Nov ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Dir Bindung Isaaks: eine neue Interpretation

   Es ist der schwierigste Abschnitt von allen, scheint er sich doch unserem Verständnis ganz zu entziehen. Jahrelang haben Abraham und Sara auf ein Kind gehofft. Immer wieder hatte Gott ihnen verheißen, dass sie viele Nachkommen haben werden, so zahlreich wie die Sterne am Himmel, wie der Staub auf der Erde, wie die Sandkörner am Meeresstrand. Sie warten und warten. Aber es kommt kein Kind.

In ihrer tiefen Verzweiflung schlägt Sara Abraham vor, ein Kind mit ihrer Magd Hagar zu zeugen. Er tut es. Und Ismael wird geboren. Doch Gott sagt zu Abraham: „Das ist nicht der Verheißene.“ Inzwischen ist Sarah alt geworden, jenseits der Wechseljahre und nicht mehr in der Lage, auf natürlichem Wege ein Kind zu bekommen.

Es erscheinen Engel und versprechen ihr nochmals, dass sie ein Kind haben wird. Sara lacht. Aber ein Jahr später wird Isaak geboren. Saras Freude ist fast herzzerreißend:

„Sara sprach: ,Gott hat mir ein Lachen geschenkt; alle, die es hören, werden mit mir lachen.‘ Und weiter sprach sie: ,Wer hätte wohl Abraham gesagt: „Sara wird Kinder stillen?“ Aber ich habe ihm in seinem Alter einen Sohn geboren‘“ (Gen. 21:6-7).

Dann aber diese verhängnisvollen Worte:

„Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den Sohn, den du liebst, den Isaak, und zieh in das Land Moria. Dort sollst du ihn auf einem der Berge, die ich dir zeigen werde, als Brandopfer darbringen“ (Gen. 22:2).

Der Rest der Geschichte ist bekannt. Abraham nimmt Isaak mit. Gemeinsam wandern sie drei Tage lang zum Berg. Abraham baut einen Altar, sammelt Holz, bindet seinen Sohn und erhebt das Messer. In diesem Augenblick:

„Der Engel des Ewigen rief ihm vom Himmel her zu: ,Abraham! Abraham!‘

Er antwortete: ,Hier bin ich.‘

,Erhebe deine Hand nicht gegen den Knaben, tue ihm nichts, denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest, weil du Mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten hast‘“ (Gen. 22:11-12).

Die Prüfung ist vorbei. Es ist der Höhepunkt in Abrahams Leben, die höchste Glaubensprüfung, ein Schlüsselmoment jüdischer Erinnerung und Selbstdefinition.

Aber es ist zutiefst beunruhigend. Warum hat Gott das, was er gegeben hatte, fast wieder weggenommen? Warum hat er diese beiden betagten Eltern – Abraham und Sara – einer so schrecklichen Prüfung unterzogen? Warum protestierte Abraham, der Gott zuvor wegen des Schicksals von Sodom mit den Worten herausgefordert hatte: „Sollte nicht der Richter der ganzen Erde Gerechtigkeit walten lassen?“, nicht dagegen, diese grausame Tat an einem unschuldigen Kind zu verüben?

Die Standardauslegung aller klassischen und modernen Kommentatoren ist, dass Abraham seine grenzenlose Liebe zu Gott dadurch beweist, dass er bereit ist, das Kostbarste in seinem Leben zu opfern: den Sohn, auf den er so viele Jahre gewartet hat.

Der christliche Theologe Søren Kierkegaard hat darüber ein eindringliches Buch geschrieben, Furcht und Zittern, in dem er Begriffe prägte wie die „teleologische Aufhebung der Ethik“[1] – die Liebe Gottes kann uns Dinge tun lassen, die sonst als moralisch falsch angesehen würden – und den „Glauben an das Absurde“ – Abraham vertraute Gott, dass er das Unmögliche möglich machen würde. So glaubte Abraham, dass er Isaak verlieren und dennoch behalten würde. Für Kierkegaard geht der Glaube über die Vernunft hinaus.

Rabbi Joseph Soloveitchik sah in der Bindung ein Beispiel dafür, dass wir nicht erwarten dürfen, immer siegreich zu sein. Manchmal müssen wir Niederlagen erleiden. „Gott sagt dem Menschen, dass er das, was er am meisten begehrt, aufgeben soll“[2]

Alle diese Interpretationen sind sicher richtig. Sie sind ein Teil unserer Tradition. Ich möchte jedoch eine völlig andere Lesart vorschlagen, und zwar aus folgendem Grund: Im ganzen Tanach ist die schwerste Sünde das Kinderopfer. Die Tora und die Propheten sehen es durchweg mit Abscheu. Es ist das, was die Heiden tun. Hier ist Jeremia zu diesem Thema:

„Sie bauten die Kultstätten des Baal, um ihre Söhne im Feuer zu verbrennen, um sie dem Baal zu opfern – etwas, was Ich weder befohlen noch gesagt habe, noch was Mir in den Sinn gekommen ist“ (Jer. 19:5).

