Aug ‍‍2022 - תשפב / תשפג

Das Richtige und das Gute
Wa´etchanan

   Eingebettet in die berühmten Passagen des Wochenabschnitts Wa’etchanan – wie dem Sch’ma und den Zehn Geboten – befindet sich eine kurze Stelle, die für die Moralvorstellung im Judentum von weitreichender Bedeutung ist. Hier ist sie zusammen mit dem vorhergehenden Vers:

Seid äußerst achtsam, die Gebote des Ewigen, eures Gottes, und die Zeugnisse und Verordnungen, die Er euch auferlegt hat, zu befolgen. Tue, was in den Augen Gottes recht und gut ist, auf dass es dir wohl ergehe und du in das schöne Land ziehest, das Gott deinen Vätern mit einem Schwur zugesagt euch zu geben (Deut. 6:17-18).

Die Frage liegt auf der Hand. Der vorangehende Vers bezieht sich auf Gebote, Zeugnisse und Verordnungen. Das beträfe dem Anschein nach die Gesamtheit des Judentums, soweit es das Handeln angeht. Was ist dann aber mit der Formulierung „was recht und gut ist“ gemeint, das nicht schon im Vers davor gesagt wurde?

Raschi zufolge bezieht es sich auf „Kompromisse (das heißt, nicht strikt auf sein Recht zu bestehen) und Handlungen im Rahmen oder über den Buchstaben des Gesetzes hinaus (lifnim Mischurat Hadin)“. Das Gesetz gibt sozusagen eine Untergrenze vor: Diese müssen wir erfüllen. Ein ethisches Leben zielt jedoch auf mehr ab als nur das zu tun, was man tun muss.[1] Die Menschen, die uns durch ihre Güte und Redlichkeit besonders beeindrucken, sind nicht einfach jene, die das Gesetz befolgen. Die Heiligen und Helden der Ethik und Moral gehen darüber hinaus. Sie gehen einen Schritt weiter und tun mehr, als ihnen befohlen wird. Das ist es, was die Tora laut Raschi mit dem „was recht und gut ist“ meint.

Ramban zitiert zwar Raschi und pflichtet ihm auch bei, was er allerdings danach sagt, scheint doch in eine etwas andere Richtung zu gehen:

„Nachdem Moses gesagt hatte, dass du seine Zeugnisse und Verordnungen halten sollst, die Er dir geboten hat, sagt er nun, dass du auch dort, wo Er es dir nicht geboten hat, darauf achten sollst, das zu tun, was in Seinen Augen recht und gut ist, denn Er liebt das Richtige und Gute.

Dabei handelt es sich um einen wichtigen Grundsatz, ist es doch unmöglich, in der Tora alle Aspekte des Verhaltens des Menschen gegenüber seinen Nachbarn und Freunden, alle seine verschiedenen Geschäfte und die Verordnungen einer jeden Gesellschaft und eines jeden Landes zu berücksichtigen. Da Er aber viele von ihnen doch erwähnt hat, wie zum Beispiel ,Du sollst nicht als Verleumder umhergehen‘, ,Du sollst nicht Rache üben noch einen Groll hegen‘, ,Du sollst nicht untätig bei dem Blut deines Nächsten stehen‘, ,Du sollst dem Tauben nicht fluchen‘, ,Du sollst dich vor dem greisen Haupt erheben‘ und dergleichen mehr, fuhr Er nun allgemein fort zu sagen, dass man in allen Angelegenheiten das tun soll, was recht und gut ist. Dies bezieht sich sogar auf die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen und über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinauszugehen… So verhalte man sich in jedem Lebensbereich, bis man würdig sei, , rechtschaffen und gut ‘ genannt zu werden.“

Damit geht Ramban über den Punkt von Raschi hinaus, dass das Richtige und das Gute sich auf einen höheren Standard beziehen, als das Gesetz unbedingt verlangt. Es scheint eher so, als wolle Ramban uns sagen, dass es Aspekte des ethischen Lebens gäbe, die vom Rechtsprinzip überhaupt nicht erfasst werden. Das ist es, was er meint, wenn er sagt: „Es ist doch unmöglich, in der Tora alle Aspekte des Verhaltens des Menschen gegenüber seinen Nachbarn und Freunden zu berücksichtigen.“

Beim Recht geht es um Allgemeingültigkeit, um Grundsätze, die allerorts und zu jeder Zeit gelten: Du sollst nicht morden. Du sollst nicht rauben. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht lügen. Dennoch gibt es wichtige Aspekte eines ethischen Lebens, die keineswegs universell sind. Vielmehr hängen sie mit bestimmten Umständen und der Art und Weise zusammen, wie wir auf diese reagieren. Was bedeutet es, ein guter Ehepartner zu sein, ein guter Vater oder eine gute Mutter, ein guter Lehrer oder ein guter Freund? Was macht eine gute Führungskraft, einen guten Gefolgsmann oder Mitstreiter aus? Wann ist es sinnvoll, zu loben, und wann ist es angebracht, zu sagen: „Das hättest du besser machen können?“ Manche Aspekte eines ethischen Lebens lassen sich nicht auf Verhaltensregeln reduzieren, denn es kommt nicht nur darauf an, was wir tun, sondern auch auf die Art und Weise, in der wir es tun: mit Demut, Sanftmut, Sensibilität oder Takt.

Moral hat mit Menschen zu tun, und keine zwei Menschen sind einander gleich. Als Moses Gott bat, seinen Nachfolger zu berufen, begann er seine Bitte mit den Worten: „Gott, Herr des Geistes allen Fleisches“ (Numeri 27:16). Unsere Weisen kommentierten dies folgendermaßen: Moses wollte damit sagen, dass die Menschen sich alle voneinander unterscheiden. Deshalb bat er Gott, einen Führer zu wählen, der jeden Menschen als Individuum behandelt, wohl wissend, dass was für den einen hilfreich ist, für den anderen schädlich sein kann.[2] Diese Fähigkeit, eine angemessene Reaktion auf die jeweilige Person zum rechten Zeitpunkt zu finden, ist nicht nur eine wichtige Führungseigenschaft, sondern ein Merkmal menschlicher Güte im Allgemeinen.

Raschi beginnt seinen Kommentar zu Bereischit mit einer Frage: Wenn die Tora ein Buch des Gesetzes ist, warum beginnt sie dann nicht mit dem ersten Gebot, das den Kindern Israel insgesamt als Volk gegeben wurde, und das stattdessen erst in Exodus 12 erscheint? Weshalb enthält sie die Erzählungen über Adam und Eva, Kain und Abel, die Patriarchen und Matriarchen und ihre Kinder? Raschis Antwort hat nichts mit Moral zu tun, er sagt es habe vielmehr mit dem Recht des jüdischen Volkes auf sein Land zu zun. Der Neziw (R. Naphtali Zwi Juda Berlin; 1816-1893) schreibt jedoch, dass die Geschichten der Genesis uns lehren sollen, wie die Patriarchen aufrichtig waren in ihrem Umgang mit anderen, ja selbst mit Menschen, die Fremde und Götzendiener waren. Deshalb, so sagt er, wird die Genesis von den Weisen „das Buch der Redlichen“ genannt.[3]

Ethik ist nicht nur ein Regelwerk, nicht einmal ein so umfangreiches wie die 613 Gebote und ihre rabbinischen Ergänzungen. Sie umfasst auch die Art und Weise, wie wir auf Menschen als Individuen eingehen. In der Geschichte von Adam und Eva im Garten Eden geht es in gewisser Weise auch darum, was in ihrer Beziehung zueinander schieflief, als der Mann seine Frau als Ischa, „Frau“, bezeichnete – eine allgemeine Beschreibung, ein typologischer Begriff. Erst als er ihr einen eigenen Namen gab, Chawa, Eva, begegnete er ihr als Individuum in ihrer Einzigartigkeit, und erst dann machte Gott „Kleider aus Fellen für Adam und seine Frau und kleidete sie“ (Gen. 3:21).

Darin liegt auch der Unterschied zwischen dem Gott des Aristoteles und dem Gott von Abraham. Aristoteles glaubte, dass Gott nur das Allgemeine, nicht aber das Besondere kennt. Dies ist der Gott der Wissenschaft, der Aufklärung, von Spinoza. Der Gott Abrahams hingegen ist der Gott, der sich an uns in unserer Einzigartigkeit wendet, in dem, was uns von anderen unterscheidet, ebenso wie in dem, was wir gemeinsam haben.

Dies ist letztlich der Unterschied zwischen den beiden wichtigsten Grundsätzen jüdischer Ethik: Gerechtigkeit und Liebe. Gerechtigkeit ist universell. Sie behandelt alle Menschen gleich, die Reichen wie die Armen, die Mächtigen wie die Ohnmächtigen, und kennt keine Unterschiede aufgrund von Hautfarbe oder Klasse. Liebe hingegen ist auf das Besondere gerichtet. Eltern lieben ihre Kinder für das, was ein jedes von ihnen einzigartig macht. Das ethische Leben ist eine Kombination aus diesen beiden Aspekten. Deshalb kann es nicht allein auf allgemein gültige Gesetze reduziert werden. Das meint die Tora, wenn sie über die Gebote, Zeugnisse und Verordnungen hinaus von dem, was „recht und gut ist“ spricht.

Ein guter Lehrer weiß, was er zu einem leistungsschwächeren Schüler sagen muss, der dank großer Bemühungen besser als erwartet abgeschnitten hat, und was er einem begabten Schüler zu sagen hat, der zwar Klassenbester ist, aber immer noch unter seinen Möglichkeiten arbeitet. Ein guter Arbeitgeber weiß, wann er seine Mitarbeiter loben und wann er sie fordern muss. Wir alle müssen genau wissen, wann wir auf Recht und Gesetz bestehen und wann wir Vergebung üben müssen. Die Menschen, die einen maßgeblichen Einfluss auf unser Leben nahmen und nehmen, sind fast immer diejenigen, von denen wir den Eindruck haben, dass sie uns in unserer Einzigartigkeit verstehen. Wir sind für sie nicht einfach ein Gesicht in der Masse. Aus diesem Grund beinhaltet Moral zwar universelle Richtlinien und kommt ohne sie gewiss nicht aus; sie beinhaltet aber auch Zusammenhänge und Begegnungen, die sich nicht auf Regeln reduzieren lassen.

Israel Friedmann von Ruschyn (1796-1850) fragte einmal einen seiner Schüler, wie viele Abschnitte der Schulchan Aruch habe. Der Schüler antwortete: „Vier.“ Der Ruschyner fragte nun: „Was kannst du mir über den fünften Abschnitt sagen?“ „Es gibt doch aber keinen fünften Abschnitt“, entgegnete der Schüler. „Doch, es gibt ihn“, sagte der Ruschyner. „Und er lautet: In deinem Umgang mit anderen sei ein Mentsch.“

Der fünfte Abschnitt des Gesetzbuches ist das Verhalten, das sich nicht auf Rechtsvorschriften reduzieren lässt. Darauf kommt es an, um das Richtige und das Gute zu tun.

[1] Siehe Lon Fuller, The Morality of Law (New Haven, Connecticut, Yale University Press, 1969), und Rabbi Aharon Lichtensteins oft nachgedruckter Artikel Does Jewish Tradition Recognize an Ethic Independent of the Halakhah? in Modern Jewish Ethics, herausgegeben von Marvin Fox (Columbus, Ohio State University Press, 1975), Seiten 62-88.

[2] Sifrej Suta, Midrasch Tanchuma und Raschi zu Numeri zur Stelle.

[3] Ha’emek Dawar, Genesis, Einleitung.

  1. Was bedeutet es, über die offensichtlichen ethischen Regeln hinaus, ein guter Freund zu sein?
  2. Welche alltäglichen Begegnungen lassen sich nicht auf Regeln reduzieren, obwohl Sie das Gefühl haben, dass es dabei durchaus einen richtigen und guten Weg gibt?
  3. Wie können wir unsere zwischenmenschlichen Kontakte so gestalten, dass wir jedermann immer wie einen Menschen behandeln?

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