Aug ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Die Spiritualität des Zuhörens

   Es ist eines der wichtigsten Worte im Judentum, aber auch eines der am wenigsten verstandenen. Die zwei bekanntesten Stellen, wo es vorkommt, finden sich in den Wochenabschnitten der letzten und dieser Woche: „Höre, Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig“ (Deut. 6:4), und: „Wenn ihr auf meine Gebote hört, die Ich euch heute gebiete, so sollt ihr den Ewigen, euren Gott, lieben und Ihm mit eurem ganzen Herzen und mit eurer ganzen Seele dienen“ (Deut. 11:13). So die einleitenden Worte des ersten und zweiten Abschnitts des Sch’ma. Es erscheint auch in der ersten Zeile der Parascha: „Es wird geschehen, wenn ihr auf diese Gesetze hört“ (Deut. 7:12).

Das Wort, um das es hier geht, ist natürlich Sch’ma. Ich habe an anderer Stelle[1] argumentiert, dass es im Grunde nicht ins Deutsche übersetzt werden kann, weil es so vieles bedeutet: hören, zuhören, achtgeben, verstehen, verinnerlichen, reagieren, gehorchen. Es ist eines der zentralen Worte im Buch Dewarim, wo es nicht weniger als 92 Mal vorkommt – mehr als in jedem anderen Buch der Tora. Immer wieder sagt Moses in den letzten Monaten seines Lebens zum Volk: Sch’ma: Hört, beherzigt, passt auf. Hört, was ich sage. Hört, was Gott sagt. Hört, was Er von uns erwartet. Wenn ihr nur zuhören würdet… Das Judentum ist eine Religion des Hörens. Das ist einer seiner ursächlichsten Beiträge zur Zivilisation.

Die beiden Fundamente, auf denen die westliche Kultur errichtet wurde, waren das alte Griechenland und das antike Israel. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Griechenland war eine zutiefst visuelle Kultur. Seine größten Errungenschaften hatten mit dem Auge, mit dem Sehen zu tun. Es schuf einige der größten Kunstwerke, Skulpturen und Architekturen, die die Welt je gesehen hat. Die charakteristischsten kollektiven Veranstaltungen – Theateraufführungen und die Olympischen Spiele – waren Spektakel: Aufführungen, die man sich ansah. Platon betrachtete Wissen als eine Art Tiefensicht, bei der man unter der Oberfläche die wahre Gestalt der Dinge erkennt.

Die Vorstellung, dass Wissen Sehen bedeutet, ist auch heute noch die vorherrschende Metapher im Westen. Wir sprechen von Einsicht, Voraussicht und Rückschau. Wir stellen eine Beobachtung an. Wir machen uns eine Perspektive zu eigen. Wir veranschaulichen, wir erhellen, wir werfen Licht auf einen Sachverhalt. Wenn wir etwas verstehen, sagen wir: „Das sehe ich.“[2]

Das Judentum ist hierzu die radikale Alternative. Es ist der Glaube an einen Gott, den wir nicht sehen können, einen Gott, der nicht visuell dargestellt werden kann. Schon der Akt der Herstellung eines Götzenbildes – eines visuellen Symbols – ist eine Form des Götzendienstes. Daran erinnert Moses das Volk in der Parascha der vergangenen Woche: Als die Israeliten am Berg Sinai eine unmittelbare Begegnung mit Gott hatten, da „habt ihr den Klang der Worte gehört, aber kein Bild gesehen; nur eine Stimme war zu hören“ (Deut. 4:12). Gott kommuniziert in Klängen, nicht in Bildern. Er spricht. Er gebietet. Er ruft. Deshalb ist die höchste religiöse Handlung das Sch’ma. Wenn Gott spricht, hören wir zu. Wenn Er gebietet, versuchen wir zu gehorchen.

Rabbi David Cohen (1887-1972), bekannt als der Nasiräer, Schüler von Raw Kook und Vater von Rabbi Shear Yashuv Cohen, Oberrabbiner von Haifa, wies darauf hin, dass im Babylonischen Talmud sämtliche Metaphern des Verstehens nicht auf dem Sehen, sondern auf dem Hören beruhen. Ta sch’ma, „Komm und höre“. Ka maschma lan, „Es lehrt uns dies“. Sch’ma mina, „Schließe daraus“. Lo sch’mia lej, „Er hat nicht zugestimmt“. Eine traditionelle Lehre heißt Sch’mateta, „das Gehörte“. Und so weiter.[3] All dies sind Variationen des Wortes sch’ma.[4]

Das mag uns wie ein kleiner Unterschied erscheinen, aber in Wirklichkeit ist es ein sehr großer. Für die Griechen erforderte die ideale Form der Erkenntnis eine gewisse Distanz. Auf der einen Seite gibt es denjenigen, der sieht, das Subjekt, und auf der anderen Seite das, was gesehen wird, das Objekt, und sie gehören zwei verschiedenen Bereichen an. Jemand, der sich ein Gemälde, eine Skulptur, ein Theaterstück ansieht oder den Olympischen Spielen beiwohnt, ist kein aktiver Teil der Kunst, des Dramas oder des sportlichen Wettkampfs. Er hat die Rolle eines Zuschauers, nicht die eines Teilnehmers.

Sprechen und Zuhören sind nicht Ausdruck von Distanz. Es sind Formen des persönlichen Kontakts und der Beteiligung. Das hebräische Wort für Wissen, Da’at, impliziert Teilnahme, Nähe, Intimität. „Und Adam erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar“ (Gen. 4:1). Das ist Erkenntnis im hebräischen Sinn, nicht im griechischen. Wir können mit Gott in Beziehung treten, obwohl Er unendlich ist und wir endlich sind, weil wir durch Worte miteinander verbunden sind. In der Offenbarung spricht Gott zu uns. Im Gebet sprechen wir zu Gott. Will man eine Beziehung verstehen, sei es zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kind oder zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, muss man darauf achten, wie sie miteinander sprechen und einander zuhören. Alles andere ist nicht relevant.

Die Griechen haben uns die Formen des Wissens gelehrt, die auf Beobachtung und Schlussfolgerung beruhen, also Wissenschaft und Philosophie. Die ersten Wissenschaftler und Philosophen kamen aus dem Griechenland des 6. bis 4. Jahrhunderts v.u.Z.

Aber nicht alles erschließt sich durch das Sehen und den bloßen Anschein. Im ersten Buch Samuel gibt es dazu eine eindrucksvolle Geschichte. Saul, der erste König Israels, sah auch so aus, wie man sich einen König vorstellt. Er war groß. „Von den Schultern an aufwärts war er höher als alle anderen“ (I Sam 9:2; 10:23). Er war das Bild eines Königs. Aber moralisch und vom Temperament her war er alles andere als ein Führer; er war ein Mitläufer.

Dann befahl Gott Samuel, an seiner Stelle einen anderen König zu salben, und sagte ihm, es solle einer der Söhne Isais sein. Samuel ging zu Isai und war beeindruckt vom Aussehen eines seiner Söhne, Eliab. Er dachte, er müsse derjenige sein, den Gott meinte. Aber Gott sagte zu ihm: „Lass dich nicht von seinem Aussehen oder seiner Größe beeindrucken, denn ich habe ihn verworfen. Gott sieht nicht wie die Menschen. Die Menschen schauen auf das Äußere, Gott aber sieht das Herz“ (I Sam 16:7).

Die Juden und das Judentum lehrten, dass wir Gott nicht sehen können, aber wir können Ihn hören und Er hört uns. Durch das Wort – durch Sprechen und Hören – können wir eine innige Beziehung zu Gott als unserem Vater, unserem Partner, unserem Regenten, zu dem, der uns liebt und den wir lieben, aufbauen. Wir können Gott nicht wissenschaftlich darstellen, ihn nicht logisch beweisen. Diese Art Denken ist griechisch, nicht jüdisch. Ich glaube, dass aus jüdischer Sicht der Versuch, die Existenz Gottes logisch oder wissenschaftlich zu beweisen, ein falsches Unterfangen ist.[5] Gott ist nicht ein Objekt, sondern ein Subjekt. Die jüdische Art, mit Gott in Beziehung zu treten, beruht auf Intimität und Liebe, auf Ehrfurcht und Ehrerbietung.

Ein faszinierendes modernes Beispiel stammt von einem Juden, der einen Großteil seines Lebens dem Judentum entfremdet war, nämlich Sigmund Freud. Er nannte die Psychoanalyse die „Sprechkur“,[6] obwohl der Begriff „Hörkur“ zutreffender wäre. Sie beruht darauf, dass aktives Zuhören per se therapeutisch ist. Erst nach der Verbreitung der Psychoanalyse, vor allem in Amerika, fand der Satz I hear you [Ich höre dich] als Ausdruck der Empathie Eingang in den englischen Sprachgebrauch.[7]

