Jul ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Bis 120

Bis 120: Alt werden, jung bleiben

   Am 27. März 2012 fand zur Feier des diamantenen Thronjubiläums von Elisabeth II. eine historische Zeremonie im Buckingham Palace statt. Eine Reihe von Institutionen richteten Loyalitätsadressen an die Königin und dankten ihr für ihren Dienst an der Nation, so auch das Board of Deputies of British Jews, der Abgeordnetenrat der britischen Juden. Der damalige Präsident, Vivian Wineman, schloss in seine Rede den bei solchen Anlässen üblichen jüdischen Segen ein. Er wünschte ihr alles Gute „bis 120“.

Die Königin war amüsiert und sah Prinz Philip fragend an. Beide hatten diesen Ausdruck nie zuvor gehört. Später fragte uns der Prinz, was er bedeute, und wir erklärten es ihm. 120 wird in Genesis 6:3 als die äußerste Grenze eines normalen Menschenlebens angegeben. Diese Zahl wird vor allem mit Moses in Verbindung gebracht, von dem die Tora sagt:

„Moses war 120 Jahre alt, als er starb, doch sein Auge war nicht trübe geworden, und seine natürliche Lebenskraft nicht geschwunden“ (Exod. 34:7).

Neben Abraham, einem Mann von ganz anderer Wesensart und anderen Lebensumständen, ist Moses ein Musterbeispiel dafür, wie man gut altert. Angesichts der zunehmenden Langlebigkeit der Menschen ist dies für viele von uns zu einer wichtigen und schwierigen Frage geworden. Wie können wir alt werden und doch jung bleiben?

Die nachhaltigste Forschungsarbeit zu diesem Thema ist die 1938 begonnene Grant-Studie, die das Leben von 268 Harvard-Studenten fast achtzig Jahre lang mit dem Ziel beobachtete, zu verstehen, welche Merkmale – von Persönlichkeitstyp und Intelligenz bis hin zu Gesundheit, Gewohnheiten und Beziehungen – zum Erfolg und Wohlbefinden eines Menschen beitragen. Über dreißig Jahre wurde das Projekt von George Vaillant geleitet, der dieses faszinierende Gebiet in seinen Büchern Aging Well [Gut altern] und Triumphs of Experience [Triumphe der Erfahrung] näher beleuchtet hat.[1]

Unter den vielen Dimensionen eines erfolgreichen Alterns nennt Vaillant zwei, die im Fall von Moses besonders relevant sind. Die erste ist das, was er die „Generativität“[2] nennt, das heißt die menschliche Fähigkeit, sich in Gedanken und Taten um die nächste Generation zu kümmern. Er zitiert John Kotre, der dies als die Fähigkeit definiert, „die eigene Substanz in Formen des Lebens und der Arbeit zu investieren, die das Selbst überdauern werden“.[3] In der Mitte unseres Lebens oder auch später, wenn wir uns bereits eine Karriere, einen Ruf und eine Reihe von Beziehungen aufgebaut haben, können wir entweder stagnieren oder uns entscheiden, anderen etwas zurückzugeben: der Gemeinschaft, der Gesellschaft und der nächsten Generation. Generativität zeichnet sich häufig dadurch aus, dass wir neue Projekte in Angriff nehmen, oft auf ehrenamtlicher Basis, oder dass wir neue Fähigkeiten erlernen. Sie zeichnet sich durch Offenheit und Achtsamkeit aus.

Die andere gewichtige Dimension ist das, was Vaillant als Hüter des Sinns bezeichnet. Damit meint er die Weisheit, die mit dem Alter kommt und die in traditionellen Gesellschaften oft mehr geschätzt wird als in modernen oder postmodernen Gesellschaften. Die „Ältesten“, von denen im Tanach die Rede ist, sind Menschen, die aufgrund ihrer Erfahrung geschätzt werden. „Frag deinen Vater, und er wird es dir sagen; deine Ältesten, und sie werden es dir erklären“, heißt es in der Tora (Deut. 32:7). „Findet man nicht Weisheit bei den Betagten? Bringt ein langes Leben nicht Einsicht?“ heißt es im Buch Hiob (12:12).

Ein Hüter des Sinns zu sein bedeutet, die Werte der Vergangenheit an die Zukunft weiterzugeben. Das Alter bringt die Besonnenheit und den Abstand mit sich, die es uns ermöglichen, Distanz zu wahren und uns nicht von der Stimmung des Augenblicks, der Mode oder dem Wahnsinn der Menge mitreißen zu lassen. Wir brauchen diese Weisheit, vor allem in einer so schnelllebigen Zeit wie der unseren, in der Menschen, die noch recht jung sind, bereits große Erfolge feiern können. Wenn Sie sich die Karrieren der jüngsten Ikonen wie Bill Gates, Larry Page, Sergey Brin und Mark Zuckerberg ansehen, werden Sie feststellen, dass sie sich irgendwann an ältere Mentoren gewandt haben, die ihnen halfen, durch die Stromschnellen des Erfolgs zu navigieren. Assej lecha Raw, „Nimm dir einen Lehrer“ (Awot 1:6, 16), bleibt ein wichtiger Rat.

Das Buch Dewarim, das vollständig im letzten Lebensmonat Moses’ spielt, zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie sich der gealterte, aber immer noch leidenschaftliche und zielstrebige Führer der doppelten Aufgabe als Schöpfer und Hüter des Sinns stellt.

Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, sich in eine innere Welt der Erinnerung zurückzuziehen und vor dem geistigen Auge die Leistungen eines außergewöhnlichen Lebens Revue passieren zu lassen, in welchem er von Gott auserkoren worden war, ein ganzes Volk aus der Sklaverei in die Freiheit und bis an die Grenze des Gelobten Landes zu führen. Oder er hätte seinen Misserfolgen nachsinnen können, vor allem der Tatsache, dass er das Land, zu dem er das Volk vierzig Jahre lang hingeführt hatte, nie betreten würde. Es gibt Menschen – wir kennen sie alle -, die von dem Gefühl verfolgt werden, nicht die Anerkennung erhalten zu haben, die ihnen gebührt, oder nicht den Erfolg erreicht zu haben, von dem sie in jungen Jahren geträumt haben.

Moses tat nichts von alledem. Stattdessen wandte er sich in seinen letzten Tagen der nächsten Generation zu und nahm eine neue Aufgabe in Angriff. Er war nicht mehr Moses der Befreier und Gesetzgeber, sondern er übernahm die Rolle, für die er in der Tradition bekannt ist: Mosche Rabbejnu, „Moses, unser Lehrer“. In gewisser Weise war dies seine größte Leistung.

Er sagte den jungen Israeliten, wer sie waren, woher sie kamen und was ihre Bestimmung war. Er gab ihnen Gesetze, und zwar auf eine neue Art und Weise. Nicht mehr die göttliche Begegnung wie in Wajikra oder die Opfer wie in Bamidbar standen im Mittelpunkt, sondern die Gesetze in ihrem sozialen Kontext. Er sprach von Gerechtigkeit, von der Fürsorge für die Armen, von der Rücksichtnahme auf Arbeitnehmer, von der Liebe zu den Fremden. Er legte die Grundlagen des jüdischen Glaubens so systematisch dar wie in keinem anderen Buch des Tanach. Er erzählte ihnen von der Liebe Gottes zu ihren Vorfahren und forderte sie auf, diese Liebe mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft zu erwidern. Er erneuerte den Bund und erinnerte das Volk an die Segnungen, die es genießen würde, wenn es Gott treu bliebe, und an die Flüche, die es ereilen würden, wenn es dies nicht täte. Er lehrte sie das große Lied Ha’asinu und gab den Stämmen auf seinem Sterbebett seinen Segen.

Er hat sie gelehrt, was Generativität bedeutet, indem er ein Vermächtnis hinterließ, das ihn überdauern sollte. Und er hat ihnen gezeigt, was es heißt, ein Hüter des Sinns zu sein, indem er all seine Weisheit in die Reflexion über die Vergangenheit und die Zukunft einbrachte und der Jugend das Geschenk seiner langen Erfahrung machte. Durch sein persönliches Beispiel hat er ihnen gezeigt, was es heißt, alt zu werden und doch jung zu bleiben.

