Jun ‍‍2023 - תשפג / תשפד

Aus der Verzweiflung zur Hoffnung

   Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen eine Passage in der Parascha dieser Woche für mich geradezu lebensrettend war. Keine Führungsposition ist leicht. Juden zu leiten ist noch schwieriger. Und die geistliche Führung kann die schwierigste von allen sein. Führungskräfte treten in der Öffentlichkeit meist ruhig, positiv, optimistisch und entspannt auf. Wenn wir jedoch erkennen, wie tief die Gräben zwischen den Menschen sind, wie hartnäckig die Probleme sind, mit denen wir konfrontiert sind, und wie dünn das Eis ist, auf dem wir stehen, können wir hinter dieser Fassade Stürme der Gefühle erleben. Vielleicht erleben wir alle irgendwann in unserem Leben solche Momente, in denen wir zwar wissen, wo wir stehen und wohin wir wollen, aber einfach keinen Weg von hier nach dort sehen. Und das ist die Vorstufe zur Verzweiflung.

Wann immer mir so zumute war, dachte ich an den erschütternden Moment in unserem Wochenabschnitt, als Moses seinen Tiefpunkt erreichte. Der Auslöser war scheinbar unbedeutend. Das Volk ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach: sich über das Essen zu beklagen. Mit selbsttäuschender Nostalgie sprachen sie von den Fischen, die sie in Ägypten gegessen hatten, und von den Gurken, Melonen, Lauch, Zwiebeln und Knoblauch. Nicht die Spur der Erinnerung an ihre Sklaverei. Alles, woran sie sich erinnern konnten, war die ägyptische Küche. Verständlicherweise war Gott darüber sehr erzürnt (Num. 11:10). Moses aber war mehr als nur wütend. Er erlitt einen regelrechten emotionalen Zusammenbruch. Er sagte zu Gott:

„Warum hast du dieses Übel über deinen Knecht gebracht? Warum habe ich keine Gnade in deinen Augen gefunden, dass du mir die Last dieses ganzen Volkes auferlegt hast? Habe ich etwa dieses ganze Volk gezeugt? Habe ich es denn geboren, dass Du zu mir sprichst: ,Trage es auf Deinem Schoß, wie eine Amme ein Kind trägt?‘ … Woher soll ich denn Fleisch nehmen, um es diesem ganzen Volk zu geben, wenn sie vor mir weinen und sagen: ,Gib uns Fleisch zu essen!‘ Ich allein kann dieses ganze Volk nicht tragen. Es ist mir zu schwer. Willst Du so mit mir verfahren, so töte mich doch lieber, wenn ich Gnade vor Deinen Augen gefunden habe, damit ich mein Unglück nicht sehen muss“ (Num. 11:11-15).

Das ist für mich der Gradmesser der Verzweiflung. Wann immer ich mich nicht imstande fühlte, weiterzumachen, las ich diesen Absatz und dachte mir: „Wenn ich diesen Punkt noch nicht erreicht habe, dann ist doch alles in Ordnung.“ Irgendwie war es ermutigend zu wissen, dass der größte jüdische Führer aller Zeiten diese tiefe Finsternis erlebt hatte. Es heißt, dass das Gefühl, versagt zu haben, nicht unbedingt bedeutet, dass man tatsächlich gescheitert ist. Es bedeutet nur, dass man noch nicht erfolgreich gewesen ist. Und noch weniger bedeutet es, dass man ein Versager ist. Ganz im Gegenteil: Misserfolge haben jene, die Risiken eingehen; und die Bereitschaft, Risiken einzugehen, ist unbedingt notwendig, wenn man versucht, die Welt zum Besseren zu verändern, und sei es auch noch so geringfügig.

Das Bemerkenswerte am Tanach ist, wie er diese dunklen Nächte der Seele im Leben einiger der größten Helden des Geistes dokumentiert. Moses war nicht der einzige Prophet, der darum betete, dass er sterben möge. Drei andere taten dies ebenfalls: Elia (I Könige 19:4), Jeremia (Jer. 20:7-18) und Jona (Jona 4:3). [1]

Die Psalmen, insbesondere jene, die König David zugeschrieben werden, sind durchzogen von Momenten der Verzweiflung:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Psalm 22:2).

„Aus der Tiefe rufe ich zu Dir“ (Psalm 130:1).

„Ich bin ein hilfloser Mann, verlassen unter den Toten… Du hast mich in die tiefste Grube geworfen, in die Finsternis, in die Tiefe“ (Psalm 88:5-7).

Was uns der Tanach in diesen Geschichten eröffnet, ist zutiefst befreiend. Das Judentum ist kein Rezept für Glückseligkeit. Es ist keine Garantie, von Kummer und Schmerz verschont zu bleiben. Es ist nicht das, was die Stoiker anstrebten, Apathie, ein von Leidenschaften ungestörtes Leben. Ebenso wenig ist es ein Weg zum Nirwana, wo sich die Intensität der Emotionen in der Auslöschung des Selbst erfüllt. Diese Dinge haben ihre eigene spirituelle Schönheit, und ihre Entsprechungen finden sich in den mystischeren Strömungen des Judentums. Aber sie sind nicht die Welt der Helden und Heldinnen des Tanach.

Und warum? Weil das Judentum ein Glaube für jene ist, die die Welt verändern wollen. Das ist ungewöhnlich in der Geschichte des Glaubens. In den meisten Religionen geht es darum, die Welt so hinzunehmen, wie sie ist. Das Judentum ist ein Protest gegen die Welt, wie sie ist, im Namen der Welt, wie sie sein sollte. Jude zu sein bedeutet, etwas verändern zu wollen, das Leben zum Besseren zu wenden, einige der Narben unserer zerbrochenen Welt zu heilen. Doch die Menschen mögen keine Veränderungen. Und deshalb fanden Moses, David, Elia und Jeremia das Leben so schwer.

Wir können genau sagen, was Moses zur Verzweiflung brachte. Er stand schon einmal vor einer ähnlichen Herausforderung. Schon im Buch Exodus hatte das Volk die gleiche Beschwerde vorgebracht:

„Wären wir doch in Ägypten durch Gottes Hand gestorben, als wir an den Fleischtöpfen saßen und uns an Brot satt aßen; denn du hast uns in diese Wüste geführt, um diese ganze Gemeinde verhungern zu lassen“ (Exod. 16:3).

Damals geriet Moses nicht in eine Krise. Das Volk hatte Hunger und brauchte Nahrung. Das war ein berechtigtes Anliegen.

Seitdem aber hatten sie die beiden Höhepunkte der Offenbarung am Berg Sinai und den Bau des Stiftszeltes erlebt. Sie waren Gott näher gekommen, als es je einem Volk vergönnt war. Sie haben auch nicht gehungert. Es gab keine Klagen, dass sie nichts zu essen hätten. Schließlich hatten sie ja das Manna. Stattdessen beschwerten sie sich, dass es langweilig war: „Jetzt haben wir den Appetit verloren (wörtlich: „unsere Seele ist ausgetrocknet“); wir sehen nie etwas anderes als dieses Manna“ (Num. 11:6). Sie waren zu geistigen Höhen aufgestiegen, aber sie blieben dasselbe widerspenstige, undankbare, kleinmütige Volk, das sie zuvor gewesen waren.[2]

Das war es, was bei Moses das Gefühl auslöste, dass seine gesamte Mission gescheitert war und weiterhin scheitern würde. Seine Aufgabe war es, den Israeliten zu helfen, eine Gesellschaft zu schaffen, die das Gegenteil von Ägypten sein sollte, eine Gesellschaft, die befreit und nicht unterdrückt, die Würde verleiht und nicht versklavt. Aber das Volk hatte sich nicht geändert. Schlimmer noch, es hatte sich in die absurdeste Nostalgie nach dem Ägypten geflüchtet, das es verlassen hatte: Erinnerungen an Fisch, Gurken, Knoblauch und den Rest. Moses hatte entdeckt, dass es leichter war, die Israeliten aus Ägypten herauszuführen, als Ägypten aus den Israeliten. Wenn das Volk sich bis jetzt nicht geändert hatte, war die Annahme gerechtfertigt, dass es sich nie ändern würde. Moses sah seiner Niederlage ins Auge. Es war sinnlos, weiterzumachen.

Doch Gott tröstete ihn. Zuerst sagte Er ihm, er solle siebzig Älteste versammeln, die mit ihm die Last der Leitung teilen würden. Dann sagte Er ihm, er solle sich keine Sorgen um das Essen machen. Das Volk würde bald Fleisch im Überfluss haben. Es kam in Form einer riesigen Lawine von Wachteln. Das Erstaunlichste an dieser Geschichte ist, dass Moses danach wie ausgewechselt zu sein scheint. Als er von Josua darauf hingewiesen wird, dass seine Führungsposition in Frage gestellt werden könnte, antwortet er: „Bist du etwa eifersüchtig auf mich? Wenn nur das ganze Volk des Ewigen Propheten wäre und Gott Seinen Geist auf sie legen würde“ (Num. 11:29). Im nächsten Kapitel, als sein eigener Bruder und seine eigene Schwester anfangen, ihn zu kritisieren, reagiert er mit völliger Gelassenheit. Als Gott Miriam bestraft, betet Moses für sie. An dieser Stelle der langen biblischen Erzählung vom Leben des Moses heißt es in der Tora: „Der Mann Moses war sehr demütig, mehr als alle Menschen auf Erden“ (Num. 12:3).

Die Tora gibt uns einen bemerkenswerten Einblick in die Psychodynamik einer emotionalen Krise. Das erste, was sie uns sagt, ist, dass es inmitten der Verzweiflung wichtig ist, nicht allein zu sein. Gott spielt die Rolle des Trösters. Er ist es, der Moses aus dem Abgrund der Verzweiflung hebt. Er spricht Moses direkt an. Er sagt ihm, dass er in Zukunft nicht mehr allein führen muss. Andere werden ihm helfen. Dann sagt Er ihm, er solle sich keine Sorgen um die Klagen des Volkes machen. Bald würden sie so viel Fleisch haben, dass ihnen davon schlecht werde, und sie würden sich nicht mehr über das Essen beklagen. Das Grundprinzip ist das, was die Weisen meinten, als sie sagten: „Ein Gefangener kann sich nicht selbst aus dem Gefängnis befreien“ (Berachot 5b). Es bedarf eines anderen, der einen aus der Depression befreit. Deshalb besteht das Judentum so sehr darauf, Menschen in Zeiten größter Verletzlichkeit nicht allein zu lassen. Daher die Grundsätze, Kranke zu besuchen, Trauernde zu trösten, die Einsamen („Fremde, Waisen und Witwen“) in die Feste einzubeziehen und Gastfreundschaft zu gewähren – ein Akt, von dem es heißt, er sei „größer als der Empfang der Schechina“. Gerade weil die Depression einen von den anderen isoliert, verstärkt die Einsamkeit die Verzweiflung. Wir wissen nicht genau, was die siebzig Ältesten getan haben, um Moses zu helfen. Aber ihre bloße Anwesenheit ihm zur Seite war Teil der Heilung.

Darüber hinaus sagt uns die Tora damit, dass das Überleben von Verzweiflung eine charakterverändernde Erfahrung ist. Wenn dein Selbstwertgefühl zu Staub zerfällt, erkennst du mit einem Mal, dass es im Leben nicht um dich geht. Es geht um andere, um Ideale, um ein Gefühl der Mission oder Berufung. Was zählt, ist die Aufgabe, nicht die Person. Das ist wahre Demut. Ein weiser Satz, der C. S. Lewis zugeschrieben wird, lautet: Demut bedeutet nicht, weniger von sich selbst zu halten, sondern weniger an sich selbst zu denken.

Wenn Sie es so weit geschafft haben, selbst wenn Sie dies die schmerzhaftesten Erfahrungen gekostet hat, dann sind Sie stärker, als Sie es je für möglich gehalten hätten. Sie haben gelernt, Ihr Selbstbild nicht mehr auf die Waagschale zu werfen. Sie haben gelernt, überhaupt nicht mehr in Kategorien des Selbstbildes zu denken. Das ist es, was Rabbi Jochanan meinte, als er sagte: „Größe ist Demut.“[3]

Größe ist ein Leben, das nach außen gerichtet ist, so dass einem das Leiden anderer Menschen wichtiger ist als das eigene. Menschliche Größe zeichnet sich durch die Kombination von Stärke und Sanftmut aus, die zu den heilendsten Kräften im menschlichen Leben gehören.

Moses hielt sich für einen Versager. Daran sollten wir uns erinnern, wann immer wir uns für Versager halten. Sein Weg von der Verzweiflung zur selbstlosen Stärke ist eine der großen psychologischen Erzählungen der Tora, ein zeitloses Lehrstück der Hoffnung.

[1] Das gilt natürlich auch für Hiob, aber Hiob war kein Prophet und – nach Meinung vieler Kommentatoren – nicht einmal Jude. Im Buch Hiob geht es um eine ganz andere Frage, nämlich: Warum widerfährt guten Menschen Böses? Diese Frage bezieht sich auf Gott, nicht auf die Menschen. 4:5.

[2] Man beachte, dass der Text die Beschwerde dem Asafsuf, dem Gesindel, dem Pöbel, zuschreibt, worunter einige Ausleger die „gemischte Schar“ verstehen, die sich den Israeliten beim Exodus anschloss.

[3]Pessikta Sutrata, Ejkew.

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