Okt ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Der Gott der Schöpfung und das Land Israel

 Zuweilen scheint ein alter Text sich direkter auf unsere heutige Situation zu beziehen als auf die Zeit, in der er verfasst wurde. Selten war dies zutreffender als im Fall des berühmten ersten Kommentars von Raschi zur Tora, und zwar zu den Worten: „Am Anfang schuf Gott…“[1] Sehen wir uns den vollständigen Kommentar einmal an:

Rabbi Isaak sagte: Die Tora hätte mit dem Vers „Dieser Monat sei für euch der erste der Monate“ (Exod. 12:2) beginnen sollen, da er das erste Gebot für das ganze Volk Israel darstellte. Warum fängt die Tora dann mit „am Anfang“ an? Weil sie den Gedanken des Verses (Psalm 111:6) vermitteln wollte: „Die Macht seiner Taten hat Er Seinem Volk verkündet, um ihm das Erbe der Völker zu geben.“ Wenn also die Völker der Welt zu Israel sagen: „Ihr seid Räuber, weil ihr euch das Land der sieben Völker gewaltsam angeeignet habt“, dann kann Israel ihnen erwidern: „Die ganze Erde gehört dem Heiligen, gepriesen sei Er. Er hat sie geschaffen und ihnen gegeben, und nach Seinem Willen hat Er sie ihnen genommen und uns gegeben.“ (Raschi, Gen. 1:1)

So hätte Raschi auch direkt zu uns heute sprechen können, in unserer Zeit des Antizionismus, der Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel (BDS), in der sogar das Existenzrecht des Staates zunehmend in Frage gestellt wird.

Raschi (1040-1105) lebte im nordfranzösischen Troyes zu einer Zeit, da sich die Lage der Juden unter christlicher Herrschaft zu verschlechtern begann. Er erlebte das traumatischste Ereignis jener Tage: das Massaker an den jüdischen Gemeinden in Lothringen zu Beginn des Ersten Kreuzzuges 1096. Die Juden seiner Zeit wurden verfolgt und waren machtlos. Sie hatten keine realistische Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in ihr Heimatland.

Was die Logik der Interpretation von Rabbi Isaak betrifft, so erscheint sie etwas bemüht. Warum beginnt die Tora mit der Schöpfung? Weil das die Grundlage des jüdischen Glaubens ist. Rabbi Isaak aber scheint zu argumentieren, dass die Tora, da sie in erster Linie ein Buch der Gebote ist, mit dem ersten der Gebote beginnen sollte – zumindest mit dem ersten, das den Israeliten als Kollektiv gegeben wurde. Aber natürlich ist nicht alles in der Tora ein Gebot, vieles ist Erzählung. Die Frage des Rabbi Isaak mutet daher seltsam an.

So auch seine Antwort. Warum die Schöpfung mit einer Anfechtung des Anspruchs der Israeliten auf das Land verbinden? Wenn Rabbi Isaak nur die Gebote im Auge hatte, warum gab er dann nicht die aus halachischer Sicht naheliegende Antwort: Die Schöpfungsgeschichte dient der Erklärung, des Gebotes, den Schabbat zu halten. So gesehen scheint alles sehr verwirrend.

Tatsächlich aber hat Rabbi Isaac ein sehr treffliches Argument. Vor einigen Jahren schrieb der säkulare Gelehrte David Clines ein Buch mit dem Titel The Theme of the Pentateuch. Er kam zu dem Schluss, dass das einzige übergreifende Thema der fünf Bücher Moses die Verheißung des Landes ist. Das ist sicherlich der Fall. Es gibt zwar Unterthemen, aber dieses Thema dominiert alle anderen.

Im Buch Bereschit verheißt Gott das Land: siebenmal Abraham, einmal Isaak und dreimal Jakob. Der Rest der Bücher Moses, vom Anfang des Exodus, wo Moses vom „Land, in dem Milch und Honig fließen“ hört, bis zum Ende des Deuteronomiums, wo er es aus der Ferne sieht, handelt von Israel, dem Ziel der jüdischen Reise.

Es gibt eine Grundregel der literarischen Form. Tschechow sagte: „Wenn im ersten Akt eines Theaterstücks eine Pistole auf der Bühne auftaucht, muss sie Teil der Handlung sein, oder sie sollte überhaupt nicht vorkommen.“ Wenn das zentrale Thema der mosaischen Bücher die Verheißung des Landes ist, muss der Anfang irgendwie damit verbunden sein. Daher der Hinweis von Rabbi Isaak: Die Schöpfungsgeschichte muss mit dem Land Israel zu tun haben. Was könnte das anderes sein als der Hinweis darauf, dass die Verheißung, aufgrund derer das jüdische Volk Anspruch auf das Land hat, aus der höchsten denkbaren Quelle stammt, dem Herrscher des Universums, dem Urheber allen Seins.

Kaum haben wir das gesagt, stellt sich eine naheliegende Frage. Warum sollte eine Religion an ein Land gebunden sein? Das klingt absurd, vor allem im Zusammenhang mit dem Monotheismus. Natürlich kann man Gott überall dienen.

Auch hier weist uns Rabbi Isaak in die richtige Richtung. Er erinnert uns an das erste Gebot, das den Israeliten gegeben wurde, kurz bevor sie Ägypten verließen.

„Dieser Monat sei für euch der Anfang der Monate, der Anfang des Jahres, dieser Monat sei für euch.“ (Exod. 12:2)

Im Judentum geht es nicht in erster Linie um die persönliche Erlösung, um die Beziehung zwischen dem Einzelnen und Gott in der Tiefe der Seele. Es geht um die kollektive Erlösung, darum, was es bedeutet, eine Gesellschaft zu schaffen, die das Gegenteil von Ägypten ist, wo die Starken die Schwachen versklaven. Die Tora ist die Architektur einer Gesellschaft, in der die eigene Freiheit nicht auf Kosten der Freiheit anderer erkauft wird, in der Gerechtigkeit herrscht und jeder Mensch als Ebenbild Gottes verstanden wird. Es geht um die Wahrheiten, die Thomas Jefferson als selbstverständlich bezeichnete, „dass alle Menschen gleich erschaffen und von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind“. Es geht um das, was John F. Kennedy meinte, als er davon sprach, „dass die Rechte des Menschen nicht aus der Großzügigkeit des Staates, sondern aus der Hand Gottes stammen“.

Wir sind soziale Tiere. Daher finden wir Gott in der Gesellschaft. Dies entdecken wir, wenn wir über die Grundstruktur der vielen Gebote der Tora nachdenken. Sie enthalten Gesetze zur Rechtsprechung, zur Kriegsführung, zum Eigentum an Grund und Boden, zu den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zum Wohlergehen der Armen, zum regelmäßigen Schuldenerlass, kurz: eine ganze Struktur von Gesetzen zur Schaffung dessen, was Rabbiner Aaron Lichtenstein „gesellschaftliche Glückseligkeit“ nennt.

Gesetze formen eine Gesellschaft, und eine Gesellschaft braucht Raum. Eine heilige Gesellschaft braucht einen heiligen Raum, ein heiliges Land. Deshalb brauchen die Juden und das Judentum ein eigenes Land.

Vier Jahrtausende lang, davon die meiste Zeit im Exil, war das Volk des Bundes über die ganze Erde verstreut. Kein Land, in dem Juden nicht gelebt hätten. Und doch gab es in all den Jahrhunderten nur ein Land, in dem sie das tun konnten, was für fast alle anderen Völker selbstverständlich ist: ihre eigene Gesellschaft nach ihren eigenen Überzeugungen zu schaffen.

Die Grundprämisse der Tora ist, dass wenn Gott im Allgemeinen überall zu finden sein soll, es einen besonderen Ort geben muss, an dem er im Besonderen zu finden ist. So wie in der Schöpfungsgeschichte der Schabbat die heilige Zeit ist, so ist in der Tora Israel als Ganzes der heilige Raum. Deshalb ist im Judentum Religion an ein Land gebunden, und ein Land an eine Religion.

Doch nun kommen wir zu dem verblüffendsten Teil von Rabbi Isaacs Kommentar. Erinnern wir uns, was er sagte:

Sollte jemand das Recht des jüdischen Volkes auf das Land Israel in Frage stellen, dann kann Israel ihnen erwidern: „Gott hat das Universum geschaffen. Er hat die Erde in viele Länder, Sprachen und Landschaften aufgeteilt. Aber dem jüdischen Volk hat er ein kleines Land gegeben. Das ist unser Anspruch auf das Land.“

Wie um alles in der Welt konnte Rabbi Isaak dies für eine überzeugende Antwort halten? Es ist fast unvermeidlich, dass jemand, der das Recht des jüdischen Volkes auf das Land Israel in Frage stellt, nicht an den Gott Israels glaubt. Wie also kann ein Verweis auf den Gott Israels die Sache Israels begründen?

Ironischerweise kennen wir die Antwort auf diese Frage. Heute glaubt die überwältigende Mehrheit derer, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen, an den Gott Israels, das heißt an den Gott Abrahams. Sie gehören zur großen Glaubensfamilie, die als abrahamitischer Monotheismus bekannt ist.

Ihnen müssen wir in aller Bescheidenheit sagen: Wenn es sich um einen politischen Konflikt handelt, wollen wir eine politische Lösung suchen. Lasst uns miteinander nach Frieden streben. Wenn es jedoch um Religion geht, sollten wir nicht vergessen, dass es ohne das Judentum weder das Christentum noch den Islam gäbe. Im Gegensatz zum Christentum und zum Islam hat das Judentum nie versucht, die Welt zu bekehren, nie ein Imperium gegründet. Alles, was es anstrebte, war ein kleines Land, das den Kindern Israels vom Schöpfer des Universums, an den Juden, Christen und Muslime gleichermaßen glauben, versprochen wurde.

Leider hatte Rabbi Isaak recht, und auch Raschi zitierte ihn zu Recht zu Beginn seines Tora-Kommentars. Das jüdische Volk würde in seinem Anrecht auf das Land von Menschen angefochten werden, die behaupten, denselben Gott anzubeten. Eben dieser Gott ruft uns heute zur Würde der menschlichen Person, der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und zum Gebot des Friedens auf. Und derselbe Gott sagt uns, dass in einer Welt mit 82 christlichen und 56 muslimischen Nationen auch Platz ist für einen kleinen jüdischen Staat.

[1] Der vorliegende Essay wurde von Rabbi Sacks im September 2010 verfasst. Als er Jahre später mit seiner Übersetzung der gesamten Tora begann, unterbreitete er eine radikal neue Übersetzung des ersten Satzes der Tora: „Bereschit bara Elokim…“ – „Als Gott zu erschaffen begann…“ Die vollständige Übersetzung von Rabbi Sacks ist im Koren Tanach erhältlich (Magerman Edition).

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