Aug ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Die Grenzen der Liebe

   In dieser mit Gesetzen beladenen Parascha ist eines besonders faszinierend. Hier ist es:

„Wenn ein Mann zwei Frauen hat, eine, die er liebt, und eine, die er nicht liebt [s’nua, wörtlich: „verhasst“], und beide gebären ihm Söhne, die geliebte und die nicht geliebte, der Erstgeborene aber ist der Sohn der nicht geliebten Frau, dann darf er, wenn er sein Vermögen an seine Söhne vererbt, nicht dem Sohn der geliebten Frau das Erstgeburtsrecht geben statt seinem eigentlichen Erstgeborenen, dem Sohn der nicht geliebten Frau. Er muss die (rechtlichen Ansprüche des) Erstgeborenen seiner ungeliebten Frau anerkennen und ihm den doppelten Anteil an allem geben, denn er ist der Erstling aus der Stärke seines Vaters. Ihm gebührt das Erstgeburtsrecht“ (Deut. 21:15-17).

Das Gesetz ist äußerst sinnvoll. Im biblischen Israel hatte der Erstgeborene Anspruch auf den doppelten Anteil am Erbe seines Vaters.[1] Das Gesetz sagt uns, dass dies nicht im Ermessen des Vaters liegt. Er kann dieses Privileg nicht von einem Sohn auf einen anderen übertragen, insbesondere nicht, indem er den Sohn der Frau bevorzugt, die er am meisten liebt, wenn der Erstgeborene in Wirklichkeit von einer anderen Frau stammt.

Die drei einleitenden Gesetze – über eine im Krieg gefangen genommene Frau, das oben zitierte Gesetz über die Rechte des Erstgeborenen und über den „widerspenstigen und aufsässigen Sohn“ – behandeln allesamt Störungen innerhalb der Familie. Die Weisen sagten, dass die Gesetze präzis in dieser Reihenfolge gegeben wurden, um anzudeuten, dass jemand, der eine Frau in Gefangenschaft nimmt, unter häuslichen Konflikten leiden wird und das Ergebnis ein straffälliger Sohn sein wird.[2] Im Judentum gilt die Ehe als Grundlage der Gesellschaft. Unordnung dort führt zu Unordnung anderswo. So weit, so klar.

Das Außergewöhnliche daran ist, dass dies scheinbar in krassem Widerspruch zu einer zentralen Erzählung der Tora steht, nämlich der von Jakob und seinen beiden Frauen Lea und Rachel. Tatsächlich stellt die Tora durch ihre Wortwahl eindeutige Verbindungen zwischen den beiden Abschnitten her. Eine davon ist die gegensätzliche Paarung ahuwa/s’nua, „geliebt“ und „ungeliebt/verhasst“. Genau so beschreibt die Tora auch Rachel und Lea.

Rufen wir uns den Kontext in Erinnerung. Jakob flieht aus seinem Elternhaus zu seinem Onkel Laban, verliebt sich auf den ersten Blick in dessen Tochter Rachel und will sie heiraten. Laban willigt ein, doch müsse Jakob zuvor sieben Jahre lang bei ihm Dienste leisten. In der Hochzeitsnacht aber vertauscht Laban Rachel mit seiner älteren Tochter Lea. Als Jakob sich beschwert: „Warum hast du mich betrogen?“, antwortet Laban mit gewollter Ironie: „Bei uns ist es nicht üblich, die Jüngere vor der Älteren zu geben.“[3] Daraufhin ist Jakob bereit, weitere sieben Jahre bei Laban als Gegenleistung für Rachel zu arbeiten. Die zweite Hochzeit findet nur eine Woche nach der ersten statt. Dann lesen wir:

„Und [Jakob] kam auch zu Rachel, und er liebte Rachel mehr als Lea… Als Gott sah, dass Lea nicht geliebt [s’nua] wurde, öffnete Er ihren Schoß, Rachel aber blieb unfruchtbar“ (Gen. 29:30-31).

Lea nannte ihren Erstgeborenen Ruben, aber ihr Schmerz, weniger geliebt zu werden, blieb, und wir lesen von der Geburt ihres zweiten Sohnes:

„Sie wurde abermals schwanger und gebar einen Sohn. ,Weil Gott gehört hat, dass ich nicht geliebt [s’nua] werde‘, sagte sie, ,hat Er mir auch diesen Sohn geschenkt‘. Sie nannte das Kind Simon“ (Gen. 29:33).

Das Wort s’nua kommt in der Tora nur sechsmal vor, zweimal im oben genannten Abschnitt über Lea und viermal in unserer Parascha im Zusammenhang mit dem Gesetz über die Rechte der Erstgeborenen.

Es gibt einen noch stärkeren Zusammenhang. Die ungewöhnliche Formulierung „Erstling der Stärke [des Vaters]“ taucht in der ganzen Tora nur zweimal auf: Einmal hier in Ki Teze (21:17) „denn er ist der Erstling aus der Stärke seines Vaters“, und dann in Bezug auf Ruben, den Erstgeborenen Leas:

„Ruben, du bist mein Erstgeborener, meine Kraft und der Erstling aus meiner Stärke, der Erste an Rang und der Erste an Macht“ (Gen. 49:3).

Aufgrund dieser inhaltlichen und sprachlichen Parallelen kann der aufmerksame Leser nicht umhin, in dem Gesetz unserer Parascha einen rückblickenden Kommentar zum Verhalten Jakobs gegenüber seinen eigenen Söhnen zu hören. Und doch scheint dieses Verhalten genau das Gegenteil dessen gewesen zu sein, was hier gesetzlich geregelt wird. Jakob übertrug das Erstgeburtsrecht von Ruben, seinem eigentlichen Erstgeborenen, dem Sohn der weniger geliebten Lea, auf Josef, den Erstgeborenen seiner geliebten Rachel. Das ist es, was er zu Josef sagte:

„Die beiden Söhne, die dir in Ägypten geboren wurden, bevor ich hierher kam, sollen als meine gelten. Efraim und Manasse sollen mir wie Ruben und Simon sein“ (Gen. 48:5).

Ruben hätte den doppelten Anteil erhalten sollen, stattdessen ging er an Josef. Jakob erkannte jedem der beiden Söhne Josefs einen vollen Anteil am Erbe zu. So wurden Efraim und Menasse jeweils zu einem eigenen Stamm. Mit anderen Worten: Es scheint einen klaren Widerspruch zwischen Deuteronomium und Genesis zu geben.

Wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Möglicherweise ist das rabbinische Prinzip, dass die Patriarchen die gesamte Tora bereits befolgt haben, bevor sie gegeben wurde, nicht auf jedes Detail anwendbar. Nicht jedes Gesetz war vor und nach dem Bund am Sinai genau dasselbe. Zum Beispiel stellt Ramban fest, dass die Geschichte von Juda und Tamar eine etwas andere Form der Schwagerehe zu beschreiben scheint als die im Deuteronomium vorgeschriebene.[4]

Allerdings ist dies nicht der einzige offensichtliche Widerspruch zwischen dem Buch Genesis und dem späteren Recht. Es gibt noch andere Widersprüche, nicht zuletzt die Tatsache, dass Jakob zwei Schwestern heiratete, was nach Levitikus 18:18 kategorisch verboten ist. Rambans Antwort – eine elegante Lösung, die sich aus seiner radikalen Sicht der Verbindung zwischen dem jüdischen Gesetz und dem Land Israel ergibt – lautet, dass die Patriarchen die Tora nur befolgten, als sie in Israel lebten.[5] Jakob aber heiratete Lea und Rachel außerhalb Israels, im Hause Labans in Haran (in der heutigen Türkei).

Eine ganz andere Erklärung gibt Abarbanel. Er unterbreitet das Argument, dass Jakob den doppelten Anteil von Ruben auf Josef übertragen habe, weil Gott es ihm befohlen hatte. Daher wird das Gesetz in Ki Teze dargelegt, um klarzustellen, dass der Fall Josefs eine Ausnahme war und nicht als Präzedenzfall zu verstehen ist.

Obadja Sforno hingegen ist der Ansicht, dass das Verbot in Ki Teze nur dann gelte, wenn die Übertragung der Rechte des Erstgeborenen aus dem Grunde erfolgt, dass der Vater einer Frau den Vorzug vor einer anderen gibt. Es gelte jedoch nicht, wenn sich der Erstgeborene einer Sünde schuldig gemacht habe, die es rechtfertigen würde, ihm sein rechtliches Privileg abzuerkennen. Das meinte Jakob, als er auf seinem Sterbebett zu Ruben sagte: „Unbeständig wie Wasser sollst du nicht mehr der Erste sein, denn du hast deines Vaters Bett, mein Lager, bestiegen und es verunreinigt“ (Gen. 49:4). In der Chronik heißt es ausdrücklich: „Ruben… war der Erstgeborene, doch als er das Ehebett seines Vaters entweihte, wurden seine Erstgeburtsrechte den Söhnen Josefs, des Sohnes Israels, übertragen“ (I Chronik 5:1).

Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es auch eine ganz andere Erklärung gibt. Die Tora zeichnet sich dadurch aus, dass sie sowohl ein Buch des Gesetzes (die primäre Bedeutung von „Tora“) als auch ein Buch der Geschichte ist. Andernorts betrachtet man beides als völlig unterschiedliche Kategorien. Auf der einen Seite gibt es das Gesetz, die Antwort auf die Frage: „Was dürfen wir tun und was nicht?“ Und auf der anderen Seite gibt es eine Geschichte, die Antwort auf die Frage: „Was hat sich ereignet?“ Und zwischen diesen beiden Gattungen besteht keine offensichtliche Beziehung.

Nicht so im Judentum. In vielen Fällen, vor allem im Mischpat, dem Zivilrecht, gibt es eine Verbindung zwischen dem Gesetz und der Geschichte, zwischen dem, was sich ereignet hat, und dem, was wir tun oder nicht tun sollten.[6] Ein großer Teil des biblischen Rechts geht zum Beispiel direkt auf die Erfahrungen der Israeliten in der Sklaverei in Ägypten zurück, als ob damit gesagt werden sollte: Das haben unsere Vorfahren in Ägypten erlitten, also handle nicht ebenso. Unterdrücke deine Arbeiter nicht. Mache keinen Israeliten zum lebenslangen Sklaven. Lass deine Bediensteten und Angestellten nicht ohne einen wöchentlichen Ruhetag. Und so weiter.

Nicht das ganze biblische Recht ist so, aber ein Teil davon doch. Es verkörpert aus Erfahrung gelernte Wahrheit, durch die Lehren der Geschichte Gestalt annehmende Gerechtigkeit. Die Tora nimmt die Vergangenheit als Wegweiser für die Zukunft: oft positiv, manchmal aber auch negativ. Die Genesis erzählt uns unter anderem, dass Jakobs Bevorzugung von Rachel gegenüber Lea und von Rachels Erstgeborenem, Josef, gegenüber Leas Erstgeborenem, Ruben, ein Grund für anhaltende Konflikte innerhalb der Familie war. Sie brachte die Brüder fast dazu, Josef zu töten, und sie führte schließlich dazu, dass sie ihn in die Sklaverei verkauften. Ibn Esra zufolge dauerte der Groll der Nachkommen Rubens über mehrere Generationen an und war der Grund dafür, dass Datan und Awiram, beide Rubeniten, zu Schlüsselfiguren in der Rebellion Korachs wurden.[7]

Jakobs Handeln war Ausdruck seiner Liebe. Seine Gefühle für Rachel waren überwältigend, ebenso wie die für Josef, ihren älteren Sohn. Liebe ist ein zentrales Element des Judentums: nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kind, sondern auch die Liebe zu Gott, zum Nächsten und zum Fremden. Aber Liebe allein genügt nicht. Es muss auch Gerechtigkeit und eine unparteiische Anwendung des Rechts geben. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass das Gesetz sich auf Seiten der Fairness befindet. Eine Gesellschaft kann nicht allein auf Liebe aufgebaut werden. Liebe verbindet, aber sie trennt auch. Sie gibt den weniger Geliebten das Gefühl, verlassen, vernachlässigt, missachtet, „gehasst“ zu werden. Sie kann Zwietracht, Neid und einen Strudel der Gewalt und Rache hervorrufen.

Genau das will uns die Tora sagen, wenn sie das Gesetz in unserer Parascha durch eine verbale Assoziation mit der Geschichte von Jakob und seinen Söhnen in der Genesis verbindet. Sie lehrt uns, dass das Gesetz nicht willkürlich ist. Es wurzelt in der Erfahrung der Geschichte. Das Gesetz selbst ist ein Tikun, ein Weg, um das wiedergutzumachen, was in der Vergangenheit falsch gelaufen ist. Wir müssen lernen zu lieben, aber wir müssen auch die Grenzen der Liebe kennen und wissen, wie wichtig Gerechtigkeit als Fairness ist, sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft.

[1] Dies wird bereits in der Geschichte von Jakob, Ruben und Josef angedeutet (siehe unten). Die Weisen leiteten es auch aus der Begebenheit mit den Töchtern Zelofhads ab; siehe Numeri 27:7; Baba Batra 118b. 

[2] Sanhedrin 107a. 

[3] Genesis 29:25-26. Eine Anspielung auf Jakob, der Esaus Erstgeburtsrecht kaufte und an seiner Statt den väterlichen Segen nahm. 

[4] Siehe Ramban zu Gen. 38:8. 

[5] Ramban zu Gen. 26:5.

[6] Dies ist das Thema eines berühmten Aufsatzes von Robert Cover, Nomos and Narrative im Harvard Law Review 1983-1984, abrufbar unter http://digitalcommons.law.yale.edu/

cgi/viewcontent.cgi?article=3690&context=fss_papers. Cover vertrat die Ansicht, dass „kein System von Rechtsinstitutionen oder Vorschriften ohne die Erzählungen existiert, die es verorten und ihm Bedeutung verleihen. Für jede Verfassung gibt es ein Epos, für jeden Dekalog eine Schrift“. [7] Ibn Esra zu Num. 16:1.