Mrz ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Das soziale Tier

Zu Beginn dieser Parascha nimmt Moses einen Tikun vor, eine Korrektur der Vergangenheit, nämlich der Sünde mit dem Goldenen Kalb. Die Tora signalisiert dies, indem sie zu Beginn beider Ereignisse im Wesentlichen ein und dasselbe Wort verwendet. Es wurde zu einem Schlüsselwort jüdischer Spiritualität: khl, „sammeln, versammeln, zusammen-kommen“. Von ihm leiten sich die Worte Kahal und Kehilla ab, die „Gemeinschaft“ oder „Gemeinde“ bedeuten. Das ist keineswegs nur ein Anliegen aus alter Zeit, sondern bleibt stets im Zentrum unseres Menschseins. Wie wir sehen werden, bestätigen neuere wissenschaftliche Untersuchungen die außerordentliche Kraft von Gemeinschaften und sozialen Netzwerken, die unser Leben prägen.

Doch wenden wir uns zunächst der biblischen Geschichte zu. Die Begebenheit mit dem Goldenen Kalb beginnt mit den Worten: „Als das Volk sah, dass Moses so lange brauchte, um vom Berg herabzukommen, versammelten sie sich [wajikahel] um Aaron“ (Exod. 32:1). Am Anfang unseres Wochenabschnitts beginnt Moses, nachdem er Gottes Vergebung erlangt und ein zweites Paar Gesetzestafeln herabgebracht hat, mit der Arbeit, das Volk aufs Neue einzuschwören:

„Moses versammelte [wajakhel] die ganze israelitische Gemeinde“ (Exod. 35:1).

Sie hatten als Gemeinschaft gesündigt. Nun sollten sie als Gemeinschaft wieder aufgebaut werden. Jüdische Spiritualität ist in erster Linie eine Spiritualität der Gemeinschaft.

Beachten wir auch, was Moses in dieser Parascha tut. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die beiden großen Zentren der Gemeinschaft im Judentum, das eine im Raum, das andere in der Zeit. Das zeitliche ist der Schabbat. Das räumliche Zentrum war der Mischkan, das Stiftzelt, das schließlich zum Tempel und später zur Synagoge führte. In ihnen pulsiert das Leben der Kehilla am intensivsten: am Schabbat, wenn wir unsere persönlichen Geräte und Wünsche abstellen und als Gemeinschaft zusammenkommen, und in der Synagoge, wo die Gemeinschaft ihr Zuhause hat.

Das Judentum misst dem Einzelnen große Bedeutung bei. Jedes Leben ist gleich einem Universum. Obwohl wir alle nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, ist jeder von uns anders, also einzigartig und unersetzlich. Doch als das erste Mal die Worte „nicht gut“ in der Tora auftauchen, ist es in dem Vers „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Gen. 2:18). Im Judentum geht es zu einem großen Teil um die Form und Struktur unseres Zusammenlebens. Es schätzt das Individuum, aber nicht den Individualismus.

Unsere Religion ist eine Religion der Gemeinschaft. Unsere heiligsten Gebete können nur in Anwesenheit eines Minjan, der Mindestdefinition einer Gemeinschaft, gesprochen werden. Wenn wir beten, tun wir es als Gemeinschaft. Martin Buber sprach vom „Ich und Du“, aber das Judentum ist in Wirklichkeit eine Sache des „Wir und Du“. Um die Sünde zu sühnen, die die Israeliten als Gemeinschaft begangen hatten, unternahm es Moses, die Gemeinschaft zeitlich und räumlich zu weihen.

Dies ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen der Tradition und der zeitgenössischen Kultur des Westens. Wir können das anhand der Titel von drei wegweisenden Büchern über die amerikanische Gesellschaft nachvollziehen. Im Jahr 1950 veröffentlichten David Riesman, Nathan Glazer und Reuel Denney ein aufschlussreiches Buch über den sich wandelnden Charakter der Amerikaner mit dem Titel Die einsame Masse. Im Jahr 2000 veröffentlichte der Harvard-Professor Robert Putnam das Buch Bowling Alone (Allein bowlen), in dem er darlegte, dass mehr Amerikaner als je zuvor zum Bowling gehen, aber weniger in Bowlingvereine eintreten. Im Jahr 2011 veröffentlichte Sherry Turkle vom Massachusetts-Institut für Technologie ein Buch über die Auswirkungen von Smartphones und der Software für soziale Netzwerke mit dem Titel Alone Together (Einsam zusammen).

