Jan ‍‍2024 - תשפד / תשפה

Die Kraft des Ruach

 Im September 2010 berichteten BBC, Reuters und andere Nachrichtenagenturen über eine sensationelle wissenschaftliche Entdeckung. Forscher des US National Center for Atmospheric Research und der University of Colorado konnten in Computersimulationen zeigen, wie die Teilung des Roten Meeres stattgefunden haben könnte.

Mit ausgeklügelten Modellrechnungen zeigten sie, wie ein starker Ostwind in der Nacht das Wasser an einer Biegung zurückgedrängt haben könnte, an der vermutlich ein alter Fluss in eine Küstenlagune mündete. Das Wasser wäre in beide Wasserwege geflossen, und an der Biegung hätte sich eine Landbrücke geöffnet, die es den Menschen ermöglicht hätte, über das freigelegte Schlickwatt zu gehen. Sobald der Wind nachgelassen hätte, wäre das Wasser wieder zurückgeflossen. Der Leiter des Projekts sagte bei der Veröffentlichung des Berichts: „Die Simulationen stimmen ziemlich genau mit dem Bericht im Buch Exodus überein.“

So formuliert es der Physiker Colin Humphreys von der Universität Cambridge in seinem Buch The Miracles of Exodus [Die Wunder des Exodus]:

„Windgezeiten sind den Ozeanographen wohlbekannt. Zum Beispiel hat ein starker Wind über dem Eriesee, einem der fünf Großen Seen, gelegen zwischen Toledo (Ohio) im Westen und Buffalo (New York), im Osten einen Höhenunterschied von bis zu sechzehn Fuß verursacht… Es gibt Berichte, dass Napoleon beinahe von einer ‚plötzlichen Flut‘ getötet wurde, als er das seichte Wasser nahe der Spitze des Golfs von Suez durchquerte.“

Für mich ist jedoch das eigentliche Problem, was die biblische Erzählung tatsächlich besagt. Denn genau hier haben wir eines der faszinierendsten Merkmale der Erzählweise der Tora. Hier die Schlüsselstelle: 

„Da streckte Moses seine Hand über das Meer aus, und Gott trieb das Meer die ganze Nacht durch einen starken Ostwind zurück und verwandelte es in trockenes Land und teilte das Wasser. So zogen die Israeliten trockenen Fußes durch das Meer. Rechts und links von ihnen war das Wasser wie eine Mauer“ (Exod. 14:21-22).

Die Passage kann auf zwei Arten gelesen werden. Die erste ist, dass das, was geschah, eine Aufhebung der Naturgesetze war. Also ein übernatürliches Ereignis: Die Wasser standen buchstäblich wie zwei Mauern.

Die zweite Lesart ist, dass hier ein Wunder geschah, aber nicht, weil die Naturgesetze außer Kraft gesetzt wurden. Im Gegenteil, wie die Computersimulation zeigt, war das Sichtbarwerden von trockenem Land an einer bestimmten Stelle des Roten Meeres eine natürliche Folge des starken Ostwindes. Das Wunder bestand darin, dass es genau an dieser Stelle geschah, genau zu dem Zeitpunkt, als die Israeliten gefangen zu sein schienen, unfähig vorwärtszukommen wegen des Meeres, unfähig umzukehren wegen der ägyptischen Armee, die sie verfolgte.

Zwischen diesen beiden Interpretationen besteht ein wesentlicher Unterschied. Die erste spricht unseren Sinn für das Wunderbare an. Wie außergewöhnlich ist es doch, dass die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden, um einem Volk auf der Flucht zur Freiheit zu verhelfen. Es ist eine Geschichte, die die Phantasie eines Kindes anspricht.

Aber die naturalistische Erklärung ist auf einer ganz anderen Ebene wundersam. Hier greift die Tora zum Mittel der Ironie. Was die Ägypter zur Zeit des Ramses schier unbezwingbar sein ließ, war die Tatsache, dass sie die neueste und mächtigste Form der Militärtechnik besaßen, den von Pferden gezogenen Streitwagen. Damit waren sie im Kampf unschlagbar und gefürchtet.

Was sich am Meer abspielt, ist ausgleichende Gerechtigkeit der feinsten Art. Es gibt nur einen einzigen Fall, in dem eine Gruppe von Menschen, die zu Fuß unterwegs ist, einer gut ausgebildeten Armee von Wagenlenkern entkommen kann, wenn nämlich der Weg über einen schlammigen Meeresgrund führt. Die Menschen können zu Fuß gehen, aber die Räder der Streitwagen bleiben im Schlamm stecken. Die ägyptische Armee kann weder vorrücken noch sich zurückziehen. Der Wind lässt nach. Das Wasser kehrt zurück. Die Mächtigen sind nun ohnmächtig, während die Machtlosen ihren Weg in die Freiheit gefunden haben.

Diese zweite Erzählung hat eine moralische Tiefe, die wir in der ersten nicht finden, und sie steht im Einklang mit der Botschaft des Buches der Psalmen: 

„Seine Freude gilt nicht der Stärke des Pferdes,

noch Seine Wonne den Beinen des Kriegers;

Gott hat Wohlgefallen an denen, die Ihn fürchten,

die ihre Hoffnung auf Seine Liebe setzen“ (Psalm 147:10-11).

In Bereschit Raba wird angedeutet, dass die Teilung des Meeres sozusagen von Anfang an in der Schöpfung einprogrammiert war. Es handelte sich weniger um eine Aufhebung der Natur als vielmehr um ein Ereignis, das von Anfang an in der Natur angelegt war, um im Laufe der Geschichte zu einem geeigneten Zeitpunkt ausgelöst zu werden.

Rabbi Jonatan sagte: „Der Heilige, gelobt sei Er, stellte dem Meer [am Anfang der Schöpfung] die Bedingung, sich für die Israeliten zu spalten. Das ist die Bedeutung von ,das Meer kehrte zu seinem vollen Strom zurück‘ – [man lese nicht Le’etano, sondern Letenao], ,zu der Bedingung‘, die Gott zuvor gemacht hatte‘“ (Bereschit Raba 5:5).

Ein Wunder ist nicht unbedingt etwas, das die Naturgesetze außer Kraft setzt. Es ist vielmehr ein Ereignis, für das es vielleicht eine natürliche Erklärung gibt, das aber in der Art und Weise, wann, wo und wie es geschehen ist, ein solches Staunen hervorruft, dass selbst der hartnäckigste Skeptiker spürt, dass Gott in die Geschichte eingegriffen hat. Die Schwachen werden gerettet, die Bedrohten befreit. Noch wichtiger ist die moralische Botschaft, die von einem solchen Ereignis ausgeht: dass die Hybris von der Nemesis bestraft wird; dass die Stolzen gedemütigt und die Erniedrigten mit Stolz erfüllt werden; dass es in der Geschichte Gerechtigkeit gibt, die oft verborgen ist, aber manchmal auf glorreiche Weise offenbar wird.

Die Eleganz und Einfachheit, mit der die Teilung des Roten Meeres in der Tora beschrieben wird, so dass sie auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen gelesen werden kann, einerseits als übernatürliches Wunder, andererseits als moralische Erzählung über die Grenzen der Technologie, wenn es um die wahre Stärke von Nationen geht – das ist für mich das Bemerkenswerteste. Es ist ein Text, der bewusst so geschrieben wurde, dass sich unser Verständnis von ihm vertiefen kann, wenn wir reifer werden und uns nicht mehr so sehr für die Mechanik von Wundern interessieren, sondern mehr dafür, wie Freiheit gewonnen oder verloren wird.

Um es ganz deutlich zu sagen: Es ist gut zu wissen, wie sich die Teilung des Meeres ereignet hat, aber die biblische Geschichte hat eine Tiefe, die niemals durch Computersimulationen oder andere historische oder wissenschaftliche Beweise ausgeschöpft werden kann, sondern vielmehr von der Sensibilität für ihre bewusste und subtile Mehrdeutigkeit abhängt.

So wie der Ruach, der physische Wind, das Wasser teilen und das Land darunter freilegen kann, so kann der Ruach, der menschliche Geist, unter der Oberfläche einer Geschichte einen tieferen Sinn enthüllen.

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