Okt ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Eine Geschichte von vier Städten

  Eingebettet zwischen der Sintflut und der Berufung Abrahams, zwischen dem allgemeinen Bund mit Noah und dem besonderen Bund mit einem Volk liegt die seltsame und suggestive Geschichte von Babel:

„Die ganze Welt sprach dieselbe Sprache, dieselben Worte. Und als die Menschen aus dem Osten kamen, fanden sie ein Tal im Land Schinar und ließen sich dort nieder. Sie sagten zueinander: ,Kommt, lasst uns Ziegel machen, lasst sie uns gründlich brennen.‘ Und sie gebrauchten Ziegel als Steine und Teer als Mörtel. Und sie sprachen: ,Kommt, lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, der bis an den Himmel reicht, und uns einen Namen machen, so dass wir nicht über die ganze Erde zerstreut werden‘“ (Gen. 11:1-4).

Was ich hier untersuchen möchte, ist nicht einfach die Geschichte von Babel an sich, sondern das übergeordnete Thema. Denn wir haben es hier mit dem zweiten Akt eines Dramas in vier Akten zu tun, das unverkennbar eines der verbindenden Elemente des Bereschit, des Buchs der Anfänge, ist. Es ist eine fortwährende Polemik gegen die Stadt und alles, was in der antiken Welt mit ihr verbunden war. Die Stadt, so scheint es, ist nicht der Ort, an dem wir Gott finden.

Der erste Akt beginnt mit den ersten beiden Menschenkindern. Kain und Abel bringen beide Gott Opfer dar. Gott nimmt die Opfergabe von Abel an, aber nicht die von Kain. Im Zorn erschlägt Kain Abel. Gott konfrontiert ihn mit seiner Schuld: „Deines Bruders Blut schreit von der Erde zu Mir auf.“ Kains Strafe bestand darin, ein „rastloser Wanderer auf Erden“ zu sein. Daraufhin „ging Kain weg von Gottes Angesicht und wohnte im Land Nod, östlich von Eden“. Weiter lesen wir:

„Kain erkannte seine Frau, und sie ward schwanger und gebar Henoch. Er [Kain] baute eine Stadt und nannte sie nach seinem Sohn Henoch“ (Gen. 4:17).

Die erste Stadt wurde vom ersten Mörder, vom ersten Brudermörder gegründet. Die Stadt wurde aus Blut geboren.

Eine offensichtliche Parallele ist die Geschichte der Gründung Roms durch Romulus, der seinen Bruder Remus tötete, aber damit endet die Parallele auch schon. Die Geschichte Roms – von Kindern, die von einem der Götter gezeugt, von ihrem Onkel zum Sterben zurückgelassen und von Wölfen aufgezogen wurden – ist ein typischer Gründungsmythos, eine Legende, die erzählt wird, um die Ursprünge einer bestimmten Stadt zu erklären, und in der Regel von einem Helden, Blutvergießen und dem Umsturz einer bestehenden Ordnung handelt. Die Geschichte von Kain ist kein Gründungsmythos, denn die Bibel interessiert sich weder für die Stadt Kains, noch verherrlicht sie Gewalttaten. Sie ist das Gegenteil eines Gründungsmythos. Sie ist eine Kritik an Städten an sich. Die wichtigste Tatsache über die erste Stadt ist nach der hebräischen Bibel, dass sie gegen den Willen Gottes errichtet wurde. Kain war zum Wandern verurteilt, stattdessen baute er eine Stadt.

Der dritte Akt, der dramatischer, da ausführlicher behandelt, spielt in Sodom, der größten oder bekanntesten Stadt in der Ebene des Jordantals. Hier lässt sich Lot, der Neffe Abrahams, nieder. Das erste Mal begegnen wir Sodom in Genesis 13, als es zu einem Streit zwischen den Hirten Abrahams und den Hirten Lots kommt. Abraham schlägt vor, dass sie sich trennen. Lot sieht den Reichtum der Jordanebene.

„Da erhob Lot seine Augen und sah, dass die ganze Ebene des Jordan bis hinauf nach Zoar gut bewässert war. Sie war wie der Garten des Ewigen, wie das Land Ägypten“ (Gen. 13:10).

Also beschließt Lot, sich dort niederzulassen. Die Bewohner von Sodom, so lesen wir gleich darauf, sind „böse, große Sünder gegen den Herrn“ (Gen. 13:13). Vor die Wahl zwischen Wohlstand und Tugend gestellt, entscheidet sich Lot unklugerweise für den Wohlstand.

Fünf Kapitel später folgt dann die große Szene, in der Gott seinen Plan ankündigt, die Stadt zu zerstören, und Abraham ihn darob herausfordert. Vielleicht sind dort fünfzig unschuldige Menschen, vielleicht auch nur zehn. Wie kann Gott die ganze Stadt vernichten?

„Sollte nicht der Richter der ganzen Erde Gerechtigkeit walten lassen?“ (Gen. 18:25).

Gott erklärt sich bereit, die Stadt nicht zu zerstören, so sich in ihr zehn unschuldige Menschen befinden. Im nächsten Kapitel sehen wir, wie zwei der drei Engel, die Abraham besucht hatten, zu Lots Haus in Sodom kommen. Kurz darauf kommt es zu einer schrecklichen Szene:

„Sie waren noch nicht zu Bett gegangen, da umringten alle Einwohner der Stadt, die Männer von Sodom, Jung und Alt, aus allen Stadtvierteln, das Haus. Sie riefen Lot zu: ,Wo sind die Männer, die heute Nacht zu dir gekommen sind? Bring sie zu uns heraus, damit wir sie erkennen‘“ (Gen. 19:4-5).

Es stellt sich heraus, dass es keine Unschuldigen gibt. Dreimal betont der Text, dass ausnahmslos alle Männer potenzielle Täter waren: „alle Stadtbewohner“, „Jung und Alt“, „alle Menschen aus allen Stadtvierteln“.

Es ergibt sich ein kumulatives Bild. Die Bewohner von Sodom mögen keine Fremden. Sie betrachten sie nicht als durch das Gesetz geschützt – auch nicht durch die Konventionen der Gastfreundschaft. Es gibt eine klare Andeutung von sexueller Verderbtheit und potenzieller Gewalt. Es gibt auch die Vorstellung von einem Menschenhaufen, eines Mobs. In einer Menschenmasse sind Menschen imstande, Verbrechen zu begehen, die sie allein nicht im Traum begehen würden. Allein die Bevölkerungsdichte in Städten bringt ein moralisches Risiko mit sich. Menschenmassen ziehen mehr nach unten, als dass sie emporheben. Deshalb beschließt Abraham, getrennt von ihnen zu leben. Er führt Krieg gegen Sodom (Gen. 14) und betet für seine Bewohner, aber er will nicht dort leben. Es ist kein Zufall, dass die Patriarchen und Matriarchinnen keine Stadtbewohner waren.

Der vierte Schauplatz ist natürlich Ägypten, wohin Josef als Sklave gebracht wird und wo er im Hause Potiphars dient. Dort versucht Potiphars Frau, ihn zu verführen, und beschuldigt ihn eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, wofür er ins Gefängnis kommt. Die Schilderungen Ägyptens im Buch Genesis sind im Gegensatz zu denen im Buch Exodus nicht von Gewalt, sondern, wie die Josefsgeschichte deutlich macht, von sexueller Freizügigkeit und Ungerechtigkeit geprägt.

Vor diesem Hintergrund ist die Geschichte von Babel zu verstehen. Sie wurzelt in einer realen Geschichte, zu einer realen Zeit und an einem realen Ort. Mesopotamien, die Wiege der Zivilisation, war bekannt für seine Stadtstaaten, von denen einer Ur war, aus dem Abraham und seine Familie stammten, und von denen der größte tatsächlich Babylon war. Die Tora beschreibt genau den technologischen Durchbruch, der den Bau der Städte ermöglichte: Ziegel, die durch Erhitzen im Brennofen gehärtet wurden.

Die Vorstellung von einem Turm, der „bis zum Himmel reicht“, beschreibt auch ein reales Phänomen, die Zikkurat oder den heiligen Turm, der die Skyline der Städte im unteren Tigris-Euphrat-Tal beherrschte. Eine Zikkurat war ein künstlicher heiliger Berg, auf dem der König bei den Göttern Fürsprache einlegte. Die Zikkurat in Babylon, auf die sich unsere Geschichte bezieht, war eine der größten: Sie hatte sieben Stockwerke, war über dreihundert Fuß hoch und wurde in vielen nicht-israelitischen Texten der Antike als „bis zum Himmel reichend“ oder „mit dem Himmel wetteifernd“ beschrieben.

Im Gegensatz zu den drei anderen Stadtgeschichten begehen die Baumeister von Babel keine offensichtliche Sünde. In diesem Fall ist die Tora viel subtiler. Erinnern wir uns, was die Baumeister sagten:

„Kommt, wir wollen uns eine Stadt bauen und einen Turm, der bis an den Himmel reicht, und uns einen Namen machen, so dass wir nicht über die ganze Erde zerstreut werden“ (Gen. 11:4).

Hier gibt es drei Elemente, die die Tora als fehlgeleitet ansieht. Das erste ist, „dass wir uns einen Namen machen“. Namen sind etwas, das uns gegeben wird. Wir machen sie uns nicht selbst. Hier wird angedeutet, dass die Menschen in den großen Stadtkulturen des alten Mesopotamien tatsächlich eine symbolische Verkörperung ihrer selbst verehrten. Émile Durkheim, einer der Begründer der Soziologie, vertrat dieselbe Ansicht. Für ihn besteht die Funktion der Religion im Zusammenhalt der Gruppe, und die Objekte der Verehrung sind kollektive Repräsentationen der Gruppe. Das ist es, was die Tora als eine Form des Götzendienstes betrachtet.

