Mai ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Familiengefühl

In Covenant & Conversation zum Wochenabschnitt Kedoschim habe ich dargelegt, dass das Judentum mehr ist als nur eine Ethnizität. Es ist ein Aufruf zur Heiligkeit. Dennoch gibt es im Judentum in gewisser Weise eine wichtige ethnische Komponente.

Am besten lässt sich dies mit einem Witz aus den 80er Jahren über eine Werbekampagne in New York illustrieren. Überall in der Stadt hingen riesige Plakate mit dem Slogan: „In der Chase Manhattan Bank haben Sie einen Freund.“ Darunter hatte ein Israeli die Worte gekritzelt: „Aber in der Bank Leumi hast du Mischpacha.“ Juden sind eine große Familie, und sie sind sich dessen bewusst.

Dies kommt besonders deutlich in der Parascha dieser Woche zum Ausdruck. Immer wieder lesen wir von Sozialgesetzen, die in der Sprache der Familienzugehörigkeit formuliert sind:

„Wenn du etwas von deinem Nächsten kaufst oder ihm etwas verkaufst, so soll niemand seinem Bruder Unrecht tun“ (Lev. 25:14).

„Wenn dein Bruder verarmt und etwas von seinem Besitz verkauft, so soll sein naher Erlöser kommen und das, was sein Bruder verkauft hat, auslösen“ (Lev. 25:25).

„Wenn dein Bruder verarmt und bei dir verschuldet ist, sollst du ihn unterstützen; er soll bei dir wohnen wie ein fremder Beisass. Nimm von ihm weder Zins noch Gewinn, sondern fürchte deinen Gott und lass deinen Bruder bei dir wohnen“ (Lev. 25:35-36).

„Wenn dein Bruder verarmt und dir verkauft wird, sollst du ihn nicht wie einen Sklaven arbeiten lassen“ (Lev. 25:39).

„Dein Bruder“ ist in diesen Versen nicht wörtlich gemeint. Gelegentlich bedeutet es „dein Verwandter“, meistens aber „dein jüdischer Glaubensbruder“. Dies ist eine ganz besondere Art und Weise, die Gesellschaft und unsere Verpflichtungen gegenüber anderen zu sehen. Juden sind nicht nur Bürger desselben Landes oder Anhänger desselben Glaubens. Wir sind Mitglieder derselben großen Familie. Wir sind – biologisch oder wahlweise – Kinder von Abraham und Sara. Wir teilen weitgehend dieselbe Geschichte. An den Feiertagen teilen wir dieselben Erinnerungen. Wir wurden im gleichen Schmelztiegel des Leidens geschmiedet. Wir sind mehr als Freunde. Wir sind Mischpacha, Familie.

Der Begriff der Familie ist für das Judentum von grundlegender Bedeutung. Denken Sie nur an das Buch Genesis, den Ausgangspunkt der Tora. Es geht hier nicht in erster Linie um Theologie, Doktrin, Dogma. Es ist keine Polemik gegen den Götzendienst. Es handelt von Familien: von Ehemännern und Ehefrauen, Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern.

In Schlüsselmomenten der Tora definiert Gott selbst Sein Verhältnis zu den Israeliten als eine Familienbeziehung. Er weist Moses an, in Seinem Namen zum Pharao zu sagen: „Mein Sohn, mein Erstgeborener, Israel“ (Exod. 4:22). Als Moses den Israeliten erklären will, warum sie heilig sein sollen, antwortet er: „Ihr seid Kinder des Ewigen, eures Gottes“ (Deut. 14:1). Wenn Gott unser Vater ist, dann sind wir alle Brüder und Schwestern. Wir sind durch Bande miteinander verbunden, die bis ins Innerste unseres Wesens reichen.

Die Propheten haben diese Metapher weitergeführt. Es gibt eine schöne Passage in Hosea, in der der Prophet Gott als einen Vater beschreibt, der seinem kleinen Kind die ersten Schritte beibringt: „Als Israel noch ein Kind war, liebte Ich es, und aus Ägypten rief Ich Meinen Sohn… Ich war es, der Efraim das Laufen lehrte, indem Ich ihn bei den Armen nahm … Ich war ihnen wie jemand, der ein kleines Kind an die Wange hebt, und Ich bückte Mich, um sie zu füttern“ (Hosea 11:4-4).

Dasselbe Bild findet sich im rabbinischen Judentum. In einer der berühmtesten Gebetsformeln verwendet Rabbi Akiwa die Worte Awinu Malkenu, „Unser Vater, unser König“. Das ist ein präziser und wohlüberlegter Ausdruck. Gott ist in der Tat unser Regent, unser Gesetzgeber und unser Richter, aber vor all dem ist Er unser Vater und wir Seine Kinder. Deshalb glauben wir, dass die göttliche Barmherzigkeit sich immer über die strenge Gerechtigkeit hinwegsetzen wird.

Diese Vorstellung von den Juden als eine erweiterte Familie kommt in den Gesetzen der Wohltätigkeit von Maimonides deutlich zum Ausdruck:

„Das ganze jüdische Volk und alle, die sich ihm anschließen, sind wie Brüder, wie es heißt [Deut. 14:1]: ,Ihr seid Kinder des Ewigen, eures Gottes.‘ Und wenn Brüder einander keine Barmherzigkeit erweisen, wer sonst wird ihnen Barmherzigkeit zeigen? Zu wem sollen die Armen in Israel aufschauen? Zu den Nichtjuden, die sie hassen und verfolgen? Ihre Augen sind allein auf ihre Brüder gerichtet“ (Mischne Tora, Gesetze über die Armenfürsorge, 10:2).

Dieses Gefühl der Verwandtschaft, der Brüderlichkeit und der Familienbande bildet den Kern der Idee von Kol Jisrael Arewin seh baseh, „Alle Juden sind füreinander verantwortlich.“ Oder wie Rabbi Schimon Bar Jochai es ausdrückte: „Wenn ein Jude verletzt wird, fühlen alle Juden den Schmerz.“[1]

Warum basiert das Judentum auf diesem Familienkonzept? Einerseits, um uns zu sagen, dass Gott sich nicht eine Elite von Gerechten oder eine Sekte von Gleichgesinnten auserkoren hat. Vielmehr hat Er eine Familie auserwählt: die sich über die Zeiten erstreckende Nachkommenschaft Abrahams und Saras. Die Familie ist der stärkste Träger von Kontinuität, und die Art der Veränderung, welche die Juden in der Welt bewirken sollten, konnte nicht in einer einzigen Generation erreicht werden. Daraus erwächst die Bedeutung der Familie als ein Ort der Erziehung („Diese Dinge sollst du deine Kinder wiederholt lehren…“) und der Weitergabe der Geschichte, insbesondere an Pessach durch den Seder-Gottesdienst.

Andererseits ist das Familiengefühl das ursprünglichste und stärkste moralische Band. Die häufig zitierte Antwort des Wissenschaftlers J. B. S. Haldane auf die Frage, ob er sein Leben riskieren würde, um seinen ertrinkenden Bruder zu retten, lautete: „Nein, aber ich würde es tun, um zwei Brüder oder acht Cousins zu retten.“ Womit er auf die Tatsache hinaus wollte, dass wir 50 Prozent unserer Gene mit unseren Brüdern und Schwestern und ein Achtel mit unseren Cousins und Cousinen teilen. Indem wir ein Risiko eingehen, um sie zu retten, können wir die Weitergabe unserer Gene an die nächste Generation sicherstellen. Dieses als „Verwandtenselektion“ bekannte Prinzip ist die grundlegendste Form des menschlichen Altruismus. Es ist der Ort, an dem das moralische Empfinden erwacht.

Dies ist nicht nur eine wichtige Erkenntnis der Biologie, sondern auch der politischen Theorie. Edmund Burke sagte bekanntlich: „Sich der eigenen Unterabteilung verbunden zu fühlen, das kleine Kollektiv zu lieben, dem wir in der Gesellschaft angehören, ist das erste Prinzip (sozusagen der Keim) der öffentlichen Zuneigung. Es ist das erste Glied in der Kette, durch die wir zur Liebe zu unserem Vaterland und zur Menschheit gelangen.“[2] Auch Alexis de Tocqueville sagte: „Solange der Familiensinn lebendig war, fand sich der Gegner der Unterdrückung nie allein.“[3]

Stabile Familien sind eine wesentliche Voraussetzung für freie Gesellschaften. Wo Familien stark sind, gibt es einen Sinn für Altruismus, der sich von der Familie auf Freunde, Nachbarn und die Gemeinschaft und von dort auf die Nation als Ganzes ausbreiten kann.

Es war der Familiensinn, der die über die ganze Welt verstreuten Juden in einem Netz gegenseitiger Verpflichtungen zusammenhielt. Gibt es dieses Netz heute noch? Manchmal sind die Risse in der jüdischen Welt so tief und die Beleidigungen, die eine Gruppe gegen die andere ausstößt, so brutal, dass man fast glauben könnte, es gebe es nicht mehr. In den 1950er Jahren äußerte Martin Buber die Überzeugung, dass das jüdische Volk im traditionellen Sinne nicht mehr existiere. Die Knesset Jisrael, das Bundesvolk als Einheit vor Gott, gebe es nicht mehr. Die Spaltung in religiöse und säkulare, orthodoxe und nicht-orthodoxe, zionistische und nicht-zionistische Juden habe das Volk unwiderruflich zersplittert.

Diese Schlussfolgerung ist jedoch gerade aus dem Grund verfrüht, der die Familie zu einem so elementaren Band macht. Wenn Sie sich mit Ihrem Freund streiten, ist er womöglich schon morgen nicht mehr Ihr Freund, streiten Sie sich aber mit Ihrem Bruder, ist er auch morgen noch Ihr Bruder. Das Buch Genesis ist voll von Geschwisterrivalitäten, doch nicht alle enden auf die gleiche Weise. Die Geschichte von Kain und Abel endet mit Abels Tod. Am Ende der Geschichte von Isaak und Ismael stehen sie gemeinsam am Grab Abrahams. Die Geschichte von Esau und Jakob erreicht ihren Höhepunkt, als sie sich nach langer Trennung wieder begegnen, sich umarmen und dann wieder ihrer getrennten Wege gehen. Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern beginnt mit Feindseligkeit und endet schließlich mit Vergebung und Versöhnung. Selbst die zerrüttetsten Familien können am Ende wieder zusammenfinden.

Das jüdische Volk bleibt eine Familie, oft gespalten, immer argumentativ, doch durch ein gemeinsames Schicksal verbunden. Wie uns unsere Parascha in Erinnerung ruft, ist die gefallene Person unser Bruder oder unsere Schwester, und so muss die Hand, die ihnen hilft, wieder aufzustehen, die unsere sein.

[1] Mechilta Derabbi Schimon Bar Jochai zu Exod. 19:6.

[2] Edmund Burke (1729–1797), Reflections on the French Revolution: The Harvard Classics, 1909–14.

[3] Democracy in America, Kapitel XVII: Principal causes which tend to maintain the democratic republic in the United States.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier