Mai ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Der Klang der Stille

Der Wochenabschnitt Bamidbar wird normalerweise am Schabbat vor Schawuot gelesen. Die Weisen sahen also einen Zusammenhang zwischen den beiden. Schawuot ist die Zeit der Übergabe der Tora. Bamidbar bedeutet „in der Wüste“. Welche Verbindung besteht also zwischen der Wüste und der Tora, zwischen der Wüste und dem Wort Gottes?

Die Weisen haben dazu mehrere Auslegungen gegeben. Nach der Mechilta wurde die Tora öffentlich, für alle sichtbar, an einem Ort gegeben, der niemandem gehörte, denn wäre sie im Land Israel gegeben worden, hätten die Juden zu den Völkern der Welt gesagt: „Ihr habt keinen Anteil daran.“ Stattdessen soll jeder, der sie annehmen will, kommen und sie empfangen.[1]

Eine andere Erklärung: Wäre die Tora in Israel gegeben worden, hätten die Völker der Welt einen Vorwand gehabt, sie nicht anzunehmen. Dies entspricht der traditionellen rabbinischen Auffassung, nach der Gott, bevor er die Tora den Israeliten gab, sie auch allen anderen Völkern angeboten und jedes Volk einen Grund gefunden hatte, sie abzulehnen.[2]

Noch eine andere: So wie die Wüste frei ist – der Zugang ist kostenfrei -, so steht auch die Tora allen kostenlos zur Verfügung. Sie ist ein Geschenk Gottes an uns.[3]

Aber es gibt noch einen anderen, eher spirituellen Grund. Die Wüste ist ein Ort der Stille. Es gibt nichts, was visuell ablenkt, und keine Geräuschkulisse, die das Hören erschwert. Als die Israeliten die Tora empfingen, gab es zwar Donner und Blitz und den Klang des Schofars, die Erde schien in ihren Grundfesten zu beben, aber als der Prophet Elia später, nach seiner Auseinandersetzung mit den Propheten des Baal, auf demselben Berg stand, begegnete er Gott nicht im Sturm, nicht im Feuer, nicht im Beben der Erde, sondern in der Kol demama daka, der leisen, sanften Stimme, wörtlich „dem Klang eines zarten Schweigens“ (I Könige 19:9-12). Ich verstehe darunter den Klang, den man nur vernimmt, wenn man genau zuhört. In der Stille der Midbar, der Wüste, hört man den Medaber, den Sprecher, und das Medubar, das Gesagte. Die Stimme Gottes zu hören erfordert eine lauschende Stille in der Seele.

Vor vielen Jahren produzierte das britische Fernsehen die Dokumentarserie The Long Search [Die lange Suche] über die großen Weltreligionen.[4] Als sich diese Serie dem Judentum zuwandte, schien der Moderator Ronald Eyre überrascht von dessen blühender, lebendiger Unübersichtlichkeit, insbesondere von den lauten, streitenden Stimmen im Bet Midrasch, dem jüdischen Lehrhaus. Als er Elie Wiesel darauf ansprach, fragte er: „Gibt es so etwas wie Stille im Judentum?“ Wiesel antwortete: „Das Judentum ist voller Stille… aber wir reden nicht darüber.“

Das Judentum ist eine sehr verbale Kultur, eine Religion der heiligen Worte. Gott schuf das Universum durch Worte: „Und Gott sprach: Es werde … und es ward.“ Dem Targum zufolge ist es unsere Fähigkeit zu sprechen, die uns zu Menschen macht. Er übersetzt den Satz: „Und der Mensch wurde eine lebendige Seele“ (Gen 2:7) mit: „Und der Mensch wurde eine sprechende Seele.“ Worte erschaffen. Worte kommunizieren. Unsere Beziehungen werden im Guten wie im Schlechten von der Sprache geprägt. Ein Großteil des Judentums handelt von der Macht der Worte, Welten zu schaffen oder zu zerstören.

So hat das Schweigen im Tanach oft eine negative Konnotation. „Aaron schwieg“, sagt die Tora nach dem Tod seiner beiden Söhne Nadab und Abihu (Lev. 10:3). „Die Toten preisen dich nicht“, heißt es in Psalm 115, „noch die, die in die Stille [des Grabes] sinken.“ Als Hiobs Freunde kamen, um ihn nach dem Verlust seiner Kinder und anderen Leiden zu trösten, „setzten sie sich mit ihm auf die Erde, sieben Tage und sieben Nächte, aber niemand sprach ein Wort mit ihm, denn sie sahen, wie groß sein Schmerz war“ (Hiob 2:13).

Aber nicht jedes Schweigen ist traurig. In den Psalmen heißt es: „Vor Dir ist das Schweigen ein Lobpreis“ (Psalm 65:2). Wenn wir wirklich in Ehrfurcht vor der Größe Gottes, der Weite des Universums und der schier unendlichen Dimension der Zeit stehen, dann sind unsere tiefsten Gefühle tatsächlich zu tief, um in Worte gefasst zu werden, und wir empfinden eine stille Verbundenheit.

Die Weisen schätzten das Schweigen. Sie nannten es „einen Zaun um die Weisheit“ (Mischna Awot 3:13). Wenn Worte eine Münze wert sind, ist Schweigen zwei Münzen wert (Megilla 18a). Rabbi Schimon Ben Gamliel sagte: „Mein Leben lang bin ich unter den Weisen aufgewachsen, und ich habe nichts Besseres gefunden als das Schweigen“ (Mischna Awot 1:17).

Der Dienst der Priester im Tempel war von Stille begleitet. Zwar sangen die Leviten im Vorhof, die Priester aber sangen und sprachen – anders als in anderen antiken Religionen – während des Opferdienstes nicht. Der Wissenschaftler Israel Knohl sprach deshalb von der „Stille des Heiligtums“. Der Sohar (2a) spricht von der Stille als dem Medium, in dem sowohl das geistige als auch das physische Heiligtum geschaffen werden.

Es gibt auch Juden, die das Schweigen als spirituelle Disziplin pflegen. So meditieren die Brazlaw-Cassidim auf den Feldern. Es gibt Juden, die sich im Ta’anit Dibur, dem „Fasten der Worte“, üben. Unser tiefstes Gebet, das persönliche Sprechen der Amida, wird auch Tefilla Belachasch genannt, das „stille Gebet“. Dies folgt dem Beispiel von Hanna, die für ein Kind betete. „Sie sprach in ihrem Herzen. Ihre Lippen bewegten sich, aber ihre Stimme wurde nicht vernommen“ (I Sam. 1:13).

Gott hört unseren stummen Schrei. In der schmerzlichen Geschichte, in der Sara Abraham bittet, Hagar und ihren Sohn wegzuschicken, erzählt uns die Tora, dass Hagar weinte, als das Wasser ausging und der junge Ismael zu sterben drohte, doch Gott hörte „die Stimme des Kindes“ (Gen. 21:16-17). Und als die Engel Abraham besuchten und ihm mitteilten, dass Sara ein Kind bekommen würde, lachte Sara innerlich, also im Stillen, doch Gott hörte sie (Gen. 18:12-13). Gott hört unsere Gedanken, auch wenn sie nicht in Worte gefasst werden.

Die Stille, die im Judentum zählt, ist also eine hörende Stille – und das Zuhören ist die höchste religiöse Kunst. Zuhören bedeutet, anderen Raum zu geben, auf dass sie sprechen und gehört werden. Wie ich in meinem Kommentar zum Siddur hervorhebe,[5] gibt es kein englisches Wort, das dem hebräischen Verb schma in seiner breiten Palette von Bedeutungen auch nur annähernd gerecht wird: zuhören, hören, aufpassen, verstehen, verinnerlichen und mit einer Handlung reagieren.

Dies war eines der Schlüsselelemente des Bundes am Sinai, als die Israeliten, nachdem sie bereits zweimal gesagt hatten: „Alles, was Gott sagt, wollen wir tun“, dann erklärten: „Alles, was Gott sagt, wollen wir tun, und wir wollen hören [Wenischma]“ (Exod. 24:7). Nischma – das Hören, Zuhören, Beherzigen, Reagieren – ist der entscheidende religiöse Akt.

Das Judentum ist also nicht nur eine Religion des Handelns und Sprechens, sondern auch eine Religion des Hörens. Glaube ist die Fähigkeit, die Musik aus dem Lärm herauszuhören. Es gibt die stille Musik der Sphären, von der Psalm 19 spricht:

Die Himmel berichten von der Herrlichkeit Gottes

Die Firmamente verkünden das Werk Seiner Hände.

Tag für Tag fließt der Strom ihrer Rede,

Nacht um Nacht vermitteln sie Wissen.

Es gibt keine Sprache, es gibt keine Worte,

Ihre Stimme wird nicht vernommen.

Doch ihre Musik erklingt auf der ganzen Erde.

Es gibt die Stimme der Geschichte, die von den Propheten vernommen wurde. Und es gibt die gebietende Stimme vom Sinai, die über den Abgrund der Zeit hinweg weiterhin zu uns spricht. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der Begriff „Tora vom Himmel“ für die Menschen der Moderne nicht aufgrund irgendeiner neuen archäologischen Entdeckung problematisch ist, sondern weil wir es verlernt haben, auf den Klang der Transzendenz zu hören, auf eine Stimme jenseits des rein Menschlichen.

Es ist faszinierend, dass Sigmund Freud trotz seines oft gestörten Verhältnisses zum Judentum mit der Psychoanalyse eine zutiefst jüdische Form des Heilens schuf. Er selbst nannte sie „Sprachtherapie“, aber in Wirklichkeit ist sie eine Hörtherapie. Fast alle wirksamen Formen der Psychotherapie beinhalten tiefes Zuhören.

Wird heute in der jüdischen Welt genug zugehört? Hören wir in der Ehe unserem Partner wirklich zu? Hören wir als Eltern unseren Kindern wirklich zu? Hören wir als Führungskräfte auf die unausgesprochenen Ängste derer, die wir führen wollen? Verinnerlichen wir den Schmerz derer, die sich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen? Können wir wirklich behaupten, auf die Stimme Gottes zu hören, wenn es uns nicht gelingt, auf die Stimme unserer Mitmenschen zu hören?

In seinem Gedicht In Memory of W. B. Yeats [In Erinnerung an W. B. Yeats] schrieb W. H. Auden:

In der Wüste des Herzens

Lass die Quelle der Heilung beginnen.

Von Zeit zu Zeit müssen wir uns aus dem Lärm und der Hektik der sozialen Welt zurückziehen und in unserem Herzen die Stille der Wüste schaffen, wo wir in der Stille die Kol demama daka hören, die leise, sanfte Stimme Gottes, die uns sagt, dass wir geliebt sind, dass wir gehört werden, dass Gott uns in Seiner unendlichen Umarmung hält und dass wir nicht allein sind.[6]

[1] Mechilta, Jitro, Bachodesch, 1.

[2] Ibid., 5.

[3] Ibid.

[4] BBC-Fernsehen, Erstausstrahlung 1977.

[5] Koren Shalem Siddur.

[6] Mehr zum Thema Zuhören finden Sie in Paraschat Bereschit, Die Kunst des Zuhörens, und Paraschat Eikew, Die Spiritualität des Zuhörens.

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