Ganz am Ende des Buches lesen wir, dass im Alter von 120 Jahren Moses’ „Auge nicht trübe geworden und seine natürliche Lebenskraft nicht geschwunden war“ (Deut. 34:7). Ich dachte immer, dass es sich hierbei lediglich um zwei Beschreibungen handle, bis ich erkannte, dass die erste die Erklärung für die zweite ist. Moses’ Energie war ungebrochen, weil sein Blick ungetrübt blieb, was bedeutet, dass er nie den Idealismus seiner Jugend, seine Leidenschaft für Gerechtigkeit und die Verantwortung, die die Freiheit mit sich bringt, verloren hatte.

Es ist allzu leicht, seine Ideale aufzugeben, wenn man sieht, wie schwierig es ist, auch nur den kleinsten Teil der Welt zu verändern. Und wenn man dies tut, wird man zynisch, desillusioniert und entmutigt. Das ist eine Art spiritueller Tod. Diejenigen, die dies nicht tun, die niemals aufgeben, die „nicht gelassen in die gute Nacht gehen“,[4] die immer noch eine Welt voller Möglichkeiten um sich herum sehen und jene ermutigen und befähigen, die ihre Nachfolge antreten werden, deren spirituelle Energie bleibt intakt.

Manche Menschen leisten ihre beste Arbeit in jungen Jahren. Felix Mendelssohn schrieb mit 16 Jahren das Oktett für vier Violinen und ein Jahr später die Ouvertüre zum Sommernachtstraum – die größten Musikstücke, die je von einem so jungen Komponisten geschaffen wurden. Orson Welles hatte bereits große Erfolge am Theater und im Radio gefeiert, als er mit 26 Jahren Citizen Kane drehte, eines der bahnbrechendsten Werke der Filmgeschichte.

Aber es gab auch viele andere, die mit zunehmendem Alter immer besser wurden. Mozart und Beethoven waren beide Wunderkinder und schrieben ihre beste Musik in den letzten Jahren ihres Lebens. Claude Monet malte seine schillernden Seerosen­landschaften in seinem Garten in Giverny in seinen Achtzigern. Verdi schrieb Falstaff im Alter von 85 Jahren. Benjamin Franklin erfand mit 78 Jahren die Bifokalbrille. Der Architekt Frank Lloyd Wright vollendete die Entwürfe für das Guggenheim-Museum im Alter von 92 Jahren. Michelangelo, Tizian, Matisse und Picasso waren bis ins neunte Lebensjahrzehnt kreativ. Judith Kerr, die 1933, als Hitler an die Macht kam, nach Großbritannien kam und den Kinderbuchklassiker Ein Tiger kommt zum Tee schrieb, erhielt kürzlich im Alter von 93 Jahren ihren ersten Literaturpreis. David Galenson argumentiert in seinem Buch Old Masters and Young Genies [Alte Meister und junge Genies], dass konzeptionelle Innovatoren ihre beste Arbeit in jungen Jahren leisten, während experimentelle Innovatoren, die durch Versuch und Irrtum lernen, mit zunehmendem Alter besser werden.[5]

Es ist bewegend zu sehen, wie Moses mit fast 120 Jahren nach vorne und zurück blickt und seine Weisheit mit der Jugend teilt. Er lehrt uns, dass der Körper zwar altern mag, aber der Geist jung bleiben kann ad mea we’esrim, bis 120, wenn wir uns unsere Ideale bewahren, der Gemeinschaft etwas zurückgeben und unsere Weisheit mit jenen teilen, die nach uns kommen werden, um sie zu inspirieren, das fortzuführen, was wir nicht vollenden konnten.

[1] George Vaillant, Aging Well (Little, Brown, 2003); Triumphs of Experience (Harvard University Press, 2012).

[2] Das Konzept geht auf die Arbeiten von Erik Erikson zurück, der Generativität – und ihr Gegenteil, die Stagnation – als eine der acht Entwicklungsstufen des Lebens betrachtete.

[3] John Kotre, Outliving the Self: Generativity and the Interpretation of Lives (Baltimore, Johns Hopkins University Press, 1984), S.10.

[4] Die erste Zeile von Dylan Thomas’ gleichnamigem Gedicht.

[5] David Galenson, Old Masters and Young Geniuses (Princeton University Press, 2007).

 

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