Apr ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Der Mut, Fehler zuzugeben

Vor einigen Jahren besuchte mich der damalige amerikanische Botschafter am Hof von St. James, Philip Lader. Er erzählte mir von einem faszinierenden Projekt, das er und seine Frau 1981 ins Leben gerufen hatten. Ihnen war bewusst geworden, dass viele ihrer Altersgenossen in nicht allzu ferner Zukunft Positionen von Einfluss und Macht einnehmen würden. Und so hielten sie es für sinnvoll und kreativ, sich von Zeit zu Zeit zu einem gemeinsamen Seminar zu treffen, um Ideen auszutauschen, Experten zu hören, Freundschaften zu schließen und gemeinsam über die Herausforderungen nachzudenken, denen sie sich in den kommenden Jahren stellen würden. Also riefen sie das so genannte Renaissance-Wochenende ins Leben. Es findet immer noch statt.

Das Interessanteste, was er mir erzählte, war, dass sie feststellten, dass den Teilnehmern, alles außergewöhnlich begabte Menschen, eine Sache besonders schwerfiel: zuzugeben, dass sie Fehler gemacht hatten. Die Laders verstanden, dass dies etwas Wichtigstes war, was sie zu lernen hatten. Vor allem Führungskräfte sollten in der Lage sein, zuzugeben, welche Fehler sie wann gemacht haben und wie sie diese wieder gutmachen können. Sie kamen auf eine geniale Idee. An jedem Wochenende sollte ein auf einem bestimmten Gebiet anerkannter Star einen Vortrag zum Thema „Mein größter Blooper“ halten. Da ich aber Engländer und kein Amerikaner bin, musste ich erst um eine Übersetzung bitten. Ich erfuhr, dass ein Blooper ein peinlicher Fehler ist. Ein Ausrutscher. Ein Fauxpas. Ein Stümper. Ein Missgeschick. Ein Faschla. Ein Balagan. Etwas, das man nicht hätte tun sollen und sich schämt, es zuzugeben.

Das ist im Wesentlichen, was Jom Kippur im Judentum ist. Zu Zeiten des Stiftzeltes und des Tempels war es der Tag, an dem der heiligste Mann Israels, der Hohepriester, Sühne leistete, zunächst für seine eigenen Sünden, dann für die Sünden seines „Hauses“ und schließlich für die Sünden ganz Israels. Seit der Zerstörung des Tempels haben wir weder einen Hohepriester noch die von ihm vollzogenen Riten, aber wir haben immer noch den Tag und die Möglichkeit, zu beichten und um Vergebung zu bitten. Es ist so viel leichter, seine Sünden, Fehler und Versäumnisse einzugestehen, wenn andere Menschen das Gleiche tun. Wenn der Hohepriester oder die anderen Mitglieder unserer Gemeinde Sünden eingestehen können, dann können wir das auch.

Ich habe an anderer Stelle (in der Einleitung zum Koren Jom Kippur Machsor) argumentiert, dass der Schritt vom ersten zum zweiten Jom Kippur einer der großen Wendepunkte in der jüdischen Spiritualität war. Der erste Jom Kippur war der Höhepunkt von Moses’ Bemühungen, für das Volk Vergebung für die Sünde des Goldenen Kalbes zu erlangen (Exod. 32-34). Der Prozess, der am 17. Tammus begann, endete am 10. Tischrej, dem Tag, der später zum Jom Kippur werden sollte. An diesem Tag stieg Moses mit den zweiten Gesetzestafeln vom Berg herab, dem sichtbaren Zeichen, dass Gott seinen Bund mit dem Volk erneut bestätigt hatte. Am zweiten Jom Kippur, ein Jahr später, begann schließlich die in der Parascha dieser Woche (Lev. 16) beschriebene Reihe von Riten, die von Aaron als Hohepriester im Mischkan vollzogen wurden.

Die Unterschiede zwischen den beiden Versöhnungstagen waren gewaltig. Moses wirkte als Prophet. Aaron agierte als Priester. Moses folgte seinem Herzen und seinem Verstand und improvisierte entsprechend der Antwort Gottes auf seine Worte. Aaron hingegen folgte der genauen Choreographie eines Rituals, bei dem jedes Detail im Voraus festgelegt war. Moses’ Begegnung war ad hoc, ein einzigartiges, unwiederholbares Drama zwischen Himmel und Erde. Aarons Begegnung war das genaue Gegenteil. Die Regeln, die er befolgte, änderten sich so lange der Tempel stand, über Generationen hinweg nicht.