Und dies ist Micha:

„Soll ich etwa meinen Erstgeborenen für meine Übertretung opfern, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele?“ (Micha 6:7)

Es ist, was Mescha, der König von Moab, tut, um die Götter dazu zu bringen, ihm den Sieg über die Israeliten zu gewähren:

„Als der König von Moab sah, dass die Schlacht gegen ihn lief, nahm er siebenhundert Schwertkämpfer mit, um zum König von Edom durchzubrechen, aber sie vermochten es nicht. Da nahm er seinen erstgeborenen Sohn, seinen Thronfolger, und opferte ihn auf der Stadtmauer. Da entbrannte der Zorn gegen Israel; sie zogen sich zurück und kehrten in ihr Land zurück“ (II Könige 3:26-27).

Wie kann die Tora Abrahams größte Leistung darin sehen, dass er bereit war, das zu tun, was die schlimmsten Götzendiener tun? Die Tatsache, dass Abraham bereit war, seinen Sohn zu opfern, würde ihn aus der Sicht des Tanach als Ganzes nicht besser machen als die Baal- oder Molechanbeter oder den heidnischen König von Moab. Dies kann nicht die einzig mögliche Interpretation sein.

Doch es gibt noch einen anderen Weg, die Prüfung zu deuten. Dazu müssen wir uns einem übergeordneten Thema der Tora in ihrer Gesamtheit zuwenden. Betrachten wir die Beweislage.

Erster Grundsatz: Gott ist der Eigentümer des Landes Israel. Deshalb kann er im Jubeljahr die Rückgabe an die ursprünglichen Besitzer anordnen:

„Das Land soll nicht auf ewig verkauft werden, denn das Land ist Mein. Ihr seid Mir lediglich Zuwanderer und Pächter“ (Lev. 25:23).

Zweiter Grundsatz: Gott besitzt die Kinder Israels, weil er sie aus der Sklaverei befreit hat. Das ist es, was die Israeliten meinten, als sie am Schilfmeer sangen:

„Bis Dein Volk hinübergezogen ist, Gott, bis das Volk, das Du erworben hast [Am so kanita], hinübergezogen ist“ (Exod. 15:16).

Sie können daher nicht zu dauerhaften Sklaven gemacht werden:

„Denn die Israeliten sind Meine Knechte, die Ich aus Ägypten geführt habe; sie dürfen nicht als Sklaven verkauft werden“ (Lev. 25:42).

Dritter Grundsatz: Gott ist der eigentliche Eigentümer von allem, was existiert. Deshalb müssen wir über alles, was wir genießen, einen Segen sprechen:

„Raw Juda sagte im Namen Samuels: Etwas von dieser Welt zu genießen, ohne einen Segensspruch zu sprechen, ist wie der persönliche Gebrauch von Dingen, die dem Himmel geweiht sind, denn es heißt: ,Die Erde ist Gottes und ihre Fülle.‘ Rabbi Levi stellte zwei Texte gegenüber. Einerseits steht geschrieben: ,Die Erde ist Gottes und ihre Fülle‘, andererseits steht geschrieben: ,Der Himmel ist Gottes Himmel, aber die Erde hat Er den Menschenkindern gegeben.‘ – Darin besteht kein Widerspruch: In dem einen Fall ist es vor dem Segensspruch, in dem anderen nach dem Segensspruch“ (Berachot 35a).

Alles gehört Gott, und das müssen wir anerkennen, bevor wir etwas gebrauchen. Das ist der Sinn eines Segensspruches: zu erkennen, dass alles, was wir genießen, von Gott kommt.

Dies ist die rechtliche Grundlage des gesamten jüdischen Gesetzes. Gott herrscht durch Recht, nicht durch Macht. Gott hat das Universum erschaffen; deshalb ist Gott der letzte Eigentümer des Universums. Der Rechtsbegriff dafür lautet „Enteignung“. Deshalb hat Gott das Recht, die Bedingungen festzulegen, unter denen wir das Universum nutzen können. Die Tora beginnt mit der Schöpfungsgeschichte, um diese rechtliche Tatsache festzustellen – und nicht, um uns etwas über die Physik und Kosmologie des Urknalls zu erzählen.

Dies hat für das jüdische Volk eine besondere Tiefe und Resonanz, denn für sie alle ist Gott nicht nur – wie für die gesamte Menschheit – der Schöpfer und Erhalter des Universums. Für die Juden ist Er auch der Gott der Geschichte, der sie aus der Sklaverei befreit und ihnen ein Land gegeben hat, das ursprünglich anderen gehörte, den „sieben Völkern“. Gott ist der Herrscher des Universums, aber in einem ganz besonderen Sinn ist Er der einzige und endgültige König Israels und die einzige Quelle seiner Gesetze. Das ist die Bedeutung des Buches Exodus. Die Schlüssel­erzählungen der Tora sollen uns lehren, dass Gott der endgültige Eigentümer von allem ist.

In der Antike, bis hin zum Römischen Reich, galten Kinder als rechtliches Eigentum ihrer Eltern. Sie selbst hatten keine Rechte. Sie waren keine eigenständigen Rechtspersonen. Nach dem römischen Prinzip der Patria Potestas (väterliche Gewalt) konnte ein Vater mit seinem Kind machen, was er wollte, es sogar töten. Die Tötung von Kindern war in der Antike wohlbekannt (und wurde in unserer Zeit sogar von dem Harvard-Philosophen Peter Singer im Falle schwerbehinderter Kinder verteidigt). So beginnt die Geschichte von Ödipus, der von seinem Vater Laios dem Tod überlassen wird.

Dieses Prinzip liegt der gesamten Praxis der Kinderopfer zugrunde, die in der heidnischen Welt weit verbreitet war. Doch die Tora ist entsetzt über Kinderopfer, die sie für die schlimmste aller Sünden hält. Sie will deshalb an den Kindern festhalten, was sie auch für das Universum als Ganzes, für das Land Israel und das Volk Israel festhält: Nicht wir sind Eigentümer unserer Kinder, sondern Gott. Wir sind lediglich ihre Vormünder an Gottes Stelle.

Nur das dramatischste Ereignis konnte eine so revolutionäre und in der antiken Welt beispiellose, ja unverständliche Idee etablieren. Genau darum geht es in der Geschichte von der Bindung Isaaks. Isaak gehört nicht Abraham oder Sara. Er gehört Gott. Alle Kinder gehören Gott. Eltern besitzen ihre Kinder nicht. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist ein reines Obhutsverhältnis. Gott will nicht, dass Abraham sein Kind opfert. Gott will, dass er das Eigentum an seinem Kind aufgibt. Das meint der Engel, wenn er Abraham ruft und ihm sagt, er solle aufhören: „Du hast Mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten.“

Die Bindung Isaaks ist eine Polemik gegen das Prinzip der Patria Potestas, die in allen heidnischen Kulturen verbreitete Vorstellung, dass Kinder Eigentum ihrer Eltern sind, und zugleich eine Ablehnung dieses Prinzips.

So gesehen steht die Bindung Isaaks nun im Einklang mit den anderen zentralen Erzählungen der Tora, nämlich der Schöpfung des Universums und der Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten. Auch der Rest der Erzählung ergibt nun einen Sinn. Gott musste Abraham und Sara zeigen, dass ihr Kind nicht von Natur aus ihr Kind ist, so war auch seine Geburt alles andere als natürlich. Sie geschah, nachdem Sara nicht mehr schwanger werden konnte.

Die Geschichte des ersten jüdischen Kindes legt einen Grundsatz fest, der für alle jüdischen Kinder gilt. Gott schafft einen Rechtsraum zwischen Eltern und Kind, denn nur in diesem Raum haben Kinder auch die Möglichkeit, sich zu eigenständigen Individuen zu entwickeln.

Schließlich und endlich strebt die Tora die Abschaffung aller Herrschafts- und Unterwerfungsverhältnisse an. Deshalb verabscheut sie die Sklaverei und macht sie in Israel zu einem vorübergehenden Zustand und nicht zu einem dauerhaften Schicksal. Deshalb versucht sie, Kinder vor anmaßenden oder noch schlimmeren Eltern zu schützen.

Abraham, so haben wir in der letzten Woche argumentiert, wurde auserwählt, für alle Zeiten ein Vorbild dafür zu sein, was es heißt, Eltern zu sein. Wir sehen nun, dass die Bindung Isaaks die Erfüllung dieser Geschichte ist. Eltern sind Menschen, die wissen, dass sie ihr Kind nicht besitzen.

[1] Søren Kierkegaard, Fear and Trembling, and the Sickness unto Death, 1843, übersetzt von Garden City (New York, Doubleday, 1954), siehe S. 55, 62-63. Deutsche Fassung: Die Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst (München, dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, 2005).

[2] Joseph B. Soloveitchik, Majesty and Humility,” Tradition 17:2 (Frühjahr 1978), S. 25–37.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier