Jul ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Die Kraft des Warum

   In einem viel beachteten TED-Vortrag stellte Simon Sinek die Frage: Auf welche Weise inspirieren große Führungspersönlichkeiten zum Handeln?[1] Was unterschied Menschen wie Martin Luther King und Steve Jobs von ihren Zeitgenossen, die vielleicht nicht weniger begabt und qualifiziert waren? Seine Antwort: Die meisten Menschen reden über das Was. Einige reden über das Wie. Große Führungspersönlichkeiten aber beginnen mit dem Warum. Das ist es, was sie so transformativ macht.[2]

Sineks Vortrag befasste sich mit der Führung in Wirtschaft und Politik. Die eindrucksvollsten Beispiele sind jedoch direkt oder indirekt religiöser Natur. So habe ich in The Great Partnership[3] [Die große Partnerschaft] argumentiert, dass der abrahamitische Monotheismus sich durch seine Überzeugung hervorhebt, dass es eine Antwort auf die Frage nach dem Warum gibt. Weder das Universum noch das menschliche Leben sind bedeutungslos, weder ein Zufall noch ein bloßer Glücksfall. Wie Freud, Einstein und Wittgenstein sagten, ist religiöser Glaube der Glaube an die Sinnhaftigkeit des Lebens.

Selten wird dies so eindrucksvoll vor Augen geführt wie in Wa’etchanan. Im Judentum geht es viel um das Was: Was ist erlaubt, was verboten, was ist heilig, was säkular? Es geht auch viel um das Wie: Wie wir lernen, wie wir beten, wie wir durch unsere Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen wachsen. Über das Warum findet sich jedoch relativ wenig.

In Wa’etchanan sagt Moses einige der inspirierendsten Worte, die je über das Warum jüdischer Existenz gesprochen wurden. Das ist es, was ihn zu der großen transformativen Führungspersönlichkeit machte und das Konsequenzen für uns hat, hier und heute.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie seltsam doch Moses’ Worte anmuteten, müssen wir uns einige Fakten vergegenwärtigen. Die Israeliten befanden sich noch in der Wüste. Sie hatten das ihnen verheißene Land noch nicht betreten. Auch verfügten sie über keinen militärischen Vorteil gegenüber den Völkern, gegen die sie kämpfen sollten. Fast vierzig Jahre zuvor hatten zehn der zwölf Kundschafter diese Mission für unmöglich erklärt. In einer Welt der Imperien, Nationen und befestigten Städte mussten die Israeliten dem ungeübten Auge als wehrlos und unerprobt erschienen sein, als eine weitere Horde unter vielen, die in der Antike durch Asien und Afrika zogen. Abgesehen von ihren religiösen Praktiken hätten nur wenige zeitgenössische Beobachter etwas an ihnen gesehen, das sie von den Jebusitern und Perisitern, den Midianitern und Moabitern und den anderen Kleinmächten unterschieden hätte, die diese Ecke des Nahen Ostens bevölkerten.

Doch in der Parascha dieser Woche vermittelte Moses die unerschütterliche Gewissheit, dass das, was ihnen widerfahren war, letztlich die Welt verändern und inspirieren würde. Hören wir seine Worte:

„So frage nun nach den früheren Tagen, lange vor deiner Zeit, von dem Tage an, da Gott die Menschen auf Erden schuf; frage von einem Ende des Himmels bis an das andere, ob jemals etwas so Großes geschehen, oder man jemals Derartiges gehört hat? Hat ein anderes Volk die Stimme Gottes mitten aus dem Feuer sprechen hören und überlebt, wie ihr es getan habt? Hat je ein anderer Gott versucht, sich ein Volk aus einem anderen Volk zu nehmen, durch Erstaunliches, durch Zeichen und Wunder, durch Krieg, mit mächtiger Hand und ausgestrecktem Arm oder durch große und gewaltige Taten, wie all das, was der Ewige, dein Gott, in Ägypten vor deinen Augen für dich getan hat?“ (Deut. 4:32-34).

Moses war der Überzeugung, dass die jüdische Geschichte einzigartig war und es auch bleiben würde. In einem Zeitalter der Imperien war eine kleine, wehrlose Volksgemeinschaft durch eine fremde Macht, durch Gott selbst, aus dem damals größten Weltreich befreit worden. Das war Moses’ erste Aussage: die Einzigartigkeit der jüdischen Geschichte als Erlösungsgeschichte.

Sein zweiter Punkt war die Einzigartigkeit der Offenbarung:

„Welche andere Nation ist so groß, dass ihre Gottheit ihr so nahe ist wie der Ewige, unser Gott, uns nahe ist, wann immer wir zu Ihm beten? Und welches andere Volk ist so groß, dass es so gerechte Verordnungen und Satzungen hat wie dieses Gesetz, das ich euch heute vorlege?“ (Deut. 4:7-8).

Andere Völker hatten Götter, zu denen sie beteten und denen sie Opfer darbrachten. Auch sie schrieben ihre militärischen Erfolge ihren Göttern zu. Aber keine andere Nation betrachtete Gott als ihren Regenten, Gebieter und Gesetzgeber. Andernorts verkörperte das Gesetz den Erlass des Königs oder, in den letzten Jahrhunderten, den Willen des Volkes. Allein in Israel hatte der König keine gesetzgebende Autorität, auch wenn es einen königlichen Herrscher gab. Nur in Israel wurde Gott nicht nur als eine Gewalt, sondern als Architekt der Gesellschaft gesehen, als derjenige, der die Musik ihrer Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, ihrer Freiheit und Würde orchestriert.

Die Frage ist: Warum? Gegen Ende des Kapitels gibt Moses die Antwort: „Weil er deine Vorfahren geliebt und ihre Nachkommen nach ihnen erwählt hat“ (Deut. 4:37). Gott hat Abraham geliebt, nicht zuletzt, weil Abraham Gott geliebt hat. Und Gott liebte Abrahams Kinder, weil es seine Kinder waren und er dem Stammvater versprochen hatte, sie zu segnen und zu beschützen.

Zuvor hatte Moses jedoch eine Antwort anderer Art gegeben, nicht unvereinbar mit der zweiten, aber doch anders:

„Siehe, ich habe euch Satzungen und Gesetze gelehrt, wie mir der Ewige, mein Gott, geboten hat… Beachtet sie sorgfältig, denn das ist eure Weisheit und euer Verstand in den Augen der Nationen, die von all diesen Bestimmungen hören und sagen werden: ,Wahrlich, diese große Nation ist ein weises und verständiges Volk‘“ (Deut. 4:5-6).

Was kümmerte es Moses oder Gott, ob andere Völker die Gesetze Israels für weise und vernünftig hielten oder nicht? Das Judentum war und ist eine Liebesgeschichte zwischen Gott und einem bestimmten Volk, oft stürmisch, manchmal heiter, oft fröhlich, aber auch eng, intim, nach innen gekehrt. Was hat der Rest der Welt damit zu tun?

Aber auch der Rest der Welt hat durchaus etwas damit zu tun. Das Judentum war nie nur für die Juden allein gedacht. Schon in seinen ersten Worten an Abraham sagte Gott: „Wer dich segnet, den will ich segnen, und wer dich verflucht, den will ich verfluchen, und durch dich sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (Gen. 12:3). Die Juden sollten eine Quelle des Segens für die Welt sein.

Gott ist der Gott der ganzen Menschheit. In der Genesis sprach er zu Adam, Eva, Kain und Noah und schloss einen Bund mit der gesamten Menschheit, bevor er einen Bund mit Abraham schloss. In Ägypten, sei es im Haus Potiphars, im Gefängnis oder im Palast des Pharao, sprach Joseph ständig von Gott. Er wollte die Ägypter wissen lassen, dass nichts von dem, was er tut, er selbst vollbringt. Er war lediglich ein Bote des Gottes Israels. Nichts deutet hier darauf hin, dass die Völker der Welt Gott gleichgültig sind.

Später, zur Zeit von Moses, sagte Gott, dass er Zeichen und Wunder tun würde, damit „die Ägypter erkennen, dass ich Gott bin“ (Exod. 7:5). Er berief Jeremia, „ein Prophet für die Völker“ zu sein. Er sandte Jona zu den Assyrern nach Ninive. Er ließ Amos Orakel zu den anderen Völkern sprechen, bevor er ihm eine Weissagung über Israel sandte. In der vielleicht erstaunlichsten Prophezeiung des Tanach sandte er Jesaja die Botschaft, dass eine Zeit kommen wird, in der Gott die Feinde Israels segnen wird:

„Gott, der Allmächtige, wird sie segnen und sagen: ,Gesegnet sei Ägypten, mein Volk, und Assyrien, das Werk meiner Hände, und Israel, mein Erbe‘“ (Jes. 19:25).