Moses’ Gebete für das Volk waren voller Kühnheit, was die Weisen Chuzpa kelapej Schemaja nannten, „Kühnheit gegenüber dem Himmel“, und gipfelten in den erstaunlichen Worten: „Nun vergib ihnen ihre Sünde, und wenn nicht, so streiche mich aus dem Buch, das du geschrieben hast“ (Exod. 32:32). Aarons Verhalten war dagegen von Gehorsam, Demut und Geständnis geprägt. Es gab Reinigungsrituale, Sündopfer und Sühne für seine eigenen Sünden, für die seines „Hauses“ und für die des Volkes.

Der Wandel von Jom Kippur 1 zu Jom Kippur 2 war ein klassisches Beispiel für das, was Max Weber die „Routinisierung von Charisma“ nannte, also das Aufgreifen eines einmaligen Moments und seine Übertragung in ein Ritual, wodurch ein „Gipfelerlebnis“ zu einem regelmäßigen Bestandteil des Lebens wird. Es gibt nur wenige Momente in der Tora, die in ihrer Intensität mit dem Dialog zwischen Moses und Gott nach dem Goldenen Kalb vergleichbar sind. Aber die Frage danach war: Wie können wir Vergebung erlangen – wir, die wir keinen Moses, keinen Propheten und auch keinen direkten Zugang zu Gott mehr haben? Große Augenblicke verändern die Geschichte. Aber was uns selbst verändert, ist die ganz unspektakuläre Gewohnheit, bestimmte Handlungen immer und immer wieder zu tun, bis sie unser Gehirn neu ausrichten und wir die alten Gewohnheiten in unseren Herzen ablegen. Wir werden durch die Rituale geprägt, die wir immer wieder vollziehen.

Zudem löste Moses’ Fürbitte an Gott allein noch keine Bußbereitschaft im Volk aus. Ja, er führte eine Reihe dramatischer Handlungen aus, um dem Volk seine Schuld vor Augen zu führen. Aber wir haben keinen Anhaltspunkt dafür, dass es dies verinnerlicht hätte. Aarons Taten waren anders. Sie beinhalteten Geständnis, Sühne und das Streben nach geistlicher Reinigung. Sie beinhaltete ein offenes Eingeständnis der Sünden und der Verfehlungen des Volkes, und sie begannen mit dem Hohenpriester selbst.

Die Wirkung von Jom Kippur – die sich über Tachanun (Bittgebete), Widuj (Geständnis) und Selichot (Gebete um Vergebung) auf die Gebete des restlichen Jahres erstreckt – lag darin, eine Kultur zu schaffen, in der die Menschen nicht zu beschämt oder verlegen sind, zu sagen: „Ich habe mich geirrt, ich habe gesündigt, ich habe Fehler begangen.“ Genau das tun wir in der Litanei der Verfehlungen, die wir an Jom Kippur in zwei alphabetischen Listen aufzählen, von denen die eine mit Aschamnu, bagadnu beginnt und die andere mit Al Chet schechatanu.

Wie Philip Lader feststellte, ist die Fähigkeit, Fehler einzugestehen, alles andere als weit verbreitet. Wir rationalisieren. Wir rechtfertigen. Wir leugnen. Wir geben anderen die Schuld. In den letzten Jahren sind mehrere wichtige Bücher zu diesem Thema erschienen, darunter Matthew Syed, Black Box Thinking: The Surprising Truth About Success (and Why Some People Never Learn from Their Mistakes);[1] Kathryn Schulz, Being Wrong: Adventures in the Margins of Error;[2] und Carol Tavris und Elliot Aronson, Mistakes Were Made, But Not by Me.[3]

Politikern fällt es schwer, Fehler einzugestehen. Dasselbe gilt für Ärzte: Vermeidbare Behandlungsfehler führen in den USA jedes Jahr zu mehr als 400.000 Todesfällen. Ebenso verhält es sich mit Bankern und Ökonomen. Der Finanzcrash von 2008 wurde von Warren Buffett bereits 2002 vorhergesagt. Er ereignete sich trotz der Warnungen einiger Experten, dass die Höhe der Hypothekenkredite und die Hebelwirkung im Schuldenbereich nicht tragfähig seien. Tavris und Aronson erzählen eine ähnliche Geschichte über die Strafverfolgung. Sobald ein Verdächtiger identifiziert ist, zögert die Polizei, Beweise für seine Unschuld zuzulassen. Und so ließen sich noch weitere Beispiele anführen.

Die Ausfluchtstrategien sind endlos. Wir sagen: Es war doch kein Fehler. Oder: es war das Beste, was man unter den gegebenen Umständen tun konnte. Oder: es war ein geringfügiger Fehler. Oder: es war unvermeidlich, wenn man bedenkt, was man zum damaligen Zeitpunkt wusste. Oder: es war die Schuld eines anderen. Wir wurden falsch informiert. Wir wurden schlecht beraten. So bluffen wir, leugnen oder sehen uns als Opfer.

Wir haben eine fast unbegrenzte Fähigkeit, Tatsachen zu unserer eigenen Rechtfertigung zu interpretieren. Wie die Weisen im Zusammenhang mit den Reinheitsgeboten sagten: „Niemand kann seine eigenen Fehler, seine eigenen Unreinheiten sehen.“ Wir sind uns selbst die besten Anwälte im Gericht der eigenen Wertschätzung. Nur wenige Menschen haben den Mut zu sagen, wie es der Hohepriester oder wie es König David tat, nachdem ihn der Prophet Nathan mit seiner Schuld an Urija und Batseba konfrontiert hatte, chatati, „ich habe gesündigt“.

Das Judentum hilft uns in dreierlei Hinsicht, unsere Fehler einzugestehen. Erstens: durch das Wissen, dass Gott verzeiht. Er fordert nicht von uns, niemals zu sündigen. Er wusste im Voraus, dass Sein Geschenk der Freiheit manchmal missbraucht werden würde. Alles, was Er von uns verlangt, ist, dass wir unsere Fehler eingestehen, aus ihnen lernen, sie bekennen und den Entschluss fassen, sie nicht wieder zu begehen.

Zweitens unterscheidet das Judentum klar zwischen dem Sünder und der Sünde. Wir können eine Tat verurteilen, ohne den Glauben an ihren Urheber zu verlieren.

Drittens ist es die Aura, die Jom Kippur dem Rest des Jahres verleiht. Er trägt dazu bei, eine Kultur der Ehrlichkeit zu schaffen, in der wir uns nicht schämen, unsere Fehler einzugestehen. Und obwohl sich Jom Kippur eigentlich auf die Sünden zwischen uns und Gott konzentriert, zeigt uns eine einfache Leseart der Bekenntnisse im Ashamnu und Al Chet, dass die meisten Sünden, die wir bekennen, in Wirklichkeit unsere Beziehungen zu anderen Menschen betreffen.

Was Philip Lader bei seinen hochfliegenden Zeitgenossen entdeckte, hat das Judentum schon vor langer Zeit verinnerlicht. Wenn die Größten zugeben, dass auch sie Fehler machen, ist das für den Rest von uns sehr ermutigend. Der erste Jude, der zugab, einen Fehler gemacht zu haben, war Juda, der Tamar fälschlicherweise des sexuellen Fehlverhaltens beschuldigte. Als er erkannte, dass er sich geirrt hatte, sagte er: „Sie ist gerechter als ich“ (Gen. 38:26).

Sicherlich ist es mehr als ein bloßer Zufall, dass sich der Name Juda von demselben Wortstamm ableitet wie Widuj, „Geständnis“. Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass wir Juden – Jehudim – heißen, bedeutet, dass wir das Volk sind, das den Mut hat, seine Fehler einzugestehen.

Ehrliche Selbstkritik ist eines der untrüglichen Zeichen geistiger Größe.

[1] Black-Box-Denken: Die überraschende Wahrheit über den Erfolg (und warum manche Menschen nie aus ihren Fehlern lernen)

[2] Falsch liegen: Abenteuer in der Fehlerspanne

[3] Es wurden Fehler begangen, aber nicht von mir

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier