Jul ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Die Enttäuschung des Moses

Verborgen unter der Oberfläche von Paraschat Pinchas haben die Weisen eine sehr ergreifende Geschichte entdeckt. Moses, der seine Schwester und seinen Bruder sterben sah, wusste, dass seine Zeit auf Erden sich dem Ende zuneigt. Er betete zu Gott, einen Nachfolger zu berufen:

„Möge der Ewige, der Gott des Geistes in jedem Leibe, einen Mann über diese Gemeinde ernennen, der vor ihr aus- und eingehe, der sie aus- und einführe. Die Gemeinde des Ewigen soll nicht wie Schafe sein, die keinen Hirten haben“ (Num. 27:16-17).

Eine Frage drängt sich jedoch auf: Warum erscheint diese Episode gerade hier? Zweifellos hätte sie sieben Kapitel früher stehen müssen, entweder dort, wo Gott Moses und Aaron sagt, dass sie sterben würden, ohne das Land betreten zu haben, oder kurz danach, wenn wir von Aarons Tod lesen.

Die Weisen bemerkten zwei Hinweise auf die Geschichte hinter der Geschichte. Der erste ist, dass sie unmittelbar auf die Begebenheit folgt, in der die Töchter Zelofhads den Anteil ihres verstorbenen Vaters am Land beanspruchten und ihn auch zugesprochen bekamen. Und das war der Auslöser für Moses’ Bitte. Ein Midrasch erklärt dies:

„Was war der Grund für Moses, diese Bitte vorzubringen, nachdem er das Gesetz der Erbfolge verkündet hatte? Einfach dies: Als die Töchter Zelofhads das Erbe ihres Vaters antraten, dachte Moses: ,Es ist an der Zeit, dass ich meine eigene Bitte vorbringe. Wenn schon Töchter erben, dann sollen doch meine Söhne meine Ehre erben‘“ (Bamidbar Raba 21:14).

Der zweite Hinweis findet sich in den Worten, die Gott zu Moses spricht, unmittelbar bevor dieser seine Bitte um die Berufung eines Nachfolgers äußert:

„Und Gott sprach zu Moses: ,Steig auf diesen Berg Abarim und sieh das Land, das ich den Israeliten gegeben habe. Wenn du es gesehen hast, sollst auch du zu deinem Volk eingehen wie dein Bruder Aaron…‘“ (Num. 27:12-13).

Die kursiv gedruckten Worte scheinen überflüssig zu sein. Gott teilt Moses mit, dass er bald sterben wird. Warum aber muss Er hinzufügen: „wie dein Bruder Aaron“? Der Midrasch sagt dazu: Das lehrt uns, dass Moses wie Aaron sterben wollte. Der Ketaw Sofer erklärt: Aaron hatte das Privileg zu wissen, dass seine Kinder in seine Fußstapfen treten würden. Sein Sohn Elasar war noch zu seinen Lebzeiten zum Hohepriester ernannt worden. Bis heute sind die Kohanim direkte Nachkommen Aarons. Auch Moses sehnte sich danach, dass einer seiner Söhne, Gerschom oder Elieser, seine Nachfolge als Führer des Volkes antreten würde. Doch es hat nicht sollen sein. Dies ist die Geschichte hinter der Geschichte.

Doch sollte die Begebenheit noch ein Nachspiel haben. Im Buch der Richter lesen wir von einem Mann namens Micha, der im Gebiet von Efraim einen Götzenkult gründete und einen Leviten anstellte für den Dienst im Schrein. Einige Männer vom Stamme Dan, die nach Norden zogen, um ein geeigneteres Land für sich zu finden, stießen auf das Haus Michas und bemächtigten sich der Kultgegenstände und des Leviten, den sie überredeten, ihr Priester zu werden, indem sie sagten: „Komm mit uns und sei unser Vater und Priester. Ist es nicht besser, einem Stamm und einer Gemeinschaft in Israel als Priester zu dienen als nur dem Haus eines Mannes?“ (Richter 18:19).

Erst am Ende der Geschichte (Richter 18:30) erfahren wir den Namen des Götzenpriesters: Jonatan, der Sohn Gerschoms, des Sohnes des Moses. In unseren Texten ist der Buchstabe Nun im letztgenannten Namen eingefügt, so dass er als Menasche und nicht als Moses gelesen werden kann. Allerdings steht der Buchstabe wie ein Zusatz über der Zeile, was ungewöhnlich ist. Der Talmud sagt, dass der Nun hinzugefügt wurde, um zu verhindern, dass der Name Moses selbst durch die Offenbarung, dass sein Enkel ein götzendienerischer Priester geworden war, beschmutzt würde.

Wie lässt sich Moses’ offensichtlicher Misserfolg bei seinen eigenen Kindern und Enkelkindern erklären? Einen möglichen Ansatz sehen die Weisen darin, dass es damit zu tun gehabt haben könnte, dass er jahrelang in Midian bei seinem Schwiegervater Jitro gelebt hatte, der damals ein götzendienerischer Priester war. Etwas von diesem midianitischen Einfluss kam drei Generationen später bei Jonatan wieder zum Vorschein.

Hier und da gibt es auch Hinweise darauf, dass Moses selbst so sehr mit der Führung des Volkes beschäftigt war, dass er einfach keine Zeit hatte, sich um die geistigen Bedürfnisse seiner Kinder zu kümmern. Als beispielsweise Jitro nach der Teilung des Schilfmeeres seinen Schwiegersohn besuchte, brachte er Moses’ Frau Zipora und ihre beiden Söhne mit. Bis dahin hatten sie fern von Moses gelebt.

Die Rabbiner gingen noch einen Schritt weiter, als sie darüber spekulierten, warum Moses’ eigene Geschwister, Aaron und Miriam, schlecht über ihn sprachen. Was beide dazu bewog, war, so die Weisen, die Tatsache, dass Moses sich körperlich von seiner Frau getrennt hatte. Er hatte dies getan, weil seine Aufgabe es mit sich brachte, sich stets in einem Zustand der Reinheit zu befinden, um jederzeit bereit zu sein, wenn er mit Gott sprechen musste – oder von Ihm angesprochen wurde. Mit einem Wort, sie beschwerten sich, dass er seine eigene Familie vernachlässigte.

Eine dritte Erklärung hat mit der Art der Führung selbst zu tun. Bürokratische Autorität – also Autorität aufgrund eines Amtes – kann von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Das ist in der Monarchie der Fall. Ebenso in der Aristokratie. Das Gleiche gilt auch für bestimmte Formen religiöser Autorität, etwa das Priesteramt. Aber charismatische Autorität, die auf persönlichen Qualitäten beruht, wird niemals automatisch von Generation zu Generation weitergegeben. Moses war ein Prophet, und Prophetie hängt fast ausschließlich von persönlichen Qualitäten ab. Das ist übrigens auch der Grund, warum im Judentum das Königtum und das Priestertum männliche Privilegien waren, nicht aber das Prophetentum. Es gab Prophetinnen und Propheten. In dieser Hinsicht war Moses nicht ungewöhnlich. Nur wenige charismatische Führer haben Kinder, die ebenfalls charismatische Führer sind.

Eine vierte Erklärung der Weisen war völlig anders. Gott wollte grundsätzlich nicht, dass die Krone der Tora in dynastischer Abfolge von den Eltern auf die Kinder übergeht. Das Königtum und das Priestertum schon. Aber die Krone der Tora, so sagten sie, gehöre jedem, der sich entschließt, sie zu ergreifen und ihre Verantwortung zu tragen. „Moses gab uns die Tora als Erbe der Gemeinschaft Jakobs“, das heißt, sie gehört uns allen, nicht nur einer Elite. Der Talmud führt dies weiter aus:

„Achtet auf die Kinder der Armen, [dass ihr sie nicht vernachlässigt,] denn von ihnen geht die Tora aus… Warum ist es nicht üblich, dass Gelehrte Söhne haben, die Gelehrte sind?

Josef sagte: ,Damit nicht gesagt wird, die Tora sei ihr Erbe.‘

Schischa, der Sohn des R. Idi, sagte: ,Damit sie nicht hochmütig gegenüber der Gemeinde seien.‘

Mar Sutra sagt: ,Weil sie willkürlich mit der Gemeinde verfahren.‘

Aschi sagte: ,Weil sie die Menschen Esel nennen.‘

Rabina sagt: ,Weil sie nicht zuerst einen Segen über die Tora sprechen‘“ (Nedarim 81a).

Mit anderen Worten: Die „Krone der Tora“ war ganz bewusst nicht vererbbar, weil sie zum Privileg der Reichen hätte werden können. Oder weil die Kinder großer Gelehrter ihr Erbe als selbstverständlich ansehen könnten. Oder weil es zu Überheblichkeit und Verachtung gegenüber anderen führen könnte. Oder weil das Lernen selbst zu einem rein intellektuellen Streben und nicht zu einer spirituellen Übung werden könnte („Sie sprechen nicht zuerst einen Segen über die Tora“).

Es gibt jedoch noch einen fünften Faktor, den es zu berücksichtigen gilt. Einige der größten Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte hatten nicht mit allen ihren Kindern Erfolg. Abraham zeugte Ismael. Isaak und Rebekka gebaren Esau. Alle zwölf Kinder Jakobs blieben ihrer Gemeinschaft treu, aber drei von ihnen – Ruben, Simon und Levi – enttäuschten ihren Vater. Von Simon und Levi sagte er: „Möge meine Seele nicht in ihren Rat kommen und mein Geist nicht in ihre Versammlung“ ( Gen. 49:6). Scheinbar distanzierte er sich von ihnen.[1] Doch die drei großen Führer der Israeliten während des Exodus – Moses, Aaron und Miriam – waren allesamt Nachkommen Levis.

Salomo zeugte Rehabeam, dessen katastrophale Regierungsführung das Königreich spaltete. Hiskia, einer der größten Könige Judas, war der Vater von Menasse, einem der schlimmsten. Nicht alle Eltern haben immer Erfolg mit all ihren Kindern. Wie könnte es auch anders sein? Einem jeden von uns ist die Willensfreiheit gegeben. Bis zu einem gewissen Grad ist jeder von uns der, für den er sich entschieden hat. Weder die Gene noch die Erziehung können garantieren, dass wir die Menschen werden, die sich unsere Eltern wünschen. Und es ist auch nicht richtig, dass Eltern ihren Willen Kindern aufzwingen, wenn diese das Alter der Reife erreicht haben.

Und oft gerät dies auch zum Besten. Abraham wurde kein Götzendiener wie sein Vater Terach. Menasse, der Inbegriff des bösen Königs, war der Großvater von Josia, einem der besten. Das sind wichtige Tatsachen. Das Judentum stellt die Elternschaft, die Erziehung und das Zuhause in den Mittelpunkt seiner Wertvorstellungen. Eine unserer ersten Pflichten ist es, dafür zu sorgen, dass unsere Kinder unser religiöses Erbe kennen und lieben lernen. Aber manchmal scheitern wir. Kinder können ihren eigenen Weg gehen, der nicht der unsere ist. Wenn uns das widerfährt, sollten wir nicht vor lauter Schuldgefühl erstarren. Nicht jeder hat Erfolg mit jedem seiner Kinder, nicht einmal Abraham oder Moses, David oder Salomo hatten dies. Nicht einmal Gott selbst. „Ich habe meine Kinder herangezogen und erzogen, aber sie haben sich gegen mich aufgelehnt“ (Jes. 1:2).

Zweierlei hat die Geschichte von Moses und seinen Kindern vor der Tragödie bewahrt. Im Buch der Chronik (I Chronik 23:16, 24:20) wird der Sohn Gerschoms nicht Jonatan, sondern Schewual oder Schuwael genannt, was unsere Weisen mit „Rückkehr zu Gott“ übersetzen. Mit anderen Worten: Jonatan bereute schließlich seinen Götzendienst und wurde wieder ein treuer Jude. Wie weit ein Kind auch abgewichen sein mag, es kann im Laufe der Zeit zurückkehren.

Das andere wird in der Genealogie in Numeri 3 angedeutet. Sie beginnt mit den Worten: „Dies sind die Kinder Aarons und Moses“, zählt dann aber nur die Kinder Aarons auf. Unsere Weisen sagen dazu, dass Moses die Kinder Aarons unterrichtete und sie daher als seine eigenen betrachtet wurden. Generell werden die „Schüler“ als „Kinder“ bezeichnet.[2]

Vielleicht hat nicht jeder von uns Kinder. Und selbst wenn wir welche haben, kann es sein, dass sie trotz all unserer Bemühung zumindest vorübergehend einen anderen Weg einschlagen. Aber wir alle können etwas hinterlassen, das fortbesteht. Manche tun dies, indem sie dem Beispiel Moses’ folgen und die nächste Generation unterweisen, fördern und ermutigen. Andere tun dies im Einklang mit der rabbinischen Lehre, dass „die wahren Nachkommen der Gerechten ihre guten Taten sind“.[3]

Wenn unsere Kinder unserem Weg folgen, sollten wir dankbar sein. Übertreffen sie uns, sollten wir Gott besonders dankbar sein. Und wenn sie einen anderen Weg wählen, müssen wir geduldig sein, denn wir wissen, dass der größte Jude aller Zeiten die gleiche Erfahrung mit einem seiner Enkel gemacht hat. Und wir dürfen niemals die Hoffnung aufgeben. Moses’ Enkel kehrte zurück. In seinen letzten Worten prophezeit Maleachi, der letzte der Propheten, eine Zeit, in der Gott „das Herz der Väter zu ihren Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern wenden wird“ (Maleachi 3:24). Die Entfremdeten werden im Glauben und in der Liebe wieder zueinander finden.

[1] Man beachte jedoch, dass Raschi den Fluch so auslegt, dass er sich speziell auf Simri, einen Nachkommen Simons, und auf Korach, einen Nachfahren Levis, beschränkt.

[2] Siehe Rashi zu Numeri 3:1.

[3] Rashi zu Genesis. 6:9.

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