Gott hat ein Interesse an der gesamten Menschheit. Deshalb ist das, was wir als Juden tun, für die Menschheit insgesamt von Bedeutung, und zwar nicht nur in einem mystischen Sinne, sondern als Beispiel dafür, was es heißt, Gott zu lieben und von Ihm geliebt zu werden. Andere Nationen würden auf die Juden schauen und spüren, dass in ihrer Geschichte eine größere Macht am Werk war. Wie es der verstorbene Milton Himmelfarb ausdrückte:

„Jeder Jude weiß, wie ganz und gar gewöhnlich er doch ist; aber zusammengenommen scheinen wir in große und unerklärliche Dinge verwickelt zu sein… Die Zahl der Juden in der Welt ist kleiner als ein geringfügiger statistischer Fehler in der chinesischen Volkszählung. Und doch bleiben wir größer als unsere Zahl. Große Dinge scheinen um uns herum und mit uns zu geschehen.“[4]

Wir sind nicht dazu aufgerufen, die Welt zu bekehren. Wir sind berufen, die Welt zu inspirieren. Wie der Prophet Sacharja sagt: Es wird eine Zeit kommen, in der „zehn Menschen aller Sprachen und aus allen Ländern einen Juden am Saum seines Gewandes ergreifen und sagen werden: ,Lasst uns mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist‘“ (Sach. 8:23). Unsere Berufung ist es, Botschafter Gottes in der Welt zu sein und durch unseren Lebenswandel zu bezeugen, dass es für ein kleines Volk möglich ist, unter widrigsten Umständen zu überleben und zu gedeihen, eine Gesellschaft der gesetzlich geregelten Freiheit aufzubauen, für die wir alle gemeinsam Verantwortung tragen, und mit unserem Gott „gerecht zu handeln, Barmherzigkeit zu lieben und demütig zu sein“.[5] Wa’etchanan ist das Leitbild des jüdischen Volkes.

Und andere haben sich davon inspirieren lassen, früher wie heute. Die Schlussfolgerung, die ich aus meinem Leben in der Öffentlichkeit gezogen habe, ist, dass Nichtjuden Juden respektieren, die das Judentum respektieren. Es ist für sie schwer zu verstehen, warum Juden in Ländern, in denen echte Religionsfreiheit herrscht, ihren Glauben aufgeben oder ihre Identität rein ethnisch definieren.

Ich persönlich bin der Ansicht, dass die Welt in ihrer gegenwärtigen turbulenten Situation die jüdische Botschaft braucht, dass Gott uns dazu aufruft, unserem Glauben treu zu sein und ein Segen für andere zu sein, unabhängig von ihrem Glauben. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder so denkt und handelt. Das wäre wahrlich eine veränderte Welt.

Wir sind nicht einfach eine ethnische Minderheit unter vielen. Wir sind das Volk, das seine Freiheit darauf gründet, seine Kinder zu lehren, zu lieben – und nicht zu hassen. Unser ist der Glaube, der die Ehe und die Familie geweiht hat und der von Verantwortung gesprochen hat, lange bevor er von Rechten sprach. Unser ist die Vision, die in der Linderung der Armut eine religiöse Aufgabe sieht, weil man, wie Maimonides sagte, keine erhabenen spirituellen Gedanken denken kann, wenn man hungrig oder krank oder obdachlos und allein ist.[6] Wir tun diese Dinge nicht, weil wir konservativ oder liberal, Republikaner oder Demokraten sind, sondern weil wir glauben, dass Gott es von uns will.

Heute wird viel über das Was und Wie des Judentums geschrieben, aber viel zu wenig über das Warum. Im letzten Monat seines Lebens lehrte Moses das Warum. So hat die größte aller Führungspersönlichkeiten die Menschen damals zum Handeln inspiriert, und so tut sie es bis in die Gegenwart.

Wer die Welt verändern will, frage zuerst nach dem Warum.

[1] https://www.youtube.com/watch?v=u4ZoJKF_VuA.

[2] Eine ausführlichere Darstellung finden Sie in dem auf diesem Vortrag basierenden Buch: Simon Sinek, Frag immer erst: warum: Wie Top-Firmen und Führungskräfte zum Erfolg inspirieren (München, Redline Verlag, 1. Ausgabe, 2014).

[3] Jonathan Sacks, The Great Partnership: Science, Religion, and the Search for Meaning (New York, Schocken Books, 2012).

[4] Milton Himmelfarb und Gertrude Himmelfarb, Jews and Gentiles (New York, Encounter, 2007), S. 141.

[5] Micha 6:8.

[6] Führer der Unschlüssigen, III:27.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier