Jul ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Die Komplexität der Menschenrechte

   Das Buch Numeri kommt zu einem in der Tat sehr merkwürdigen Schluss. Im Wochenabschnitt Pinchas haben wir gelesen, wie die fünf Töchter Zelofhads zu Moses kamen und eine Forderung stellten, die auf Gerechtigkeit und Menschenrechten beruhte.[1] Ihr Vater war ohne Söhne gestorben. Die Erbfolge – in diesem Fall ein Anteil am Land – erfolgt über die männliche Linie, doch gab es hier keine männlichen Nachkommen. Ihr Vater hatte doch gewiss Anspruch auf seinen Anteil am Land, und sie waren seine einzigen Erben. Von Rechts wegen müsse dieser Anteil also an sie fallen:

„Warum sollte der Name unseres Vaters seiner Familie verloren gehen, nur weil er keinen Sohn hatte? Gebt uns einen Anteil am Land mit den Brüdern unseres Vaters” (Num. 27:4).

Moses hatte keine Anweisungen für eine derartige Situation erhalten, also fragte er Gott direkt. Gott entschied zugunsten der Frauen. „Was die Töchter Zelofhads sagen, ist richtig. Du sollst ihnen einen erblichen Anteil am Land geben, zusammen mit der Verwandtschaft ihres Vaters. Übertrage ihnen den Anteil ihres Vaters“ (Num. 27:7). Er gab Moses weitere Anweisungen über die Verteilung des Erbes, und dann geht die Erzählung zu anderen Dingen über.

Erst jetzt, ganz am Ende des Buches, berichtet die Tora von einer Begebenheit, die sich unmittelbar aus diesem Fall ergab. Die Oberhäupter von Zelofhads Stamm, Menasse, der Sohn Josefs, kamen und brachten folgende Klage vor. Wenn das Land an die Töchter Zelofhads übergehe und diese dann Männer aus einem anderen Stamm heirateten, würde das Land schließlich an ihre Ehemänner und damit an deren Stämme übergehen. So könnte das Land, das ursprünglich dem Stamm Menasse zugesprochen worden war, für immer verloren gehen.

Wieder wandte sich Moses an Gott, der ihm eine einfache Lösung anbot. Die Töchter Zelofhads hatten zwar Anspruch auf das Land, aber ebenso ihr Stamm. Wenn sie also das Land in Besitz nehmen wollten, müssten sie Männer aus ihrem eigenen Stamm heiraten. So konnten beide Ansprüche gewahrt werden. Die Töchter verloren zwar nicht ihren Anspruch auf das Land, aber sie verloren eine gewisse Freiheit bei der Wahl ihres Ehemannes.

Die beiden Passagen stehen in einem engem Zusammenhang. Sie verwenden die gleiche Terminologie. Sowohl die Töchter Zelofhads als auch die Sippenoberhäupter „treten heran“. Sie verwenden das selbe Verb, um ihren möglichen Verlust zu beschreiben: jigara, „benachteiligt, geschmälert“. Gott antwortet in beiden Fällen mit dem gleichen Ausdruck: kendowrot/dowrim, „sie sprechen völlig richtig“.[2] Warum sind dann die beiden Begebenheiten im Text getrennt? Warum endet das Buch Numeri auf dieser scheinbar antiklimaktischen Schlußnote? Und hat dies auch heute noch irgendeine Bedeutung?

Numeri ist ein Buch über Menschen. Es beginnt mit einer Volkszählung, bei der es nicht so sehr darum geht, die tatsächliche Zahl der Israeliten zu ermitteln, sondern vielmehr darum, ihre „Köpfe zu erheben“ – ein ungewöhnlicher Ausdruck, mit dem die Tora die Idee vermittelt, dass Gott eine Volkszählung anordnet, um dem Volk zu signalisieren, dass jeder Einzelne zählt. Und so konzentriert sich das Buch auch auf die Psychologie des Individuums. Wir lesen von Moses’ Verzweiflung, von Aarons und Miriams Kritik an ihm, von den Kundschaftern, die nicht den Mut haben, mit einem positiven Bericht zurückzukehren, und von den Unzufriedenen, angeführt von Korach, die Moses’ Führung in Frage stellen. Wir lesen von Josua und Kaleb, Eldad und Medad, Datan und Awiram, Simri und Pinchas, Balak und Bileam und anderen. Diese Betonung des Individuums gipfelt in Moses’ Gebet an den „Gott des Geistes in jedem Leibe“ (Num. 24:16), er möge einen Nachfolger ernennen – was von den Weisen und Raschi so verstanden wird, dass er einen Führer bestimmen möge, der jeden Einzelnen als Individuum behandelt, der die Menschen in ihrer Individualität und Einzigartigkeit anspricht.

Dies ist der Kontext der Forderung der Töchter Zelofhads. Sie forderten ihre Rechte als Individuen ein. Und das zu Recht. Wie viele Kommentatoren betonen, war das Verhalten der Frauen während der Jahre in der Wüste geradezu vorbildlich, während das der Männer das Gegenteil war. Es waren die Männer, nicht die Frauen, die Gold für das goldene Kalb gaben. Die Kundschafter waren Männer: Ein berühmter Kommentar des Keli Jakar (R. Schlomo Ephraim Luntschitz, 1550 – 1619) legt nahe, dass, hätte Moses stattdessen Frauen ausgesandt, diese mit einem positiven Bericht zurückgekehrt wären.[3] Indem Gott die Rechtmäßigkeit ihres Anliegens anerkannte, bestätigte Er ihre Rechte als Individuen.

Aber eine Gesellschaft besteht nicht nur aus Individuen. Wie das Buch der Richter deutlich macht, ist Individualismus ein anderes Wort für Chaos: „In jenen Tagen gab es keinen König in Israel; jeder tat, was er für richtig hielt.“ Daher wird in Numeri auch die zentrale Rolle der Stämme als Organisationsprinzip jüdischen Lebens hervorgehoben. Die Israeliten wurden Stamm für Stamm gezählt. Die Tora gibt die genaue Anordnung des Lagers um den Mischkan und die Reihenfolge, in der sie zu reisen hatten, vor. In Paraschat Nasso beschreibt die Tora in ungewöhnlicher Länge die Gaben der einzelnen Stämme bei der Einweihung des Mischkan, obwohl jeder Stamm genau dasselbe gab. Die Stämme waren für die Struktur Israels als Gesellschaft nicht zufällig. Wie die Vereinigten Staaten von Amerika, deren grundlegende politische Struktur die einer Föderation von (ursprünglich dreizehn, heute fünfzig) Staaten ist, war Israel (bis zur Einsetzung eines Königs) eine Föderation von Stämmen.

Die Existenz von so etwas wie Stämmen ist für eine freie Gesellschaft von grundlegender Bedeutung.[4] Der heutige Staat Israel setzt sich aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen – Aschkenasen, Sepharden, Juden aus Ost-, Mittel- und Westeuropa, aus Spanien und Portugal, aus arabischen Ländern, aus Russland und Äthiopien, aus Amerika, Südafrika, Australien und von anderswo, die einen chassidisch, die anderen jeschiwisch, die einen „modern“, die anderen „traditionell“, wieder andere säkular und kulturell.

Jeder von uns hat eine Vielzahl von Identitäten, die zum Teil auf dem familiären Hintergrund, dem Beruf, dem Wohnort oder der Gemeinschaft beruhen. In diesen „vermittelnden Strukturen“, die größer sind als das Individuum, aber kleiner als der Staat, entwickeln wir unsere komplexen, regen von Angesicht zu Angesicht geführten Begegnungen und Identitäten. Sie sind die Domäne der Familie, der Freunde, der Nachbarn und der Kollegen, und sie bilden das, was wir kollektiv als Zivilgesellschaft bezeichnen. Eine starke Zivilgesellschaft ist eine wesentliche Voraussetzung für Freiheit.[5]

Deshalb muss eine Gesellschaft neben den individuellen Rechten auch Raum für Gruppenidentitäten schaffen. Das klassische Beispiel für das Gegenteil ist die Französische Revolution. Graf Stanislas de Clermont-Tonnerre gab 1789 in der Debatte der ersten französischen Nationalversammlung seine berühmte Erklärung ab: „Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen aber ist alles zu gewähren.“ Wenn sie darauf bestünden, sich als Nation zu definieren, also als eine eigene Untergruppe innerhalb der Republik, so der Graf, „werden wir gezwungen sein, sie zu vertreiben“.

Das klang zunächst ganz vernünftig. Im neuen säkularen Nationalstaat wurden den Juden Bürgerrechte gewährt. Allerdings war es alles andere als das. Es bedeutete, dass von den Juden verlangt wurde, ihre Identität als Juden im öffentlichen Raum aufzugeben. Nichts – weder religiöse noch ethnische Identität – sollte zwischen dem Einzelnen und dem Staat stehen. Es ist kein Zufall, dass Frankreich ein Jahrhundert später zu einem der Epizentren des europäischen Antisemitismus werden sollte, beginnend mit Édouard Drumonts bösartigem La France Juive (1886) und gipfelnd im Dreyfus-Prozess. Als Theodor Herzl die Pariser Menge Mort aux Juifs, „Tod den Juden“, rufen hörte, wurde ihm klar, dass die Juden trotz aller gegenteiligen Beteuerungen noch immer nicht als Bürger Europas akzeptiert waren. In einem Europa, das von sich behauptete, alle Stämme abgeschafft zu haben, sahen sich die Juden einem Stamm ähnlich behandelt. Die europäische Emanzipation erkannte individuelle Rechte an, aber keine kollektiven.

Der Primatenforscher Frans de Waal, über dessen Arbeit mit Schimpansen wir in der diesjährigen Ausgabe von Covenant & Conversation zum Wochenabschnitt Korach berichtet haben, bringt es auf den Punkt. Beinahe die gesamte moderne westliche Kultur, sagt er, sei auf der Vorstellung von autonomen, selbstbestimmten Individuen aufgebaut. Doch das entspricht nicht unserem Wesen. Wir sind Menschen mit starken Bindungen an Familie, Freunde, Nachbarn, Verbündete, Glaubensgenossen und Menschen der gleichen Ethnie. Er fährt fort:

„Eine Moral, die sich ausschließlich mit den Rechten des Einzelnen befasst, neigt dazu, die Bindungen, Bedürfnisse und gegenseitigen Abhängigkeiten zu ignorieren, die unsere Existenz von Anfang an geprägt haben. Es ist eine kalte Moral, die Distanz zwischen den Menschen schafft und jedem seinen eigenen kleinen Winkel im Universum zuweist. Wie diese Karikatur einer Gesellschaft in den Köpfen großer Denker entstehen konnte, bleibt ein Rätsel.“[6]

Genau das meint die Tora, wenn sie die Geschichte der Töchter Zelofhads in zwei Teile aufteilt. Im ersten Teil, in Paraschat Pinchas, geht es um individuelle Rechte, um das Recht der Töchter Zelofhads auf einen Anteil am Land. Im zweiten Teil, am Ende des Buches, geht es um das Recht von Gruppen, in diesem Fall um das Recht des Stammes Menasse auf sein Gebiet. Die Tora spricht sich für beides aus, weil beides für eine freie Gesellschaft unverzichtbar ist.

Viele der scheinbar unlösbaren Probleme im heutigen jüdischen Leben sind entstanden, weil Juden, vor allem im Westen, an eine Kultur gewöhnt sind, in der die Rechte des Individuums über allen anderen stehen. Wir sollten frei sein zu leben, wie wir wollen, zu beten, wie wir wollen, uns zu identifizieren, wie wir es wollen. Aber eine Kultur, die nur auf individuellen Rechten basiert, untergräbt Familien, Gemeinschaften, Traditionen, Loyalitäten und gemeinschaftliche Regeln der Ehrfurcht und Zurückhaltung.

Obwohl das Judentum den Wert des Individuums so sehr betont, besteht es ebenso auf dem Wert jener Institutionen, die unsere Identitäten als Mitglieder der Gruppen, die sie bilden, bewahren und schützen. Wir haben Rechte als Individuen, aber Identitäten nur als Mitglieder von Stämmen. Beiden gerecht zu werden, ist heikel, schwierig und notwendig. Das Buch Numeri endet mit der Anleitung, wie dies zu verwirklichen ist.

[1] Der Begriff „Rechte“ ist hier natürlich ein Anachronismus. Das Konzept wurde erst im siebzehnten Jahrhundert geboren. Dennoch ist es nicht ganz abwegig zu sagen, dass dies in der Forderung der Töchter mitschwingt: „Warum sollte der Name unseres Vaters benachteiligt werden?“

[2] Diese beiden Bibelstellen könnten durchaus die Grundlage für die Geschichte vom Rabbi geliefert haben, der sich beide Seiten eines Ehestreits anhört und sowohl zum Ehemann als auch zur Ehefrau sagt: „Du hast Recht.“ Als der Schüler des Rabbiners diesen fragt: „Wie aber können sie beide Recht haben“, antwortet ihm der Rabbi: „Auch du hast Recht.“

[3] Keli Jakar zu Numeri 13:2

[4] Siehe zuletzt Sebastian Junger: Tribe: On Homecoming and Belonging (Fourth Estate, 2016).

[5] Edmond Burke und Alexis de Tocqueville haben dieses Argument am überzeugendsten dargelegt.

[6] Frans de Waal, Good Natured (Harvard University Press, 1996), S.167.

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