Aug ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Die tiefe Kraft der Freude

   Am 14. Oktober 1663 besuchte der berühmte Tagebuchautor Samuel Pepys die spanische und portugiesische Synagoge in der Creechurch Lane in der Londoner City. Die Juden waren 1290 aus England verbannt worden. Doch im Jahre 1656 kam Oliver Cromwell durch Fürsprache des Amsterdamer Rabbiners Menasseh ben Israel zu dem Schluss, dass es tatsächlich kein rechtliches Hindernis für das Leben von Juden in England gibt. So konnten die Juden zum ersten Mal seit dem 13. Jahrhundert wieder offen ihre Religion ausüben.

Bei der ersten Synagoge, die Pepys besuchte, handelte es sich lediglich um ein Privathaus, das einem erfolgreichen portugiesischen jüdischen Kaufmann, Antonio Fernandez Carvajal, gehörte und das man erweitert hatte, um Raum für die Gemeinde zu schaffen. Pepys war schon einmal in der Synagoge gewesen, und zwar anlässlich des Gedenkgottesdienstes für Carvajal, der 1659 verstorben war. Hier erlebte er eine ernste und würdevolle Zeremonie. Doch was er bei seinem zweiten Besuch sah, war etwas gänzlich anderes, eine Szene des Feierns, die ihn schockierte. Dies schrieb er in sein Tagebuch:

„… Nach dem Essen gingen meine Frau und ich, geführt von Herrn Rawlinson, in die jüdische Synagoge, wo die Männer und Knaben in ihre Umhänge (d.h. Tallitot) gehüllt und die Frauen hinter einem Gitter verborgen sind, und einige Gegenstände in einer Truhe stehen (d.h. die Thora im Aron), vor denen sich alle verbeugen, die eintreten; und wenn sie ihre Umhänge anlegen, sagen sie etwas, worauf die anderen, die sie hören, Amen rufen, und sie küssen ihre Umhänge. Ihr gesamter Gottesdienst ist ein einziges Singen, und das auf Hebräisch. Und gleich darauf werden ihre Gesetze, die sie der Lade entheben, von mehreren Männern getragen, insgesamt vier oder fünf verschiedene Träger, und sie lösen einander ab; ob es sich so verhält, dass jeder sie einmal tragen will, vermag ich nicht zu sagen. So trugen sie sie im Raum umher, inmitten von Gesang… Aber, um Gottes Willen! Die Unordnung zu sehen, das Lachen, das Getanze, und keine Umsicht, sondern Durcheinander in all ihrem Dienst, eher wie Vieh, denn Menschen, die den wahren Gott kennen. Dies bringt einen dazu zu schwören, sie nie wieder sehen zu wollen. Tatsächlich hatte ich noch nie zuvor so etwas erlebt oder mir je vorstellen können, dass es in der ganzen Welt eine Religion gibt, die so absurd ausgeübt wird wie diese.“

Der arme Pepys. Niemand hatte ihm gesagt, dass der Tag, den er sich ausgesucht hatte, um in die Synagoge zu gehen, Simchat Tora war, noch hatte er jemals in einem Gotteshaus so etwas wie die überschwängliche Freude des Tages gesehen, an dem wir mit der Torarolle tanzen, als wäre die Welt eine Hochzeit und das Buch eine Braut, mit der gleichen Hingabe wie König David, als er die heilige Lade nach Jerusalem brachte.

Freude ist nicht das erste Wort, das uns spontan in den Sinn kommt, wenn wir an die Strenge des Judentums als Moralkodex oder an die tränenreichen Seiten der jüdischen Geschichte denken. Als Juden haben wir Diplome im Leiden, Doktortitel in Schuld und Goldmedaillen im Weinen und Wehklagen. Jemand hat einmal die jüdischen Feiertage in drei Sätzen zusammengefasst: „Sie haben versucht, uns zu töten. Wir haben überlebt. Lasst uns essen.“ Aber in Wahrheit strahlt aus so vielen Psalmen pure, ja lichte Freude. Und Freude ist eines der Schlüsselwörter im Buch Dewarim. Die Wurzel s‑mch (die Wurzel des Wortes Simcha, Freude) kommt je einmal in Genesis, Exodus, Levitikus und Numeri vor, aber zwölfmal im Deuteronomium, davon siebenmal in unserer Parascha.

Moses sagt immer wieder, dass wir im Land Israel Freude empfinden sollen, dem Land, das uns von Gott gegeben wurde, dem Ort, auf den sich das gesamte jüdische Leben seit den Tagen Abrahams und Sarahs hinbewegt hat. Das weite Universum mit seinen unzähligen Galaxien und Sternen ist Gottes Kunstwerk, aber darin ist der Planet Erde und auf ihm das Land Israel und die heilige Stadt Jerusalem, der Ort, wo Er am nächsten ist, wo Seine Gegenwart in der Luft liegt, wo das Blau des Himmels leuchtet und wo die Steine für Ihn ein goldener Thron sind. Dort, sagt Moses, „an dem Ort, den der Ewige, euer Gott, erwählen wird, … um dort seinen Namen wohnen zu lassen“ (Deut. 12:5), werdet ihr die Liebe feiern zwischen einem kleinen und sonst unbedeutenden Volk und dem Gott, der es sich zu eigen gemacht und zu Größe erhoben hat.

An diesem Ort, so Moses, würde sich die ganze verworrene Geschichte des Judentums aufklären, wo ein ganzes Volk, wo alle – „du und deine Söhne und Töchter, deine Knechte und Mägde und die Leviten aus deinen Städten, die kein Erbteil mit dir haben“ – gemeinsam singen, gemeinsam den Gottesdienst verrichten, gemeinsam die Feste feiern würden, in dem Wissen, dass es in der Geschichte nicht um Reiche und Eroberungen geht und in der Gesellschaft nicht um Hierarchie und Macht, dass vor Gott Bürger und König, Israelit und Priester alle gleich sind, alle Stimmen in Seinem heiligen Chor, Tanzende in einem Kreis, in dessen Mitte der Glanz des Göttlichen ist. Und darum geht es im Bund: um die Verwandlung des Menschen durch das, was Wordsworth „die tiefe Kraft der Freude“ nannte.[1]

Glück (griechisch Eudaimonia) ist nach Aristoteles der Endzweck der menschlichen Existenz. Wir begehren vieles, aber meist als Mittel zu etwas anderem. Nur eines ist immer um seiner selbst willen erstrebenswert und niemals um einer anderen Sache willen: das Glück.[2]

Im Judentum gibt es ein solches Verständnis ebenso. Das biblische Wort für Glück, aschrej, ist das erste Wort im Buch der Psalmen und ein Schlüsselwort in unseren täglichen Gebeten. Aber viel häufiger spricht der Tanach von Simcha, Freude – und dabei handelt es sich um zwei verschiedene Dinge: Glück ist etwas, das man allein empfinden kann, aber Freude ist im Tanach etwas, das man mit anderen teilt. Im ersten Ehejahr soll der Mann nach Deuteronomium (24:5) „zu Hause bleiben und der Frau, die er geheiratet hat, Freude bereiten“. Wenn die Erstlingsfrüchte in den Tempel gebracht werden, „sollst du dich freuen über all das Gute, das der Ewige, dein Gott, dir und deinem Haus geschenkt hat, du und der Levite und der Fremde, der bei dir wohnt“ (Deut. 26:11). In einer der bemerkenswertesten Passagen der Tora sagt Moses, dass das Volk von Flüchen heimgesucht werden wird, nicht etwa, weil es Götzen gedient oder sich von Gott abgewandt hat, sondern „weil du dem Ewigen, deinem Gott, nicht mit Freude und Frohsinn gedient hast bei dem Überfluss an allem“ (Deut. 28:47). Die Unfähigkeit, sich zu freuen, ist das erste Zeichen von Verfall und Dekadenz.

Es gibt noch weitere Unterschiede. Glück bezieht sich auf ein ganzes Menschenleben, Freude hingegen lebt im Augenblick. Glück ist eher ein ruhiges Gefühl, aber Freude lässt einen tanzen und singen. Es ist schwer, inmitten von Ungewissheit glücklich zu sein. Aber man kann trotzdem Freude empfinden. König David sprach in den Psalmen von Gefahr, Angst, Niedergeschlagenheit, manchmal sogar von Verzweiflung, aber seine Lieder enden meist in Dur:

„Denn Sein Zorn währt nur einen Augenblick,

aber Seine Gunst währt ein Leben lang;

Weinen mag über Nacht bleiben,

doch mit dem Morgen kommt der Jubel…

Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt;

Du hast mein Sacktuch entfernt und mich in Freude gekleidet,

damit mein Herz Dein Lob singt und nicht schweigt.

Ewiger, mein Gott, ich will Dich preisen“ (Psalm 30:6-13).

Im Judentum ist die Freude das höchste religiöse Gefühl. Wir leben in einer Welt voller Schönheit. Jeder unserer Atemzüge ist Gottes Geist in uns. Um uns herum ist die Liebe, die die Sonne und alle Sterne bewegt. Wir sind hier, weil jemand wollte, dass wir hier sind. Die zelebrierende Seele singt.

Und ja, das Leben ist voller Kummer und Enttäuschungen, voller Probleme und Schmerzen, aber hinter all dem steht das Wunder, dass wir hier sind, in einem Universum voller Schönheit, unter Menschen, von denen jeder eine Spur des göttlichen Antlitzes in sich trägt. Robert Louis Stevenson hat zu Recht gesagt: „Entdecke, wo die Freude wohnt, und gib ihr eine Stimme, weit über den Gesang hinaus. Denn wer die Freude verfehlt, hat alles verfehlt.“[3]

Im Judentum steht der Glaube nicht in Konkurrenz zur Wissenschaft. Er ist kein Versuch, das Universum zu erklären. Er ist ein Staunen, das aus einem Gefühl der Dankbarkeit heraus geboren wird. Judentum bedeutet, das Leben in die Hände zu nehmen und es zu segnen. Es ist, als ob Gott zu uns sagt: Ich habe all das für euch geschaffen. Das ist mein Geschenk. Freut euch daran und helft anderen, sich daran zu erfreuen. Wo immer ihr könnt, lindert den Schmerz, den die Menschen einander zufügen, oder auch die tausend natürlichen Schläge, denen das Fleisch ausgesetzt ist. Denn Schmerz, Trauer, Angst, Wut, Neid, Missgunst – all das trübt euren Blick und trennt euch voneinander und von Mir.

Kierkegaard schrieb einmal: „Es erfordert moralischen Mut, zu trauern. Es gehört religiöser Mut dazu, froh zu sein.“[4] Davon bin ich zutiefst überzeugt. So bewegt es mich, wie Juden, die wissen, was es heißt, durch das Tal des Todesschattens zu wandern, immer noch die Freude als das höchste religiöse Gefühl betrachten. Jeden Tag beginnen wir unsere Morgengebete mit einer Litanei des Dankes dafür, dass wir hier sind, dass wir eine Welt haben, in der wir leben, eine Familie und Freunde, die wir lieben und von denen wir geliebt werden, und dass wir einen Tag voller Möglichkeiten vor uns haben, an dem wir durch Taten liebevoller Güte die Gegenwart Gottes durch uns in das Leben anderer fließen lassen. Die Freude hilft, einige der Wunden unserer geschundenen und geplagten Welt zu heilen.

[1] William Wordsworth, Lines Composed a Few Miles above Tintern Abbey, On Revisiting the Banks of the Wye during a Tour. July 13, 1798.

[2] Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097a 30-34.

[3] Robert Louis Stevenson, The Lantern-Bearers aus The Lantern-Bearers and Other Essays (New York, Cooper Square Press, 1999).

[4] Søren Kierkegaard, Journals and Papers, 2179.

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