Jul ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Führen heißt zuhören

„Wenn ihr nur auf diese Rechtsvorschriften höret…“ (Deut. 7:12). Diese Worte, mit denen unser Wochenabschnitt beginnt, enthalten ein Verb, das dem Buch Dewarim als ein grundlegendes Motiv dient. Es ist das auf dem dreibuchstabigen Wortstamm sch-m-a aufbauende Verb. Es kommt in der Parascha der letzten Woche in dem wohl berühmtesten Satz des Judentums vor, dem Sch’ma Jisrael. Später auch in der Parascha dieser Woche im zweiten Absatz des Sch’ma: „Und es wird geschehen, so ihr gut auf meine Gebote höret [schamoa tischme’u]“ (Deut. 11:13). Tatsächlich kommt dieses Verb nicht weniger als 92 Mal im gesamten Buch Dewarim vor.

Wir übersehen oft die Bedeutung dieses Wortes aufgrund dessen, was ich den Irrtum der Übersetzbarkeit nenne: die Annahme, dass eine Sprache vollständig in eine andere übertragbar sei. Wir hören ein Wort aus einer Sprache in eine andere übersetzt und glauben, dass es in beiden dasselbe bedeutet. Aber dies ist häufig nicht der Fall. Sprachen sind nur zum Teil ineinander übersetzbar.[1] Die Schlüsselbegriffe der einen Kultur lassen sich oftmals nicht adäquat in der Sprache einer anderen wiedergeben. Das griechische Wort megalopsychos zum Beispiel, Aristoteles’ „großgesinnter Mensch“, der groß ist und weiß, dass er es ist, und sich mit aristokratischem Stolz trägt, ist nicht in ein moralisches System wie das Judentum übersetzbar, wo Demut eine Tugend ist. Das deutsche Wort „Taktgefühl“ hat keine genaue Entsprechung im Hebräischen. Und so weiter.

Dies gilt insbesondere für das hebräische Verb sch-m-a. Nehmen wir zum Beispiel nur die verschiedenen Arten, wie die einleitenden Worte unseres Wochenabschnitts aus dem Hebräischen übersetzt worden sind:

 Wenn ihr diesen Geboten lauscht

 Wenn ihr diese Gesetze vollständig befolgt

 Wenn ihr diese Gesetze beachtet

 Wenn ihr diese Verordnungen beherzigt

 Denn ihr hört diese Urteile…

Es gibt kein einziges deutsches Wort[2], das zugleich „hören“, „lauschen“, „beherzigen“, „beachten“ und „befolgen“ bedeutet. Sch-m-a heißt auch „verstehen“, wie in der Geschichte vom Turmbau zu Babel, als Gott sagt: „Wohlan, lasst uns hinabsteigen und ihre Sprache verwirren, damit sie einander nicht verstehen [jischme’u]“ (Gen. 11:7).

Wie ich argumentativ an anderer Stelle bereits hervorgehoben habe: Eine der markantesten Tatsachen hinsichtlich der Tora ist, dass sie, trotz ihrer 613 Gebote, kein Wort enthält, das „gehorchen“ bedeutet. Als ein solches Wort im modernen Hebräisch gebraucht wurde, hat man das Verb l’tzajet aus dem Aramäischen entlehnt. Das Verb, das die Tora anstelle von „gehorchen“ verwendet, ist sch-m-a. Dies ist von allerhöchster Bedeutung. Es bezeichnet, dass blinder Gehorsam keine Tugend im Judentum ist. Gott will, dass wir die Gesetze, die er uns befohlen hat, verstehen. Er möchte, dass wir darüber nachdenken: warum gerade dieses und nicht jenes Gesetz. Er wünscht, dass wir hören, nachdenken, versuchen zu verstehen, verinnerlichen und darauf reagieren. Er möchte, dass wir ein Volk werden, das zuhlört.

Das antike Griechenland war eine visuelle Kultur, eine Kultur der Kunst, der Architektur, des Theaters und des Spektakels. Für die Griechen im Allgemeinen und für Platon im Besonderen war das Wissen eine Form des Sehens. Das Judentum ist, wie Freud in Moses und der Monotheismus dargelegt hat,[3] eine nicht-visuelle Kultur. Wir beten einen Gott an, der nicht gesehen werden kann; und das Anfertigen heiliger Bilder, Ikonen, ist absolut verboten. Im Judentum sehen wir Gott nicht; wir hören Gott. Erkenntnis ist eine Form des Hörens. Ironischerweise hat Freud selbst, der zwar dem Judentum zutiefst ambivalent gegenüberstand, in der Psychoanalyse die Hörkur begründet: Zuhören als Therapie.[4]

Daraus folgt, dass im Judentum das Hören ein zutiefst spiritueller Akt ist. Gott zuzuhören heißt, sich Gott zu öffnen. Das ist es, was Moses im gesamten Buch Dewarim sagt: „Wenn ihr nur zuhören würdet.“ So ist es auch mit der Führung – in der Tat mit allen Formen der zwischenmenschlichen Beziehung. Oft besteht das größte Geschenk, das wir jemandem machen können, darin, ihm zuzuhören.

Viktor Frankl, der Auschwitz überlebte und später eine neue Form der Psychotherapie erschloss, die auf der „Sinnsuche des Menschen“ basiert, erzählte einmal die Geschichte von einer seiner Patientinnen, die ihn mitten in der Nacht anrief, um ihm in aller Ruhe mitzuteilen, dass sie Selbstmord begehen wolle. Er hielt sie zwei Stunden lang am Telefon und gab ihr jeden nur erdenklichen Grund zu leben. Schließlich sagte sie, dass sie sich umentschlossen habe und ihr Leben nicht beenden werde. Als er die Frau das nächste Mal sah, fragte er sie, welches seiner vielen Argumente sie dazu bewogen habe, ihre Meinung zu ändern. „Keines“, antwortete sie. „Warum haben Sie sich dann entschieden, keinen Selbstmord zu begehen?“ Sie antwortete, dass die Tatsache, dass jemand bereit war, ihr mitten in der Nacht zwei Stunden lang zuzuhören, sie davon überzeugt habe, dass das Leben doch lebenswert sei.[5]

Als Oberrabbiner war ich an der Lösung einer Reihe von äußerst hartnäckigen Aguna-Fällen beteiligt, Situationen, in denen ein Ehemann nicht bereit war, seiner Frau einen Get [Scheidebrief] zu geben, damit sie wieder heiraten konnte. Wir lösten alle diese Fälle nicht mit juristischen Mitteln, sondern durch den einfachen Akt des Zuhörens: tiefes Zuhören, bei dem wir beide Seiten davon überzeugen konnten, dass wir ihren Schmerz und ihr Gefühl der Ungerechtigkeit gehört hatten. Dies erforderte viele Stunden völliger Konzentration und eine prinzipielle Abwesenheit von Urteil und Anweisung. Schließlich fing unser Zuhören die Verbitterung ab, und beide Seiten konnten ihre Differenzen gemeinsam lösen. Zuhören ist hochgradig therapeutisch.

Bevor ich Oberrabbiner wurde, war ich Leiter unseres rabbinischen Ausbildungsseminars, des Jews’ College. Dort haben wir in den 1980er Jahren eines der fortschrittlichsten Programme für praktische Rabbinertätigkeit geleitet, das je entwickelt wurde. Es beinhaltete ein dreijähriges Programm in Seelsorge. Die Fachleute, die wir rekrutierten, um den Kurs zu leiten, sagten uns, dass sie eine Vorbedingung hätten: Wir mussten zustimmen, alle Teilnehmer für zwei Tage an einen abgeschlossenen Ort zu bringen. Nur diejenigen, die dazu bereit waren, würden zum Kurs zugelassen. Wir wussten im Voraus nicht, was die Berater vorhatten, aber wir fanden es bald heraus. Sie planten, uns die von Carl Rogers entwickelte Methode beizubringen, die als „nicht-direktive“ oder „personenzentrierte“ Therapie bekannt ist. Diese beinhaltet aktives Zuhören und reflektierendes Fragen, aber keine Anleitung seitens des Therapeuten.

Als das Wesen der Methode klar wurde, begannen die Rabbiner, dagegen zu protestieren. Der Ansatz des Verfahrens schien allem zu widersprechen, wofür sie standen. Ein Rabbiner zu sein bedeutet, zu lehren, zu leiten, den Menschen zu sagen, was sie tun sollen. Die Spannung zwischen den Beratern und den Rabbinern wuchs fast bis zu einer Krise heran, in einem Maße, dass wir den Kurs für eine Stunde unterbrechen mussten, um nach einem Weg zu suchen, den Ansatz der Berater mit dem, was die Tora zu sagen schien, in Einklang zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt begannen wir zum ersten Mal als Gruppe über die spirituelle Dimension des Zuhörens, über Sch’ma Jisrael, nachzudenken.

Die tiefe Wahrheit hinter der personenzentrierten Therapie ist, dass das Zuhören die wichtigste Tugend des religiösen Lebens ist. Das ist es, was Moses in Dewarim sagt. Wenn wir wollen, dass Gott uns zuhört, müssen wir bereit sein, Ihm zuzuhören. Und wenn wir lernen, Ihm zuzuhören, dann lernen wir schließlich auch, unseren Mitmenschen zuzuhören: dem stummen Schrei der Einsamen, der Armen, der Schwachen, der Verletzlichen, der Menschen in existenziellem Schmerz.

Als Gott dem König Salomo im Traum erschien und ihn fragte, was er sich wünschte, antwortete Salomo: Lejw schome’a, wörtlich „ein hörendes Herz“, um das Volk zu richten (I Könige 3:9). Die Wortwahl ist bedeutsam. Salomos Weisheit lag, zumindest teilweise, in seiner Fähigkeit zuzuhören, die Emotionen hinter den Worten zu hören, zu spüren, was ungesagt blieb und was gesagt wurde. Für gewöhnlich findet man Führer, die sich in Reden ergehen. Sehr selten nur findet man Führungspersönlichkeiten, die zuhören. Aber Zuhören macht oft den Unterschied.

Zuhören ist wichtig in einem moralischen Umfeld, das so sehr auf der Menschenwürde besteht wie das Judentum. Schon der Akt des Zuhörens ist eine Form des Respekts. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich eine Geschichte mit Ihnen teilen. Die königliche Familie in Großbritannien ist dafür bekannt, dass sie immer pünktlich ankommt und sich pünktlich verabschiedet. Ich werde nie das Ereignis vergessen, bei dem die Königin zwei Stunden länger als ihre geplante Abfahrtszeit verblieb – ihr Begleitpersonal sagte mir, dass sie das noch nie erlebt hatten. Der Tag war der 27. Januar 2005, der Anlass, der sechzigste Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Die Königin hatte Überlebende zu einem Empfang im St. James’s Palace eingeladen. Jeder hatte eine Geschichte zu erzählen, und die Queen nahm sich die Zeit, jedem von ihnen zuzuhören. Einer nach dem anderen kam auf mich zu und sagte: „Vor sechzig Jahren wusste ich nicht, ob ich morgen noch leben würde, und hier bin ich und spreche mit der Königin.“ Dieser Akt des Zuhörens war einer der königlichsten Akte der Güte, die ich je erlebt habe. Zuhören ist eine tiefe Bejahung der Menschlichkeit des anderen.

In der Begegnung am brennenden Dornbusch, als Gott Moses berief, ein Führer zu sein, antwortete Moses: „Ich bin kein Mann der Worte, weder seit gestern, noch seit ehegestern, noch seit dem ersten Mal, da Du zu deinem Diener gesprochen hast. Ich bin langsam in der Rede und in der Zunge“ (Exod. 4:10). Warum würde Gott einen Mann, dem das Sprechen schwerfällt, zur Führung des jüdischen Volkes auswählen? Vielleicht, weil jemand, der nicht sprechen kann, lernt, zuzuhören. Eine Führungspersönlichkeit ist jemand, der zu hören versteht: den stillen Schrei der anderen und die ruhige, leise Stimme Gottes.

[1] Robert Frost sagte: „Poesie ist das, was in der Übersetzung verloren geht.“ Cervantes verglich die Übersetzung mit der anderen Seite eines Wandteppichs. Im besten Fall sehen wir einen groben Umriss des Musters, von dem wir wissen, dass es auf der anderen Seite existiert, aber es fehlt ihm an Definition und ist voller loser Fäden.

[2] Anm. des Übersetzers: Im englischen Original von Covenant & Conversation vergleicht der Autor hier die hebräische Wendung des eingangs zitierten Verses mit fünf möglichen englischen Übersetzungen. Zum besseren Verständnis bezieht sich die deutsche Übersetzung hier auf vergleichbare Formulierungen in deutscher Sprache.

[3] Vintage, 1955

[4] Anna O. (Bertha Pappenheim) hat die Freudsche Psychoanalyse bekanntlich als „die Redekur“ bezeichnet, in Wirklichkeit ist sie jedoch eher eine Hörkur. Nur durch das aktive Zuhören des Analytikers kann es die therapeutische oder kathartische Aussprache des Patienten geben.

[5] Anna Redsand, Viktor Frankl: A Life Worth Living (Houghton Mifflin Harcourt, 2006), S. 113-14.