, auf dem die klassische Ökonomie beruhte, dass die Menschen sich selbst überlassen sind und rationale Entscheidungen treffen, hat sich als falsch erwiesen. Wir sind zutiefst irrational, eine Erkenntnis, zu der mehrere jüdische Wissenschaftler wichtige Beiträge geleistet haben. Die Psychologen Solomon Asch und Stanley Milgram zeigten, wie sehr wir von dem Bedürfnis beeinflusst werden, uns anzupassen, selbst wenn wir wissen, dass andere falsch liegen. Die israelischen Ökonomen Daniel Kahneman und Amos Tversky zeigten, dass wir auch bei wirtschaftlichen Entscheidungen die Folgen oft falsch einschätzen und unsere Motive nicht erkennen – eine Erkenntnis, für die Kahneman den Nobelpreis erhielt.

Wie kann man also Menschen davon abhalten, schädliche Dinge zu tun, ohne sie ihrer Freiheit zu berauben? Die Antwort von Thaler und Sunstein lautet, dass es indirekte Wege gibt, Menschen zu beeinflussen. Zum Beispiel kann man in einer Kantine gesundes Essen auf Augenhöhe platzieren und Junkfood an einer weniger zugänglichen und weniger auffälligen Stelle. Man kann auf subtile Weise die von ihnen als „Entscheidungsarchitektur“ bezeichnete Struktur korrigieren.

Genau das tut Gott im Falle der Sklaverei. Er schafft sie nicht ab, aber er schränkt sie so ein, dass er einen Prozess in Gang setzt, der absehbar dazu führt, dass die Menschen sie von sich aus aufgeben, selbst wenn dies viele Jahrhunderte dauern mag.

Ein hebräischer Sklave soll nach sechs Jahren freigelassen werden. Wenn der Sklave sich so an seinen Zustand gewöhnt hat, dass er nicht in die Freiheit entlassen werden will, muss er sich einer stigmatisierenden Zeremonie unterziehen und sich ein Ohr durchstechen lassen, das als sichtbares Zeichen der Schande zurückbleibt. Am Schabbat dürfen Sklaven nicht zur Arbeit gezwungen werden. All diese Bestimmungen haben zur Folge, dass die Sklaverei von einem lebenslangen Schicksal zu einem vorübergehenden Zustand wird, der eher als Demütigung empfunden wird denn als etwas, das unauslöschlich in das menschliche Skript geschrieben ist.

Warum diesen Weg wählen? Weil die Menschen sich aus freien Stücken für die Abschaffung der Sklaverei entscheiden müssen, wenn sie frei sein wollen. Es bedurfte erst der Schreckensherrschaft nach der Französischen Revolution, um zu zeigen, wie falsch Rousseau lag, als er in Der Gesellschaftsvertrag schrieb, dass der Mensch notfalls gezwungen werden müsse, frei zu sein. Das ist ein Widerspruch in sich und führte, um den Titel von J. L. Talmons großartigem Buch über das Denken hinter der Französischen Revolution zu zitieren, zu einer totalitären Demokratie.

Gott kann die Natur ändern, sagte Maimonides, aber er kann oder will die menschliche Natur nicht ändern, eben weil das Judentum auf dem Prinzip der menschlichen Freiheit beruht. Er konnte also die Sklaverei nicht von heute auf morgen abschaffen, aber er konnte die Architektur unserer Entscheidungen ändern, oder einfacher ausgedrückt, Er konnte uns einen Anstoß geben und uns sagen, dass die Sklaverei falsch ist, aber dass wir es sein müssen, die sie abschaffen, wenn wir so weit sind, durch unser eigenes Verständnis. Es hat in der Tat sehr lange gedauert, und in Amerika ging es nicht ohne einen Bürgerkrieg. Und doch ist es geschehen.

In manchen Fragen gibt uns Gott einen Anstoß. Der Rest liegt in unserer Hand.

[1] Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein, Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt (Berlin, Econ Verlag, 2022).

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier