Jan ‍‍2024 - תשפד / תשפה

Die Geburtsstunde der Geschichte

   Der Wochenabschnitt Wa’era beginnt mit ein paar schicksalsträchtigen Worten. Zu sagen, dass sie den Lauf der Geschichte verändert haben, ist keine Übertreibung, denn sie haben die Art und Weise verändert, wie Menschen über Geschichte denken. Ja, sie haben die Idee der Geschichte selbst hervorgebracht. Hören wir diese Worte:

„Da redete Gott mit Moses und sprach zu ihm: ,Ich bin Haschem. Ich bin Abraham, Isaak und Jakob als E-l Schaddaj erschienen, aber mit Meinem Namen Haschem habe Ich Mich ihnen nicht vollständig zu erkennen gegeben‘“ (Exod. 6:2-3).

Was genau bedeutet das? Wie Raschi betont, heißt es nicht, dass Abraham, Isaak und Jakob, Sara, Rebekka, Rachel und Lea Gott nicht unter dem Namen Haschem kannten. Im Gegenteil: Gottes erste Worte an Abraham, „Verlass dein Land, deinen Geburtsort und deines Vaters Haus“, wurden mit dem Namen Haschem ausgesprochen.

Nur wenige Verse später heißt es sogar (Gen. 12:7): Wajera Haschem el Awram: „Haschem erschien Abram und sprach: ,Deinen Nachkommen werde ich dieses Land geben.‘“ Gott war Abraham also als Haschem erschienen. Und gleich im nächsten Vers heißt es, dass Awram einen Altar baute und „den Namen Haschem anrief“ (Gen. 12:8). Abraham selbst kannte also den Namen und hat ihn auch benutzt.

Aber aus dem, was Gott zu Moses sagt, geht klar hervor, dass etwas Neues geschehen wird, eine göttliche Offenbarung, wie es sie noch nie zuvor gegeben hat, etwas, das noch nie jemand gesehen hat, nicht einmal die Menschen, die Gott am nächsten waren. Was war dies?

Die Antwort lautet: Gott begegnet uns durch Bereschit hinweg als Gott der Schöpfung, als Gott der Natur, als jener Aspekt Gottes, den wir – mit unterschiedlichen Nuancen, aber in der gleichen allgemeinen Bedeutung – Elokim oder E-l Schaddaj oder auch Kone Schamajim Wa’aretz nennen, Schöpfer des Himmels und der Erde.

In gewisser Weise war dieser Aspekt Gottes in der antiken Welt allen bekannt. Nur sahen sie die Natur nicht als das Werk eines, sondern vieler Götter: des Sonnengottes, des Regengottes, der Göttinnen des Meeres und der Erde, des riesigen Pantheons von Kräften, die für Ernten, Fruchtbarkeit, Stürme, Dürren und so weiter verantwortlich sein sollten.

Zwischen den Göttern des Polytheismus und des Mythos und dem einen Gott Abrahams gab es zwar tiefgreifende Unterschiede, aber sie bewegten sich sozusagen auf dem gleichen Terrain, dem gleichen Spielfeld.

Der Aspekt Gottes, der in den Tagen von Moses und den Israeliten in Erscheinung tritt, ist radikal anders, und nur weil wir so sehr an die Geschichte gewöhnt sind, fällt es uns schwer zu erkennen, wie radikal dies war.

Zum ersten Mal in der Geschichte war Gott dabei, in die Geschichte einzugreifen, nicht durch Naturkatastrophen wie die Sintflut, sondern durch direkte Interaktion mit den Menschen, die die Geschichte gestalten. Gott war im Begriff, als die Kraft aufzutreten, die das Schicksal der Völker bestimmt. Er war im Begriff, etwas zu tun, wovon noch nie jemand gehört hatte: ein ganzes Volk aus der Sklaverei und Knechtschaft zu befreien, es zu bewegen, ihm in die Wüste und schließlich in das verheißene Land zu folgen und dort eine neue Art von Gesellschaft aufzubauen, die nicht auf Macht, sondern auf Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Achtung der Menschenwürde und kollektiver Verantwortung für die Herrschaft des Rechts beruht.

Gott war im Begriff, eine neue Art von Drama in Gang zu setzen und ein neues Konzept von Zeit zu schaffen. Für viele der bedeutendsten Historiker der Welt – Arnaldo Momigliano, Yosef Hayim Yerushalmi, John H. Plumb, Eric Voegelin und den Anthropologen Mircea Eliade – war dies die Geburtsstunde der Geschichte.

Bis dahin bestand das grundlegende Drama des menschlichen Daseins im Kampf um die Aufrechterhaltung der Ordnung angesichts der ständigen Bedrohung durch das Chaos, sei es durch Naturkatastrophen, fremde Eroberungen oder interne Machtkämpfe. Erfolg bedeutete die Aufrechterhaltung des Status quo. Tatsächlich war die Religion in der antiken Welt sehr konservativ. Es ging darum, den Menschen die Unvermeidlichkeit des Status quo zu vermitteln. Die Zeit war eine Arena, in der sich nichts grundlegend änderte.

Und nun erscheint Gott Moses und sagt ihm, dass etwas völlig Neues geschehen wird, etwas, das die Patriarchen zwar theoretisch gekannt, aber nie in der Praxis erlebt hatten: ein neues Volk. Eine neue Art des Glaubens. Eine neue Form der politischen Ordnung. Eine neue Art von Gesellschaft. Gott war im Begriff, in die Geschichte einzutreten und den Westen auf einen Weg zu führen, den kein Mensch je zuvor in Erwägung gezogen hatte.

Die Zeit sollte nicht mehr nur das sein, was Platon so schön als das „bewegte Bild der Ewigkeit“ beschrieben hat. Sie sollte zur Bühne werden, auf der Gott und die Menschheit gemeinsam dem Tag entgegengehen, an dem alle Menschen – unabhängig von Klasse, Hautfarbe, Glauben oder Kultur – ihre volle Würde als Ebenbilder Gottes erlangen. Religion sollte keine konservative, sondern eine evolutionäre, ja revolutionäre Kraft werden.

Man denke nur mal darüber nach: Lange vor dem Westen hatten die Chinesen die Tinte, das Papier, den Buchdruck, die Porzellanherstellung, den Kompass, das Schießpulver und viele andere Technologien erfunden. Aber es gelang ihnen nicht, eine wissenschaftliche Revolution, eine industrielle Revolution, eine Marktwirtschaft und eine freie Gesellschaft zu entwickeln. Warum haben sie es so weit gebracht, dann aber aufgehört? Der Historiker Christopher Dawson glaubt, dass die Religion des Westens den Unterschied gemacht hat. Von allen Zivilisationen der Welt wurde Europa „ständig von einer Energie geistiger Unruhe erschüttert und verändert“. Er führt dies darauf zurück, dass „sein religiöses Ideal nicht die Anbetung einer zeitlosen und unveränderlichen Vollkommenheit war, sondern ein Geist, der danach strebte, sich in die Menschheit einzubringen und die Welt zu verändern.“[1]

Die Welt verändern. Das ist der Schlüsselsatz. Die Idee, dass wir – zusammen mit Gott – die Welt verändern können, dass wir Geschichte machen können und nicht nur von ihr bestimmt werden, diese Idee wurde geboren, als Gott zu Moses sagte, dass er und seine Zeitgenossen im Begriff seien, eine Seite Gottes zu sehen, die nie jemand zuvor gesehen hat.

Ich bekomme immer noch eine leichte Gänsehaut, wenn wir jedes Jahr Wa’era lesen und uns an den Moment erinnern, in dem die Geschichte geboren wurde, an den Moment, in dem Gott in die Geschichte eingetreten ist und uns für immer gelehrt hat, dass Sklaverei, Unterdrückung und Ungerechtigkeit nicht in die Struktur des Kosmos eingeschrieben, nicht in die menschliche Natur eingraviert sind. Die Dinge können anders sein, weil wir anders sein können, weil Gott uns gezeigt hat, wie.

[1] Christopher Dawson, Religion and the Rise of Western Culture (New York, Doubleday, 1991), S. 15.

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