Der zweite Fehler bestand darin, einen „Turm, der bis an den Himmel reicht“ bauen zu wollen. Ein Grundmotiv der Schöpfungsgeschichte in Bereschit 1 ist die Trennung der Sphären. Es gibt eine heilige Ordnung. Es gibt den Himmel, und es gibt die Erde, und beide müssen voneinander getrennt bleiben:

„Der Himmel ist Gottes Himmel, aber die Erde hat er den Menschenkindern gegeben“ (Psalm 115:16).

Die Tora gibt ihre eigene Etymologie für das Wort Babel an, das wörtlich „Gottes Tor“ bedeutet. Die Tora bringt es mit der hebräischen Wurzel b‑l‑l in Verbindung, die „verwirren“ bedeutet. In der Geschichte bezieht sich dies auf die Verwirrung der Sprachen, die durch die Hybris der Baumeister verursacht wurde. Aber b‑l‑l bedeutet auch „vermischen, vermengen“, und das ist es, was den Babyloniern vorgeworfen wird: Himmel und Erde zu vermischen, die immer getrennt bleiben sollten. B‑ll ist das Gegenteil von b‑d‑l, dem Schlüsselwort von Bereschit 1, das „unterscheiden, trennen, auseinanderhalten“ bedeutet.

Der dritte Fehler war die Absicht der Bauleute, sich nicht „über die ganze Erde zu zerstreuen“. Damit wollten sie Gottes Gebot an Adam und später an Noah vereiteln: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde“ (Gen. 1:28; Gen. 9:1). Dies scheint eine generelle Ablehnung von Städten an sich zu sein. Es besteht keine Notwendigkeit, so scheint die Tora zu sagen, sich in urbanen Umgebungen zu konzentrieren. Die Patriarchen waren Hirten. Sie zogen von Ort zu Ort. Sie lebten in Zelten. Sie verbrachten die meiste Zeit allein, weit weg vom Lärm der Stadt, an einem Ort, wo sie mit Gott in Verbindung sein konnten.

Wir haben also in Bereschit eine Geschichte von vier Städten: Henoch, Babel, Sodom und die Stadt Ägyptens. Das ist kein nebensächliches Thema, sondern ein wichtiges Motiv. Die Tora erzählt uns eindrücklich, wie und warum der abrahamitische Monotheismus entstanden ist.

Die Gesellschaften der Jäger und Sammler waren relativ egalitär. Erst mit dem Aufkommen von Landwirtschaft und Arbeitsteilung, von Handel und Handelszentren, von wirtschaftlicher Wertschöpfung und einem markanten Wohlstandsgefälle, das sich in den Städten mit ihren ausgeprägten Machthierarchien konzentrierte, begannen sich eine Reihe von Merkmalen herauszubilden – nicht nur die Vorteile der Zivilisation, sondern auch ihre Schattenseiten.

So entstand der Polytheismus als himmlische Rechtfertigung der Hierarchie auf Erden. So kam es, dass Herrscher als Halbgötter angesehen wurden – ein weiteres Beispiel für b‑l‑l, die Verwischung der Grenzen. Da zählten nur Reichtum und Macht, und die Menschen wurden als Masse und nicht als Individuen betrachtet. Hier wurden ganze Gruppen versklavt, um monumentale Bauwerke zu errichten. Insofern ist Babel der Vorläufer des Ägyptens der Pharaonen, dem wir viele Kapitel und Jahrhunderte später wiederbegegnen werden.

Kurz gesagt, die Stadt ist eine entmenschlichende Umgebung und birgt das Potenzial eines Ortes, an dem Menschen symbolische Repräsentationen ihrer selbst verehren.

Der Tanach wendet sich nicht gegen Städte als solche. Ihr Gegenbild ist Jerusalem, der Sitz der göttlichen Gegenwart. Aber das liegt zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch in weiter Ferne.

Die für uns heute vielleicht wichtigste Unterscheidung trifft der Soziologe Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Gemeinschaft ist gekennzeichnet durch persönliche Beziehungen, in denen sich die Menschen kennen und füreinander Verantwortung übernehmen. Die Gesellschaft ist nach Tönnies’ Analyse ein unpersönliches Umfeld, in dem sich Menschen um ihres persönlichen Vorteils willen zusammenfinden, sich aber im Wesentlichen fremd bleiben.

In gewissem Sinne besteht das Projekt der Tora darin, Gemeinschaft – starke, persönliche Gemeinschaften – auch in den Städten zu erhalten. Denn nur wenn wir uns als Menschen begegnen, als Individuen, die durch ein gemeinsames Band miteinander verbunden sind, können wir die Sünden der Stadt vermeiden, die heute sind, was sie immer waren: sexuelle Freizügigkeit, die Anbetung falscher Götter des Reichtums und der Macht, die Behandlung von Menschen als Ware und die Vorstellung, dass einige Menschen mehr wert sind als andere.

Das ist Babel, damals wie heute, und das Ergebnis ist Verwirrung und Zersplitterung der Menschheitsfamilie.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier