Apr ‍‍2024 - תשפד / תשפה

Gibt es so etwas wie Laschon Tow?

   Die Weisen verstanden Zara’at, das Thema der Parascha dieser Woche, nicht als Krankheit, sondern als übernatürliche öffentliche Aufdeckung von Laschon hara, der Sünde der üblen Nachrede.

Das Judentum ist eine fortwährende Betrachtung über die Macht der Worte, die heilen oder schaden, wiedergutmachen oder zerstören können. So wie Gott die Welt durch Worte erschaffen hat, so hat er uns die Macht gegeben, durch Worte Beziehungen aufzubauen oder sie zu zerstören.

Die Rabbiner haben viel über Laschon hara gesagt, aber fast nichts über das Gegenstück, Laschon tow, „gute Rede“. Der Ausdruck taucht weder im Babylonischen noch im Jerusalemer Talmud auf. Er erscheint nur an zwei Stellen im Midrasch (wo er sich auf das Lob Gottes bezieht). Laschon hara bedeutet nicht, schlecht über Gott zu reden. Es ist vielmehr die Verunglimpfung von Menschen. Wenn es eine Sünde ist, Schlechtes über Menschen zu sagen, ist es dann eine Mizwa, gut über sie zu reden? Meine These ist, dass dies der Fall ist, und um dies zu belegen, wollen wir eine Exkursion zu den Quellen unternehmen.

In der Mischna in Pirkej Awot lesen wir Folgendes:

„Rabban Jochanan Ben Sakkai hatte fünf (hervorragende) Schüler, nämlich Rabbi Elieser Ben Hyrkanos, Rabbi Josua Ben Chananja, Rabbi Jose den Priester, Rabbi Schimon Ben Netanel und Rabbi Elasar Ben Arach.

Er pflegte ihre Vorzüge aufzuzählen: ‚Elieser Ben Hyrkanos: eine verputzte Zisterne, die nie einen Tropfen verliert. Josua Ben Chananja: glücklich ist, die ihn geboren hat. Jose der Priester: ein frommer Mann. Schimon Ben Netanel: ein Mann, der die Sünde fürchtet. Elasar Ben Arach: eine Quelle, die nie versiegt‘“ (Sprüche der Väter 2:10-11).

Rabban Jochanans Brauch, seine Schüler zu loben, scheint jedoch einem talmudischen Grundsatz zu widersprechen:

„Raw Dimi, der Bruder von Raw Safra, sagte: ‚Nie rede man lobend von seinem Nächsten, denn Lob führt zu Kritik‘“ (Arachin 16a).

Raschi gibt zwei Erklärungen für diese Aussage. Entweder wird der Redner, nachdem er ein übertriebenes Lob [joter midai] ausgesprochen hat, seine Bemerkungen selbst relativieren, indem er der Ausgewogenheit halber zugibt, dass die Person, über die er spricht, auch Fehler hat. Oder andere werden als Reaktion auf das Lob auf seine Fehler hinweisen. Für Raschi stellt sich die entscheidende Frage, ob das Lob vernünftig, genau und wahr ist oder übertrieben. Wenn Ersteres der Fall ist, ist es erlaubt; ist es Letzteres, ist es verboten. Somit war Rabban Jochanan offensichtlich darauf bedacht, nicht zu übertreiben.

Der Rambam sieht das anders. Er schreibt: „Wer in Gegenwart seiner Feinde gut über seinen Nächsten redet, macht sich einer sekundären Form der schlechten Rede [Awak Laschon hara] schuldig, denn er verleitet sie dazu, ebenso schlecht über ihn zu reden“ (Hilchot De’ot 7:4). Nach Rambam kommt es nicht darauf an, ob das Lob maßvoll oder übertrieben ist, sondern auf den Kontext, in dem es ausgesprochen wird. Wenn es in Anwesenheit von Freunden der Person, über die man spricht, geschieht, ist es erlaubt. Verboten ist es nur, wenn man sich unter seinen Feinden und Kritikern befindet. Dann wird das Lob zu einer Provokation, die schlimme Folgen haben kann.

Sind das nur zwei Meinungen oder geht es um etwas Tieferes? Im Talmud gibt es eine berühmte Stelle, in der es darum geht, wie eine Braut bei ihrer Hochzeit zu loben sei. Da haben die Weisen gelehrt:

„Wie soll man vor der Braut tanzen [d.h. was soll man singen]? Die Schüler Hillels sind der Meinung, dass man bei einer Hochzeit singen soll, dass die Braut schön ist, ganz gleich, ob sie es ist oder nicht. Die Schüler von Schammai sind anderer Meinung. Egal, was der Anlass ist, man soll nicht lügen. ‚Nennst du das eine Lüge?‘, erwidern die Schüler Hillels. ‚Zumindest in den Augen des Bräutigams ist seine Braut doch schön.‘“

Worum es hier eigentlich geht, ist nicht nur eine Frage des Temperaments – die puritanische Schule Schammais gegen die des gutmütigen Hillel -, sondern es geht um zwei Auffassungen vom Wesen der Sprache. Schammais Schüler betrachten die Sprache als ein Mittel, um Aussagen zu machen, die entweder wahr oder falsch sind. Hillels Schüler dagegen verstehen, dass Sprache mehr ist als ein Mittel, um sich zu äußern. Mittels der Sprache können wir ermutigen, mitfühlen, motivieren und inspirieren. Aber wir können sie auch benutzen, um zu entmutigen, zu verunglimpfen, zu kritisieren und zu deprimieren. Sprache kann mehr als Informationen vermitteln. Sie vermittelt Emotionen. Sie erzeugt oder bricht Stimmungen. Der sensible Umgang mit Sprache erfordert soziale und emotionale Intelligenz. Nach dem berühmten Bild von J. L. Austin kann Sprache sowohl performativ als auch informativ sein.[1]

Der Diskurs zwischen den Lehrern Hillel und Schammai ähnelt dem Streit zwischen Rambam und Raschi. Für Raschi wie für Schammai ist die Schlüsselfrage beim Lob: Ist es wahr oder ist es übertrieben? Für Rambam wie für Hillel lautet die Frage: In welchem Kontext wird das Lob geäußert? Wird es unter Feinden oder unter Freunden ausgesprochen? Erweckt es Wärme und Wertschätzung oder Neid und Missgunst?

Wir können noch einen Schritt weiter gehen, denn die Meinungsverschiedenheit zwischen Raschi und Rambam über das Lob könnte mit einer grundlegenderen Meinungs­verschieden­heit über das Wesen des Gebotes „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev. 19:18) zusammenhängen. Raschi interpretiert das Gebot so, dass es bedeutet: Du sollst deinem Nächsten nicht antun, was du nicht willst, das er dir antut (Raschi zu Sanhedrin 84b). Rambam hingegen sagt, das Gebot schließe die Pflicht ein, „ihn zu loben“ (Hilchot De’ot 6:3). Raschi betrachtet das Lob des Nächsten offenbar als wahlweise, während Rambam es als Bestandteil des Gebotes der Nächstenliebe ansieht.

Wir können nun eine Frage beantworten, die wir am Anfang hätten stellen sollen, nämlich die Frage nach der Mischna in Awot, die von den Schülern des Jochanan Ben Sakkai sprechen. In Awot geht es um Ethik, nicht um Geschichte oder Biographie. Warum wird dann gesagt, dass Rabban Jochanan Schüler hatte? Dies ist sicherlich eine Tatsache und kein Wert, eine Information und kein Leitfaden fürs Leben.

Jetzt können wir jedoch erkennen, dass die Mischna uns etwas sehr Tiefgründiges sagt. Die allererste Aussage in Awot enthält das Prinzip: „Stellt viele Schüler auf“. Aber wie macht man das? Wie inspiriert man Menschen dazu, das zu werden, was sie sein könnten, und ihr volles Potenzial zu entfalten? Die Antwort lautet: Indem man es Rabban Jochanan Ben Sakkai gleichtut, der seine Schüler lobte, indem er sie auf ihre Stärken hinwies.

Er schmeichelte ihnen nicht. Er leitete sie an, ihre besonderen Talente zu erkennen. Elieser Ben Hyrkanos, der „Brunnen, der nie einen Tropfen verliert“, war nicht kreativ, aber er hatte ein bemerkenswertes Gedächtnis – nicht unwichtig in einer Zeit, in der mündlicher Unterricht nicht in Büchern festgehalten wurde. Elasar Ben Arach, die „Quelle, die nie versiegt“, war kreativ, musste aber mit Bergwasser gefüttert werden (Jahre später trennte er sich von seinen Kollegen, und es heißt, er habe alles vergessen, was er gelernt hatte).

Rabban Jochanan Ben Sakkai vertrat eine Hillel-Rambam-Sicht des Lobes. Er benutzte es nicht so sehr, um zu beschreiben, sondern um zu motivieren. Und das ist Laschon tow. Schlechte Rede macht uns klein, gute Rede hilft uns zu wachsen. Schlechte Worte erniedrigen, ein gutes Wort erhebt. Präzises, zielgerichtetes Lob, das auf einer wohlüberlegten Einschätzung der individuellen Stärken beruht und vom Glauben an den Menschen und sein Potenzial getragen wird, macht die Lehrer groß und ihre Schüler größer, wie sie es sonst nicht geworden wären. Das lernen wir von Rabban Jochanan Ben Sakkai.

Es gibt also so etwas wie Laschon tow. Nach Rambam gehört es zum Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Nach Awot ist es eine Möglichkeit, „viele Schüler aufzustellen“. Es ist ebenso schöpferisch, wie Laschon hara zerstörerisch ist.

Das Gute in den Menschen zu sehen und es ihnen zu sagen, hilft, es zu verwirklichen und so zur Hebamme ihres persönlichen Wachstums zu werden. Wenn dem so ist, dann müssen wir nicht nur Gott loben. Wir müssen auch den Menschen loben.

[1] Siehe J. L. Austins How to Do Things with Words (Harvard University Press, 1962).

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