Apr ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Die Plage der üblen Nachrede

Die Rabbiner haben den die Wochenabschnitte Tasria und Mezora beherrschenden Zustand der Zara’at – oft mit Aussatz übersetzt – als moralisches Problem gedeutet. Sie sagten, es handele sich eher um eine Strafe als um eine Krankheit im medizinischen Sinne. Ihre Interpretation stützte sich auf Hinweise innerhalb der Bücher Moses selbst. Moses‘ Hand wurde von Aussatz befallen, als er an der Bereitschaft des Volkes zweifelte, an seine Berufung zu glauben (Exod. 4:6-7). Miriam wurde aussätzig, als sie gegen Moses sprach (Num. 12:1-15). Der Mezora (Aussätzige) war ein Mozi Schem ra: eine Person, die abfällig über andere sprach.

Üble Nachrede, Laschon hara, wurde von den Weisen als eine der schlimmsten Sünden überhaupt angesehen. Maimonides fasst es wie folgt zusammen:

„Die Weisen sagten: Es gibt drei Übertretungen, für die ein Mensch in dieser Welt bestraft wird und er keinen Anteil an der kommenden Welt hat: Götzendienst, unerlaubter Geschlechtsverkehr und Blutvergießen. Böse Rede ist jedoch so schlimm wie alle drei zusammen. So sagten sie auch: ,Wer mit böser Zunge redet, ist wie ein Gottesleugner…‘. Üble Nachrede tötet drei Menschen – den, der sie spricht, den, der sie entgegennimmt, und den, über den sie gesprochen wird. (Hilchot De’ot 7:3)“

Ist dem wirklich so? Nehmen wir nur zwei von vielen Beispielen. Anfang des 13. Jahrhunderts brach ein erbitterter Streit zwischen Anhängern und Kritikern des Maimonides aus. Für die einen war er einer der größten jüdischen Geister aller Zeiten. Für die anderen war er ein gefährlicher Denker, dessen Werke Ketzerei enthielten und dessen Einfluss die Menschen dazu brachte, die Gebote zu verwerfen.

Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. Jede Seite verurteilte und exkommunizierte die andere. Pamphlete und Gegenpamphlete, Predigten und Gegenpredigten folgten, und für einige Zeit wurde das französische und spanische Judentum von dieser Kontroverse erschüttert. Dann, im Jahr 1232, verbrannten die Dominikaner die Bücher von Maimonides. Der Schock brachte eine kurze Atempause, doch dann schändeten Extremisten das Grab des Maimonides in Tiberius. Anfang der 1240er Jahre, nach der Disputation von Paris, verbrannten Christen alle Kopien des Talmuds, die sie finden konnten. Es war eine der großen Tragödien des Mittelalters.

Welcher Zusammenhang bestand zwischen den innerjüdischen Auseinandersetzungen und den christlichen Bücherverbrennungen? Nutzten die Dominikaner die jüdischen Häresievorwürfe gegen Maimonides, um ihre eigenen Anschuldigungen vorzubringen? Oder gelang es ihnen einfach, die innere Spaltung des Judentums für ihre eigenen Verfolgungen auszunutzen, ohne eine koordinierte jüdische Vergeltungsaktion fürchten zu müssen? Wie dem auch sei, während des gesamten Mittelalters wurden viele der schlimmsten christlichen Judenverfolgungen entweder von konvertierten Juden angezettelt, oder aber sie machten sich interne Schwächen der jüdischen Gemeinschaft zunutze.

In der Neuzeit war einer der brillantesten Vertreter der Orthodoxie der Oberrabbiner von Rumänien, Rabbi Meir Löw Ben Jechiel Michael Weiser (1809-1879), bekannt unter dem Akronym seines Namens Malbim. Als herausragender Gelehrter, dessen Kommentar zum Tanach zu den Meisterwerken des 19. Jahrhunderts zählt, wurde er zunächst von allen Gruppen der jüdischen Gemeinschaft als ein Mann großer Gelehrsamkeit und religiöser Integrität begrüßt. Bald jedoch entdeckten die „aufgeklärteren“ Juden zu ihrem Entsetzen, dass er ein starker Traditionalist war, und sie begannen, die Behörden gegen ihn aufzuhetzen. Auf Plakaten und in Pamphleten stellten sie ihn als umnachtetes Relikt des Mittelalters dar, als einen Mann, der sich dem Fortschritt und dem Zeitgeist widersetzte.

An einem Purim-Fest überreichten sie ihm ein Lebensmittelpaket mit Schweinefleisch und Krabben, versehen mit der Botschaft: „Wir, die Progressiven vor Ort, fühlen uns geehrt, unserem geistigen Leuchtturm diese Köstlichkeiten und schmackhaften Speisen von unserem Tisch zukommen zu lassen.“ Als Reaktion auf die Kampagne entzog die Regierung schließlich der jüdischen Gemeinde ihre offizielle Anerkennung und Malbim das Amt ihres Oberrabbiners und untersagte ihm, in der Großen Synagoge zu predigen. Am Freitag, dem 18. März 1864, umstellten Polizisten in den frühen Morgenstunden sein Haus, verhafteten ihn und sperrten ihn ein. Nach dem Schabbat wurde er auf ein Schiff gesetzt und zur bulgarischen Grenze gebracht, wo er unter der Bedingung freigelassen wurde, nie wieder nach Rumänien zurückzukehren. So beschreibt die Encyclopaedia Judaica die Aktion:

„M. Rosen hat verschiedene Dokumente veröffentlicht, aus denen hervorgeht, welche falschen Anschuldigungen und Verleumdungen Malbims jüdisch-assimilatorische Gegner gegen ihn an die rumänische Regierung gerichtet hatten. Sie beschuldigten ihn der Illoyalität und der Behinderung der sozialen Assimilation zwischen Juden und Nichtjuden, indem er auf der Einhaltung der Speisegesetze bestand: ,Dieser Rabbiner will durch sein Verhalten und seine Verbote unseren Fortschritt behindern.‘ Daraufhin erließ der rumänische Ministerpräsident eine Proklamation gegen den ,unwissenden und unverschämten‘ Rabbiner… In der Folge weigerte sich der Minister, den Juden von Bukarest Rechte zu gewähren, mit der Begründung, der Rabbiner der Gemeinde sei ,ein eingeschworener Feind des Fortschritts‘.“

Ähnliche Geschichten ließen sich über mehrere andere herausragende Gelehrte erzählen, darunter Rabbiner Zwi Hirsch Chajes, Rabbiner Esriel Hildesheimer, Rabbiner Jizchak Jakob Reines und sogar den verstorbenen Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik seligen Andenkens, der 1941 in Boston vor Gericht gestellt wurde, um sich einer erfundenen Anklage der dortigen jüdischen Gemeinde zu stellen. Selbst diese schändlichen Vorfälle waren nur eine Fortsetzung des bösartigen Krieges gegen die chassidische Bewegung, der von ihren Gegnern, den Mitnagdim, geführt wurde und in dessen Verlauf viele führende Persönlichkeiten der Chassidim (darunter der erste Rebbe von Chabad, Rabbi Schneur Salman von Liadi) aufgrund von Falschaussagen anderer Juden gegenüber den örtlichen Behörden inhaftiert wurden.

Für ein Volk der Geschichte sind wir mitunter erstaunlich unempfänglich für die Lehren der Geschichte. Immer wieder haben Juden, die nicht in der Lage waren, ihre eigenen Konflikte zivilisiert und würdevoll zu lösen, ihre Gegner bei den Behörden verleumdet, mit katastrophalen Folgen für die jüdische Gemeinschaft als Ganzes. Trotz der Tatsache, dass das gesamte rabbinische Judentum eine Kultur des Streits ist, und obwohl der Talmud ausdrücklich sagt, dass die Lehrmeinungen der Schule Hillels angenommen wurden, weil ihre Angehörigen „sanftmütig und bescheiden waren und neben ihren eigenen auch die Ansichten ihrer Gegner lehrten, und diese noch vor den eigenen lehrten“ (Eruwin 13b) -, ungeachtet dieser Tatsache haben Juden Glaubensbrüder, deren Ansichten sie nicht verstanden, geschmäht, denunziert und sogar exkommuniziert, selbst wenn die Objekte ihrer Verachtung (Maimonides, Malbim und die übrigen) zu den größten Verteidigern der Orthodoxie gegenüber den intellektuellen Herausforderungen ihrer Zeit gehörten.

Wessen haben sich die Ankläger schuldig gemacht? Nur der üblen Nachrede. Und was ist schließlich üble Nachrede? Bloße Worte. Aber Worte haben Folgen. Indem die selbsternannten Verteidiger des Glaubens ihre Gegner herabsetzten, werteten sie sich selbst und den jüdischen Glauben herab. So gelang es ihnen, den Eindruck zu erwecken, das Judentum sei einfältig, engstirnig, unfähig mit Komplexität umzugehen, hilflos gegenüber Herausforderungen, eine Religion des Anathemas statt des Arguments, der Exkommunikation statt der vernünftigen Debatte. Maimonides und Malbim fanden sich mit ihrem Schicksal ab. Und doch weint man, wenn man sieht, wie eine große Tradition so tief herabgewürdigt wird.

Was für eine erstaunliche Einsicht war es, den Aussatz – diese entstellende Krankheit – als Symbol und Symptom der bösen Rede zu sehen. Denn wir sind wirklich entstellt, wenn wir Worte verwenden, um zu verurteilen, anstatt zu kommunizieren; um den Geist zu verschließen, anstatt ihn zu öffnen; wenn wir die Sprache als Waffe gebrauchen und sie brutal einsetzen. Die Botschaft der Mezora bleibt. Sprachliche Gewalt ist nicht weniger grausam als körperliche Gewalt, und wer andere damit angreift, wird selbst geschlagen. Worte verletzen. Beleidigungen verwunden. Üble Nachrede zerstört Gemeinschaften. Die Sprache ist Gottes größtes Geschenk an die Menschheit, und sie muss gehütet werden, wenn sie heilen und nicht verletzen soll.

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