Lassen Sie diese Titel auf sich wirken. Sie alle handeln von der fortschreitenden Flut der Einsamkeit, von den aufeinanderfolgenden Stadien des langen, kontinuierlichen Zusammenbruchs der Gemein-schaft im modernen Leben. Robert Bellah hat dies eloquent ausgedrückt, als er schrieb: „Die soziale Ökologie wird nicht nur durch Krieg, Völkermord und politische Unterdrückung beschädigt. Sie wird auch durch die Zerstörung jener zarten Bande verletzt, die die Menschen aneinander binden und ohne die sie verängstigt und allein zurückbleiben“.[1]

Deshalb sind die beiden Themen der Paraschat Wajakhel – der Schabbat und der Mischkan (heute die Synagoge) – auch heute noch sehr aktuell. Sie sind die Gegenmittel gegen die Schwächung der Gemeinschaft. Sie helfen, „die zarten Bande, die die Menschen aneinander binden“, wiederherzustellen. Sie verbinden uns wieder mit der Gemeinschaft.

Nehmen wir den Schabbat. Michael Walzer, Professor für politische Philosophie in Princeton, weist auf den Unterschied zwischen Feiertagen und heiligen Tagen hin (oder, wie er sagt, zwischen Feiertagen und Schabbat).[2] Die Idee des Urlaubs als privater „Feiertag“ ist relativ neu. Walzer führt sie auf die 1870er Jahre zurück. Wesentlich ist ihr individualistischer (oder familiärer) Charakter. „Jeder plant seinen eigenen Urlaub, fährt, wohin er will, und tut, was er will. Der Schabbat hingegen wird primär kollektiv begangen: „Du, dein Sohn und deine Tochter, dein Knecht und deine Magd, dein Ochse, dein Esel und all dein anderes Vieh und der Fremde in deinen Toren“ (Deut. 5:14). Er ist öffentlich, er wird geteilt, er gehört uns allen. Urlaub ist eine Ware. Wir kaufen ihn. Der Schabbat ist nicht etwas, das wir kaufen. Er steht allen zu gleichen Bedingungen zur Verfügung: „Allen geboten, von allen genossen.“ Wir machen Urlaub als Einzelne oder als Familien, doch wir feiern Schabbat als Gemeinschaft.

Ähnliches gilt für die Synagoge, die damals einzigartige jüdische Einrichtung, die schließlich vom Christentum und dem Islam in Form von Kirche und Moschee übernommen wurde. Wir haben bereits Robert Putnams Argument in Bowling Alone erwähnt, dass die Amerikaner immer individualistischer werden. Es gebe einen Verlust an „sozialem Kapital“, also an jenen Banden, die uns in gemeinsamer Verantwortung für das Gemeinwohl aneinander binden.

Ein Jahrzehnt später revidierte Putnam seine These.[3] Soziales Kapital, so Putnam, gebe es nach wie vor, und es sei in Kirchen und Synagogen zu finden. Regelmäßige Gottesdienstbesucher – so seine Untersuchungen – sind eher bereit, Geld für wohltätige Zwecke zu spenden, sich ehrenamtlich zu engagieren, Blut zu spenden, sich Zeit für einen Depressiven zu nehmen, einem Fremden einen Sitzplatz anzubieten, jemandem bei der Arbeitssuche zu helfen und viele andere Formen bürgerschaftlichen, moralischen und philanthropischen Engagements zu zeigen. Sie sind einfach mehr von der Gemeinschaft beseelt als andere. Regelmäßiger Gottesdienstbesuch ist der genaueste Prädiktor für Altruismus, mehr als jeder andere Faktor, einschließlich Geschlecht, Bildung, Einkommen, Rasse, Region, Familienstand, Ideologie und Alter.

Am faszinierendsten ist dabei die Erkenntnis, dass der Schlüsselfaktor die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft ist. Es stellte sich heraus, dass es dabei keine Rolle spielt, woran man glaubt. Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass ein Atheist, der regelmäßig ein Gotteshaus besucht (vielleicht um den Ehepartner oder ein Kind zu begleiten), eher bereit ist, ehrenamtlich in einer Suppenküche zu arbeiten, als ein tief gläubiger Mensch, der allein betet. Der Schlüsselfaktor ist wiederum die Gemeinschaft.

Das ist vielleicht eine der wichtigsten Funktionen von Religion in einem säkularen Zeitalter: die Gemeinschaft zu erhalten. Die meisten von uns brauchen Gemeinschaft. Wir sind soziale Tiere. Evolutionsbiologen haben in jüngster Zeit die Vermutung geäußert, dass die vergleichsweise enorme Größe des Gehirns des Homo sapiens vor allem dazu gedient hat, uns die Bildung größerer sozialer Netzwerke zu ermöglichen. Es ist die menschliche Fähigkeit, in großen Teams zusammenzuarbeiten – und nicht die Gabe der Vernunft -, die uns von anderen Tieren unterscheidet. Wie die Tora sagt, ist es nicht gut, allein zu sein.

Neuere Forschungen haben zudem etwas anderes gezeigt. Mit wem man zusammen ist, hat einen starken Einfluss darauf, was man tut und was man wird. Im Jahr 2009 analysierten Nicholas Christakis und James Fowler statistisch eine Gruppe von 5124 Personen und ihre 53.228 Beziehungen zu Freunden, Familienmitgliedern und Arbeitskollegen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit, mit dem Rauchen anzufangen, um 36 Prozent steigt, wenn ein Freund oder eine Freundin damit beginnt. Dasselbe gilt für Alkoholkonsum, Schlankheit, Fettleibigkeit und viele andere Verhaltensweisen.[4] Wir werden wie die Menschen, die uns nahestehen.

Eine Studie an Studenten des Dartmouth College aus dem Jahr 2000 ergab, dass sich die eigenen Leistungen verbessern, wenn man mit jemandem ein Zimmer teilt, der gute Studiengewohnheiten hat. Eine Princeton-Studie aus dem Jahr 2006 ergab, dass die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten zwei Jahren ein Kind zu bekommen, um 15 Prozent steigt, wenn ein Geschwisterkind ein Kind bekommt. Es gibt so etwas wie eine „soziale Ansteckung“. Wir werden zutiefst von unseren Freunden beeinflusst, wie Maimonides in seinem Gesetzeskodex, der Mischne Tora, feststellt.[5]

Damit sind wir wieder bei Moses und Wajakhel. Indem Moses die Gemeinschaft in den Mittelpunkt des religiösen Lebens stellte und ihr ein räumliches und zeitliches Zuhause gab – die Synagoge und den Schabbat -, zeigte er die Kraft der Gemeinschaft zum Guten, so wie die Geschichte vom Goldenen Kalb sie zum Bösen gezeigt hatte. Jüdische Spiritualität ist zu einem großen Teil zutiefst gemeinschaftlich. Deshalb definiere ich den jüdischen Glauben als die Erlösung von unserer Einsamkeit.

[1] Robert Bellah et al., Habits of the Heart: Individualism and Commitment in American Life (Berkeley, University of California Press, 1985), S. 284.

[2] Michael Walzer, Spheres of Justice (Oxford, Blackwell, 1983), S. 190–96.

[3] Robert Putnam and David E. Campbell, American Grace: How Religion Divides and Unites Us (New York, Simon & Schuster, 2010).

[4] Nicholas Christakis und James H. Fowler, Connected: The Surprising Power of Our Social Networks and How They Shape Our Lives (New York, Little, Brown, 2009).

[5] Siehe Maimonides, Mischne Tora, Hilchot De’ot 6:1.

  

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