Zuhören ist etwas zutiefst Spirituelles. Es ist die wirksamste Form der Konfliktlösung, die ich kenne. Es gibt viele Dinge, die einen Konflikt auslösen können, aber was ihn am Leben hält, ist, dass mindestens eine der Parteien das Gefühl hat, nicht gehört worden zu sein. Man hat ihr nicht zugehört. Wir haben ihren Schmerz nicht „gehört“. Es hat an Empathie gefehlt. Deshalb ist die Anwendung von Gewalt – oder auch von Boykotten – zur Lösung von Konflikten überaus kontraproduktiv. Ein Konflikt mag für eine Weile unterdrückt sein, aber er kehrt zurück, oft intensiver als zuvor. Hiob, der zu Unrecht gelitten hat, lässt sich von den Argumenten seiner Tröster nicht beeindrucken. Er besteht nicht unbedingt darauf, im Recht zu sein: Er will nur gehört werden. Es ist kein Zufall, dass die Gerechtigkeit die Regel audi alteram partem, „Man höre auch die andere Seite“, voraussetzt.

Das Zuhören ist das Herzstück einer Beziehung. Es bedeutet, dass wir dem anderen gegenüber offen sind, dass wir ihn respektieren, dass uns seine Wahrnehmungen und Gefühle wichtig sind. Wir geben ihm die Gelegenheit, ehrlich zu sein, auch wenn das bedeutet, dass wir uns dabei verletzlich machen. Gute Eltern hören ihrem Kind zu. Ein guter Arbeitgeber hört seinen Angestellten zu. Ein gutes Unternehmen hört seinen Kunden oder Klienten zu. Eine gute Führungskraft hört denjenigen zu, die sie führt. Zuhören heißt nicht, dem Gesagten in jedem Fall zuzustimmen, aber es bedeutet, dass es einem nicht gleichgültig ist. Zuhören ist das Klima, in dem Liebe und Respekt gedeihen.

Im Judentum glauben wir, dass unsere Beziehung zu Gott eine ständige Anleitung für unsere Beziehungen zu anderen Menschen ist. Wie können wir erwarten, dass Gott uns zuhört, wenn wir unserem Ehepartner, unseren Kindern oder denen, die von unserer Arbeit berührt werden, nicht zuhören? Und wie können wir erwarten, Gott zu begegnen, wenn wir nicht gelernt haben zuzuhören. Auf dem Berg Horeb lehrte Gott Elia, dass Er nicht im Wirbelwind, im Erdbeben oder im Feuer war, sondern in der Kol demama daka, der „leisen, sanften Stimme“ (I Könige 19:12), die ich als eine Stimme definiere, die man nur hören kann, wenn man zuhört.

Große Redner vermögen zwar die Massen zu bewegen, doch sind es die großen Zuhörer, die das Leben von Menschen verändern. Ob zwischen uns und Gott oder zwischen uns und anderen Menschen, Zuhören ist das Präludium zur Liebe.[8]

[1] Siehe Covenant & Conversation zu Mischpatim: Tun Hören.

[2] Siehe George Lakoff und Mark Johnson, Metaphors We Live By (University of Chicago Press, 1980).

[3] So lesen wir auf den ersten Seiten seines Werkes Kol Newua.

[4] Der Sohar verwendet freilich einen visuellen Begriff, ta chasi, „komm und sieh“. Zwischen der jüdischen Mystik und dem platonischen beziehungsweise neuplatonischen Denken besteht eine enge Verwandtschaft. Für beide ist Erkenntnis eine Form des tieferen Sehens.

[5] Tatsächlich haben viele der großen jüdischen Philosophen des Mittelalters genau das getan. Sie taten dies unter dem Einfluss des neuplatonischen und neoaristotelischen Denkens, das wiederum von den großen Philosophen des Islam vermittelt wurde. Die Ausnahme war Juda Halevi in seinem Kusari.

[6] Siehe Adam Philips, Equals (London, Faber and Faber, 2002), xii. Siehe auch Salman Akhtar, Listening to Others: Developmental and Clinical Aspects of Empathy and Attunement (Lanham, Jason Aronson, 2007).

[7] In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass es einen Unterschied zwischen Empathie und Sympathie gibt. Wenn ich sage: „Ich höre dich“, so ist dies ein Zeichen dafür, dass ich – aufrichtig oder nicht – die Gefühle des anderen zur Kenntnis nehme, aber nicht, dass ich unbedingt mit ihm oder seinen Gefühlen übereinstimme.

[8] Mehr zum Thema Zuhören siehe oben, Covenant & Conversation zu Paraschat Berejshit, „Die Kunst des Zuhörens“, und zu Paraschat Bamidbar, „Der Klang der Stille“.

  


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